Presseschau vom 24. Juli 2017 – Interview mit Milo Rau über Konsequenzen seines "Kongo Tribunals"

Kapitalistischer Realismus

Kapitalistischer Realismus

24. Juli 2017. Für den Tagesanzeiger und den Bund ist Andreas Tobler mit Milo Rau in den Kongo gefahren, wo Rau seinen Film über sein Kongo Tribunal vorstellt. Im Vor-Ort-Interview mit Tobler sagt Rau zur aktuellen Lage im Kongo: Die Auseinandersetzungen um Rohstoffe (Gold und Coltan) verschärften sich weiter; "auch die kongolesische Regierungskrise hat sich seit 2015 zugespitzt: Die Region um die Grossen Seen, wo mein Film spielt, hat sich weiter destabilisiert; (…) Das offene Chaos ist ausgebrochen, überall spriessen neue Rebellengruppen aus dem Boden, die Politik der Konzerne wird immer rücksichtsloser."

Er selbst allerdings profitiere von der wachsenden Rivalität zwischen Regierung und Opposition: "Keiner will der sein, der dieses erste Tribunal im Kongo zerstört, der vor den Augen der Weltöffentlichkeit der Bösewicht ist."

Sein Film über das "Kongo Tribunal" sei "produktionstechnisch als Film für Europa konzipiert (...) und könnte auch 'Am Beispiel des Kongo' heissen (...) Man muss den Kongo gar nicht kennen, um die Hintergründe zu verstehen", so Rau. Denn: "Ein Kunstwerk muss, um wirklich komplex zu sein, sein Thema sehr plastisch zeigen. Letztlich ist dieses aber nur ein Alibi, um von etwas Grösserem erzählen zu können." Er hätte nichts gegen politisches Engagement. "Was mich stört, ist diese selbstgerechte Mischung aus Alarmismus und Moralismus, die als engagiert gilt, die aber unsere imperialen Denkstrukturen unhinterfragt lässt." Wahres Engagement sprenge alle Denkstrukturen, "denn es versucht, in einen tatsächlich globalen Denkraum vorzudringen."

In impliziter Antwort auf Esther Slevogts Kritik an seinem Tribunal bei uns betont Rau einen "grossen Unterschied" zwischen dem Vietnam-Tribunal (v. Jean-Paul Sartre, d. Red.) und seinem Kongo-Tribunal: "Sartre hielt sein Tribunal in Stockholm und Kopenhagen ab – und nicht vor Ort, also in Saigon oder in Washington. Übrigens hätten wir fast den gleichen Fehler begangen: Zuerst wollten wir das 'Kongo Tribunal' nur in Berlin stattfinden lassen. Als ich aber 2013 für Vorbereitungen im Ostkongo war, merkte ich: Das ergibt keinen Sinn. Das muss hier stattfinden, mitten im Bürgerkriegsgebiet."

Und weiter, zurück in den globalen Denkraum: "Wir leben in einer durch und durch kolonialisierten Welt." Wenn sich die Kunst nicht ebenfalls kolonialisiere und diese Zusammenhänge aufzeige, dann sei sie zahnlos. "Ich brauche die Kongolesen, so, wie sie mich brauchen, und vielleicht missbrauchen wir uns ja in einem Projekt wie das 'Kongo Tribunal' gegenseitig." Das "Kongo Tribunal" sei "kapitalistischer Realismus in Reinform". "Wir zeigen, wie es ist, und das machen wir so gut wie möglich. Denn man muss sehr gut kennen, was man ablehnt. Das kann einen zuweilen verzweifelt und fatalistisch stimmen", so Rau. Das "Kongo Tribunal" handle aber nicht nur von der Düsternis, dem Tod, sondern "auch der Hoffnung auf eine bessere, gerechtere Welt".

(sd)

 

Mehr zum Kongo Tribunal:

Eröffnungsrede zu "Das Kongo Tribunal" von Milo Rau (5/2015), auch auf Französisch

Kritik der Eröffnungsrede zu Milo Raus "Kongo Tribunal"Kritik der Eröffnungsrede zu Milo Raus "Kongo Tribunal" von Esther Slevogt (5/2015)

Nachtkritik zu "Das Kongo Tribunal" (6/2015)

mehr medienschauen