Grenzerfahrungen im Land der Mitte

von Friederike Felbeck

10. August 2017. Dieses Buch lohnt es sich von hinten aufzurollen. Am Ende werden beispielhaft transkulturelle Begegnungen zwischen China und Europa vorgestellt. Das mag der zugleich am weitesten fortgeschrittene, aber auch heikelste Moment eines kulturellen Schulterschlusses sein – reich an Chancen und voller unvorhersehbarer Herausforderungen. In packenden, da aus sehr unterschiedlichen Perspektiven entstandenen Beiträgen werden Recherchereisen, Gastinszenierungen in China wie in Deutschland, Koproduktionen – zum Beispiel zwischen den Münchener Kammerspielen und dem unabhängigen Paper Tiger Studio Beijing – vorgestellt oder, aus der Sicht der Dramatikerin Ulrike Syha, wie eine langjährige Beschäftigung mit China in die eigene künstlerische Arbeit einfließt.

Überhaupt sollte man sich bei der Lektüre dieses seitenstarken und reich bebilderten Buches treiben lassen. Denn darin finden sich die Handschriften dreier sehr unterschiedlicher Herausgeber*innen wieder: Sabine Heymann, Kulturjournalistin und Theaterkritikerin, Christoph Lepschy, Dramaturg und Theaterwissenschaftler, und schließlich Cao Kefei, eine zwischen Berlin und Peking pendelnde chinesische Theaterschaffende, die auch selbst unter den porträtierten Künstler*innen ist.

Bemerkenswertes Kompendium

Die drei Herausgeber*innen verbindet, dass sie alle seit Jahren aktiv an chinesisch-deutschem Kulturaustausch beteiligt sind. So ergänzen und verflechten sich theoretische wie künstlerisch-praktische Fragestellungen mit den kulturpolitischen Interessen und Erfahrungen der drei Herausgeber*innen. Sie alle haben zudem Einladungen an Künstler*innen, Wissenschaftler*innen und Journalist*innen ausgesprochen, ihre Sicht auf das zeitgenössische Theater in China mit uns zu teilen. Das in mehrjähriger Zusammenarbeit entstandene Buch ist ein bemerkenswertes Kompendium aus Ideen, Dokumentationen, Chroniken und Perspektiven. So ermöglicht es uns eine Annäherung an ein zunächst unvertrautes und manchmal unübersichtliches Feld, für dessen Darstellung es im deutschsprachigen Raum kaum Vorläufer gibt. Sprech-, Tanz- und Dokumentartheater und deren Protagonist*innen werden in Porträts vorgestellt oder kommen selbst in Interviews zu Wort.

Einen guten Einstieg bietet der Überblick "Das 20. Theaterjahrhundert in China" von Michael Gissenwehrer, Theaterwissenschaftler und Professor an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, der schon 1985 mit André Heller für seine "Begnadeten Körper" chinesische Artist*innen nach Europa holte. Der Essay beginnt mit dem folgenreichen Import westlichen Sprechtheaters durch chinesische Student*innen in Tokio 1907 und beschreibt anhand der Entwicklung des "neuen Theaters" (Sprechtheater) gegenüber den verschiedenen Formen des Musiktheaters einen Wettstreit zwischen Realität und Theatralität, der sich bis in die Gegenwart fortsetzt.

Duell der Gattungen

Vor allem ist es gesellschaftliches und politisches Engagement, das dem literarischen Theater und einer realistischen Darstellung lange den Vorzug gibt. Gissenwehrer beschreibt auch das Ringen aller Gattungen um Unabhängigkeit. Pointiert schildert er dabei Festspiele, Jubiläen und Selbstinszenierung als immer wiederkehrende kulturpolitische Praxis der Mächtigen und Erfolgreichen. Aufsätze des Literaturkritikers Xie Xiezhang zu Tendenzen des chinesischen Theaters am Ende des 20. Jahrhunderts und von Li Yinan, Professorin für Dramaturgie und Theaterwissenschaft an der Zentralen Theaterakademie in Peking, die sich den heutigen Strukturen widmet, bilden den perfekten Anschluss.  

Die Rückkehr des xiqu, des traditionellen chinesischen Musiktheaters, wird in mehreren Beiträgen und im Gespräch mit einer seiner wichtigsten Protagonisten, der Künstlerin Tian Mansha, anschaulich gemacht: Aus einer kommerzialisierten und von falschen Erwartungen überfrachteten Theaterform wurde wieder ein junges experimentelles Medium, das inzwischen auch seinen Platz in den Curricula der staatlichen Theaterakademien gefunden hat. Der Kritiker Lin Kehuan streift im Gespräch durch die Theatersphären Hongkongs und Taiwans. Beide Orte spart die Publikation sonst bewusst aus – mit Hinweis auf die sehr unterschiedlichen historischen Voraussetzungen.

Einen Grundsatztext liefert der Philosoph und Sinologe François Jullien, der die Ursprünge des chinesischen und des griechischen Theaters nebeneinanderstellt, um die von ihm überraschend diagnostizierte "Abwesenheit des Theaters in China" zu belegen – und so den abendländischen Begriff von Theater an einem außereuropäischen zu bearbeiten. Kulturhistorische Essays von Mark Siemons (langjähriger China-Korrespondent der Frankfurter Allgemeine Zeitung) über die Kulturindustrie Chinas und von Regisseur und Autor Zhang Xian, dessen künstlerische Arbeit auch in zwei weiteren Beiträgen gewürdigt wird, runden das Panorama ab.

Aufbäumen gegen überholte Ästhethik

Unter den 21 vorgestellten Künstlern sind immerhin auch sieben Frauen. Geboren zwischen 1936 und 1982 repräsentieren sie unterschiedliche Epochen und Stile – mit ihren jeweils sehr voneinander abweichenden Ästhetiken und Zielsetzungen. Unter den Porträtierten sind auch so außergewöhnliche Künstler wie Wu Wenguang, der in seinen Memory-Projekten Dorfbewohner*innen sich selbst interviewen und so ihre eigenen Geschichten erzählen lässt. So begrenzt die Spielräume insbesondere der freien Theaterschaffenden auch sind: ihr experimentelles Aufbäumen gegen überholte Ästhetiken, gegen Einflussnahme und Zensur, das Entwickeln eigener Strategien – zum Beispiel einen geschützten Raum durch einen selbstgewählten Amateurtheaterstatus zu schaffen – sind ein lehrreiches und spannendes Kapitel Welttheater. Die Begegnung mit den wichtigsten Vertreter*innen des zeitgenössischen Theaters in China und ihren historischen Vorgängern birgt Potenzial für die eigene künstlerische oder theoretische Theaterarbeit und hat das Zeug zum Korrektiv für eigenen Stillstand, Saturiertheit und Strukturen mit Erneuerungsbedarf. "Zeitgenössisches Theater in China" ist sowohl für Anfänger und Fortgeschrittene bestens geeignet und überzeugt durch seine vielseitigen Blickwinkel und die Vielfalt der vorgestellten Künstler*innen und ihrer Arbeiten.

 

Zeitgenössisches Theater in China
Cao Kefei, Sabine Heymann, Christoph Lepschy (Herausgeber)
Alexander Verlag, Berlin 2017, 440 S., 38 Euro

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