Schlüssel zum Glück

Von Steffen Becker

Stuttgart, 12. Juli 2017. Schluck! Schluck! Schneller! Komm ja nicht auf die Idee, dass ich was Positives schreibe, wenn du nicht... Na also, geht doch. Tanja Krone schlägt ihren Konkurrenten beim Melonen-Wettessen im "European House Of Gambling" des Stuttgarter Theater Rampe. Mit ihr, der Initiatorin dieses "Casinos für alle", habe ich aufs richtige Pferd gesetzt. Wette gewonnen, Einsatz verdoppelt, Adrenalin halbiert – zurück zur nüchternen Beschreibung: Auf dem Stuttgarter Marienplatz hat ein Bretterbudenzauber aufgemacht. Nach Abgabe einiger persönlicher Daten betritt man das Casino, mit einem Schwung Schlüssel als Startkapital – Briefkasten-, Haustür- oder Autoschlüssel als Eintrittskarte und Währung für eine utopische (Spiel-)Welt.

Glücksspiel als Sozialexperiment

Mein Ich heißt Siegesmund und wandelt mit der Info umher, ich würde einem Freund im Notfall 2.000 Euro leihen. Weil die herumspringenden Performer*innen klingende Bezeichnungen wie "Mimicry" oder "Agon" tragen, frage ich den Dealer am Kartentisch, ob das "Lutfi" auf seinem Schild ein Fantasiename ist. Nein, er ist Flüchtling und hilft aus. Ups. Er hat zu meinem Glück ein schlechtes Blatt und beschert mir zusätzliche Schlüssel. Weiter zum Tarotroulette. Es gewinnt eine Frau, die wissen will, ob es eine gute Idee ist, nach Argentinien zu ziehen. Die Antwort der Karten, "ist gerade kein Thema in deinem Leben", missfällt ihrem argentinisch aussehenden Begleiter. Aber hey, Hauptsache zwei Schlüssel mehr! Beim Gedankenübertragen ("leg eine von drei Karten und sende die Info deinem Gegenüber") finde ich einen Partner zum Betrügen. Er löst seine Schlüssel in eine Massage ein, ich gönne mir ein Selfie mit dem Performer*innenteam. EuropeanGambling1 560 x xDavis Freeman weiß um den Preis: "European House Of Gambling" © Daniela Wolf

So weit, so spaßig – aber eine nachtkritik gibt’s nicht, ohne nach dem Sinn zu fragen. Der liegt (laut Presseheft) versteckt im Aufsatz "Casino Egalité" des Soziologen Thomas Wagner. Spiele in frühen Gesellschaften dienten, so Wagner, der sozialen Befriedung und Umverteilung. Daraus will "European House Of Gambling" Glücksspiel als Mittel ableiten, "innerhalb einer temporären und zufälligen Gemeinschaft Solidarität und Risikobereitschaft zu erproben und Gleichheit zu erzeugen". Hmm, tatsächlich kommen wir Spieler ins Gespräch – zum Beispiel darüber, warum das Gegenüber laut Namensschild so viel mehr Geld verleihen würde als man selbst (ein gute Partie?). Aber ein Gefühl herrschaftsfreier Gemeinschaft beim "Ich packe meinen Koffer"-Spiel, wenn man selbst fast pleite ist und meine Mitspielerin alles zu vergeigen droht? No way!

Kurze Utopiemomente

Beim Vertrauensspiel, bei dem man zum Chef gewählt werden muss, versuche ich es gleich mit Drohung und Bestechung statt mit Harmonie. Ich verliere knapp und sage dem Betreuer des Tischs, dass das im wahren Leben nicht im Gutmenschen-Sinn abgelaufen wäre. Er grinst. Ich lüge einen Performer an, dass ich keine Schlüssel mehr hätte, kriege welche geschenkt und fühle mich Hartz IV. Danach gehe ich kein Risiko mehr ein und erkenne, dass ich nur mit Beamtenstatus glücklich werden kann. Über "Gewinnen für alle" und eine neue ökonomische Ordnung denke ich zwischen Glitzerblazern, angeklebten Schnauzern, Glücksrad und einer Billy-Regal-Aufbau-Challenge nicht nach. Da helfen auch die durchweg frenetischen Jahrmarkts-Interventionen des fünfköpfigen Performer*innenteams nicht (auch wenn "Ace of Spades" von Motorhead als Ukulele-Version ungeahnte Tiefe entfaltet). EuropeanGambling4 560 x xDame in Rot am Tarotroulette-Tisch: Bettina Grahs © Daniela Wolf

Das "European House Of Gambling" bleibt an der Oberfläche des amüsanten Zeitvertreibs. Kurze Utopiemomente blitzen lediglich auf, als ein ins echte Stuttgarter Casino ausquartiertes Paar zurückkehrt und fröhlich von seinem Scheitern erzählt. Oder als 20-Euro-Schein-Fetzen verteilt werden, die von den Beschenkten zusammengesetzt, umgetauscht und einer Nutzung zugeführt werden müssen: Sie landen bei Kindern, die den egalitären Anspruch des Abends als Einladung verstanden haben, sich ohne Eintrittskarte in die Szenerie zu schmuggeln. Am Ausgang werden alle Schlüssel einkassiert – in dem Moment fühlte es sich gut an, nur noch einen übrig zu haben. 50 Meter weiter stehen die Kinder und haben sich mit dem umgetauschten Geldschein viel zu teures Eis gekauft. Der Kapitalismus hat gesiegt.

 

The European House of Gambling
Künstlerische Leitung: Tanja Krone
Game Design: Daniel Boy, Bühne: Olf Kreisel, Kostüme: Marouscha Levy, Musik: Friedrich Greiling, Dramaturgie: Johanna-Yasirra Kluhs, Carolin Hochleichter, Regieassistenz: Silinee Damsa-Ard
Mit: Dragana Bulut, Davis Freeman, Bettina Grahs, Lajos Talamonti. Dealerdealer: Felix Heimbach, Dealer: Lutfi Alio, Anne Brüssau, Frank Ehner, Ahmad Hasan, Toni Kis, Gordon Lange, Helga Lazar, Inge Liss, Philip Riediger, Julian Tresowski
Dauer: 4 Stunden, keine Pause

www.theaterrampe.de

 

Kritikenrundschau

"Ästhetisch ist das Probjekt ein Erlebnis", schreibt Elisabeth Maier in der Eßlinger Zeitung (13.7. 2017). Tanja Krone dosiere Lachen und Entsetzen ganz genau und dringe weit zu den Wurzeln der ökonomischen Krise Europas vor.

Kay schreibt auf Stuttgarter-Zeitung.de (14.7.2017): Was genau geschehe "hinter den Stellwänden", erschließe sich "dem Betrachter nicht so rasch". In einer "waghalsigen Mischung aus Spielhölle, Schaubude und Wettkampfarena" träfen sich die Besucher, "um zu zocken". Doch nicht um Geld, vielmehr um "Werte" werde gekämpft. Im Grunde bleibe "unklar", worauf man sich einlasse. "Am Boden zerstört wirkten die Besucher nicht, die man bislang lebendig herauskommen sah."

 

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