Die Volks(bühnen)vertreter

von Esther Slevogt

5. August 2017. Was macht eigentlich Michael Müller (SPD)?, fragt man sich in diesen Tagen, in denen die Unterschriften unter die Petition gegen die Pläne des neuen Volksbühnenintendanten Chris Dercon immer schwindelndere Höhen erreichen und auch sonst der Ton in der Auseinandersetzung immer schriller wird. Im Internet, wo das neue Volksbühnen-Team zum 1. August 2017 die Social Media Accounts übernommen hat, brach sofort ein Shitstorm gegen sie los, der einen das Fürchten lehren kann. Ist Wutbürgertum das neue Bildungsbürgertum?, fragt man sich allerdings angesichts des Hasslevels, das manche Posts erreichen. Hier desavouiert sich ein Anliegen selbst. Auf die zivilisatorischen Kräfte der Kunst, insbesondere der darstellenden, darf man anscheinend nicht hoffen.

Kulturpolitisches Totalversagen

Aber zurück zu Michael Müller: Berlins Regierender Bürgermeister war in Personalunion auch Kultursenator, als ihm sein Staatssekretär Tim Renner vor drei Jahren einredete, es sei nach 25 Jahren langsam an der Zeit, am Rosa-Luxemburg-Platz etwas Neues auszuprobieren und Berlins berühmtestes Theater zur Versuchsanstalt für etwas ganz Tolles und Anderes zu machen. Was das genau sein sollte, konnte kulturpolitisch von Anfang an nicht plausibel kommuniziert werden. Doch während der Kampf, den diese in ihren Motiven bis heute nebulöse Entscheidung 2015 auslöste, immer neue Eskalationsstufen erreicht, hört man von Michael Müller: nichts.

Dabei hätte er längst Verantwortung für das entstandene Desaster zu übernehmen und sich zu der Situation verhalten müssen: um zu verhindern, dass Biografien, Karrieren und Institutionen durch dieses kulturpolitische Totalversagen weiter beschädigt werden und nicht zuletzt auch der Ruf Berlins. Dass eine Lösung gefunden wird, in der alle ihr Gesicht wahren und auch Berlin als Theaterstadt von der Kulturpolitik nicht weiter beschädigt wird. Die Petition hat bereits doppelt so viele Unterschriften wie die Berliner SPD Mitglieder. Doch Müller duckt sich immer noch weg und überlässt die Dinge sich selbst. Worauf wartet er? Dass die Eröffnungspremieren der Dercon-Volksbühne ab September unter Polizeischutz stattfinden müssen?

Mit klammheimlicher Freude

Der neue Kultursenator Klaus Lederer (Die Linke) hat, schon bevor er gewählt wurde und sein Amt antrat, keinen Hehl daraus gemacht, dass er ein Gegner der Entscheidung seines Vorgängers ist. Doch wenn es um diese Entscheidung geht, redet Lederer immer von Tim Renner und nie von Michael Müller, der sein eigentlicher Vorgänger im Amt gewesen ist. Da Klaus Lederer als Kultursenator außerdem die Entscheidungen um die Volksbühne nicht (wie gewollt) rückgängig machen konnte, steht auch er nun in der Verantwortung, den Schaden auf allen Seiten zu begrenzen. Muss man ihm wirklich erst erklären, dass es sich bei den Nachfolger*innen der Castorf-Volksbühne, beim Team Dercon also, auch um Schutzbefohlene der von ihm geleiteten Behörde handelt? Seine Behörde hat sie berufen und verpflichtet, wenn auch nicht er persönlich. Doch Lederer ist in dieser Frage in erster Linie ein gewählter Volksvertreter, nicht Castorfs Volksbühnenvertreter. In seiner Funktion als Kultursenator hat er die Pflicht, alle Interessen gleichberechtigt zu behandeln und nicht mit klammheimlicher Freude zu beobachten, wie die Castorf-Nachfolger immer weiter in die Defensive geraten. Denn so sieht es, mit Verlaub, momentan aus.

Aber Verantwortung will in der Berliner Politik ganz offensichtlich niemand übernehmen. Michael Müller hat scheinbar vollends verdrängt, dass er bis vor Kurzem Berlins oberster Kulturpolitiker war und damit der Hauptverantwortliche ist. Immer auf den längst im Abseits agierenden Tim Renner zu verweisen verschleiert die wirklichen Zuständigkeiten: Müller hat sich die unausgegorenen Volksbühnenpläne einreden lassen. Nun soll er bitte die Probleme auch lösen, die er damit versursacht hat.

 

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