Büchner – Prophet des Krieges?

von Thomas Rothschild

Salzburg, 8. August 2017. Woyzeck, der bei Alban Berg bekanntlich Wozzeck heißt und von Wahnvorstellungen verfolgt wird, singt sein berühmtes "immerzu, immerzu". Dazu sieht man, über die ganze Bühne verteilt, tanzendes Volk, wie aus einem Bild von Pieter Bruegel dem Älteren. Einige Tänzer halten Stühle hoch. Schon Andres trägt gleich in der zweiten Szene Sessel auf dem Buckel, statt Stöcke zu schneiden.

Es gibt viel zu sehen in diesem "Wozzeck" bei den Salzburger Festspielen. Dafür sorgt der südafrikanische Regisseur William Kentridge, Jahrgang 1955, ein angenehm unaufgeregter, nachdenklicher Intellektueller und vielseitiger Künstler, der sowohl zur Biennale in Venedig als auch zur documenta mehrmals eingeladen worden ist. Für den Festspielintendanten Markus Hinterhäuser ist er ein alter Bekannter: Die beiden haben zusammen mit dem Sänger Matthias Goerne, der im "Wozzeck" die Titelrolle singt, das erfolgreiche "Winterreise"-Projekt entwickelt, das bei den damals von Hinterhäuser geleiteten Wiener Festwochen uraufgeführt wurde – eine Antwort auf Marthalers "Schöne Müllerin", wenn man so will.

Überforderung als Prinzip

Das Salzburger Museum der Moderne zeigt parallel zum "Wozzeck" eine eindrucksvolle Auswahl von Kentridges Werken, im Haupthaus oben auf dem Mönchsberg meist großformatige Videos und Multimedia-Installationen und unten im Rupertinum Skizzen und Maquetten für die Bühne. Für die aktuelle Salzburger Produktion allerdings überließ Kentridge das Bühnenbild seiner langjährigen Mitarbeiterin Sabine Theunissen, die auch an der "Winterreise" beteiligt war. Seine Handschrift ist dennoch in jedem Detail präsent.

Unter den Exponaten auf dem Mönchsberg befindet sich eine zweiundzwanzig Meter lange und sechs Meter hohe Projektion mit dem Titel "More Sweetly Play the Dance". Auf acht aneinander gefügten Leinwänden sieht man eine Blaskapelle gefolgt von Schatten realer Menschen vor einem animierten gezeichneten Hintergrund von links nach rechts ziehen.
Diese Videoarbeit setzt Kentridge in abgewandelter Form auch im "Wozzeck" ein, als eine von unzähligen Projektionen, die Teile der Bühne oder deren ganze Fläche füllen. So wird die Simultanbühne mit Stegen und Treppen, die zu deren mit Gegenständen vollgestopften einzelnen Ebenen führen, vollends zu einem Wimmelbild, das man nur mit äußerster Mühe entziffern kann. Überforderung ist Prinzip dieser Inszenierung.

Wozzek1 560 Salzburger Festspiele Ruth Walz uWozzek als Wimmelbild © Salzburger Festspiele Ruth Walz

Den Ausschnitt der Bühne, in dem gerade gehandelt und gesungen wird, leuchten Scheinwerfer aus – so findet etwa die Szene zwischen Wozzeck und dem Doktor in einem lichtdurchfluteten Schrank statt –, der Rest liegt im Dunkel, um die Videoprojektionen zur Geltung zu bringen. Diese Projektionen sind jedoch in fast ständiger Bewegung. Nur zum Teil nehmen sie den Rhythmus der Musik auf, um dann kontrapunktisch ihr Eigenleben zu führen. Anders als etwa bei Castorf oder Pollesch, verdoppeln sie auch nicht das Spiel auf der Bühne, sondern fügen autonome auf die Realität bezogene und ästhetische Informationen hinzu.

Woyzeck – kein Opfer mehr?

Es gibt kaum ein zweites dramatisches Werk, dem Deutschlehrer und Dramaturgen so sehr den politischen Gehalt durch Psychologisierung ausgetrieben haben wie "Woyzeck". Auch Michael Thalheimer hat anlässlich seines Salzburger "Woyzeck" im Jahr 2003 verkündet, es sei heute kein Thema mehr, soziale Unterschiede auf einer Bühne zu zeigen, und dass er "Woyzeck als Opfer heute nicht mehr für relevant" halte.

Anders bei William Kentridge. Er vertritt die These, dass Georg Büchner (1836/37!) den Ersten Weltkrieg vorausgeahnt habe, und versieht seine Inszenierung mit mannigfaltigen Zeichen, die in diese Richtung weisen. Neben dem Tambourmajor lässt er einen Krüppel mit Krücken wie von Otto Dix auftreten. Nun kommt das Wort "Krieg" in Büchners Drama und auch in Alban Bergs Bearbeitung nicht vor, und das Stück spielt zwar im Militär, aber von einem Kriegseinsatz ist nicht die Rede. Man muss Kentridge also in diesem Punkt nicht folgen.

Wozzek4 560 Salzburger Festspiele Ruth Walz uMatthias Goerne in der Titelrolle © Salzburger Festspiele Ruth Walz

Politische Bedeutung jedoch erhält "Woyzeck" durch die Vorwegnahme der Milieutheorie, und das wird auch bei Kentridge so deutlich, wie Wozzeck/Woyzeck es ausspricht: "Ja, wenn ich ein Herr wär’, und hätt’ einen Hut und eine Uhr und ein Augenglas und könnt’ vornehm reden, ich wollte schon tugendhaft sein! Es muss was Schönes sein um die Tugend, Herr Hauptmann. Aber ich bin ein armer Kerl! Unsereins ist doch einmal unselig in dieser und der andern Welt! Ich glaub’, wenn wir in den Himmel kämen, so müssten wir donnern helfen!"

Maries Kind sowie die Kinder der letzten Szene werden in dieser Inszenierung von einer Puppe dargestellt. Kentridge hat bereits vor 25 Jahren mit der renommierten Handspring Puppet Company die Büchner-Adaption "Woyzeck on the Highveld" einstudiert. Das Puppenspiel ist also für ihn weder exotisch, noch modisch. Zwingend nötig ist es freilich in diesem Kontext auch nicht. Da ist das südafrikanische Figurentheater für sich genommen eindrucksvoller.
Die Zeiten, da bei Alban Bergs Opern Zuschauer den Saal türenknallend verließen, sind (allerdings noch nicht lange) vorbei. In Salzburg gab es uneingeschränkten Applaus, insbesondere für Asmik Grigorian aus Litauen als Marie, für Matthias Goerne als Wozzeck, für den russischen Dirigenten Vladimir Jurowski und für den Regisseur William Kentridge.

 

Wozzeck
von Alban Berg
Regie: William Kentridge, Co-Regie: Luc De Wit, Musikalische Leitung: Vladimir Jurowski, Bühne: Sabine Theunissen, Kostüme: Greta Goiris, Video Design & Editor: Catherine Meyburgh, Licht: Urs Schönebaum, Video Control: Kim Gunnning.
Mit: Matthias Goerne, John Daszak, Mauro Peter, Gerhard Siegel, Jens Larsen, Tobias Schabel, Huw Montague Rendall, Heinz Göhrig, Asmik Grigorian, Frances Pappas.
Dauer: 1 Stunde 35 Minuten, keine Pause

www.salzburgerfestspiele.at

 

 

Kritikenrundschau

"Wozzeck" wird nur durch die bis ins Detail gekonnte Inszenierung zum Ereignis, so Jürgen Kesting in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (11.8.2017). Kentridge schaffe mit animierten Kohle- und Tuschzeichnungen einen Hintergrund, der als Handlungsträger zum Ko-Protagonisten des Geschehens werde. Auf verstörende Weise spiegele das die Traumata des Protagonisten in einem Bild-Albtraum. "Geborstene Bäume und durch den Krieg verwüstete Wälder, Stacheldraht und Megaphone, zerstörte Dörfer und geschundene Menschen bilden das visuelle Vokabular für die Inszenierung."

Der Künstler William Kentridge siedele "Wozzeck" in einer optischen Umgebung an, die das Klima des Ersten Weltkriegs evoziert "– ein Abend, der niemanden kalt lässt", so Peter Hagman in der Neuen Zürcher Zeitung (11.8.2017). "Überdies spiegelt Kentridges Ansatz in vielen Einzelheiten die militaristische Grundierung der Gesellschaft, der Figuren wie der Doktor, der Hauptmann und der Tambourmajor entspringen." Zwischendurch erinnern Zeichnungen an George Grosz, auf denen sich die Pickelhaube unter die Bürger mische, als wäre es das Natürlichste der Welt. "Zugleich fordern die Beiträge, die Kentridge selbst zur szenischen Einrichtung geleistet hat, alle Aufmerksamkeit", grosse Kohlezeichnungen, die in rasch wechselndem Rhythmus auf den Bühnenhintergrund projiziert werden. Eindringlich komme dabei die fürchterliche, unabwendbare Logik des Stücks zur Geltung.

"Diesmal sie der szenische Eindruck etwas interessanter als der musikalische", schreibt  in der Frankfurter Rundschau (11.8.2017).  Jenseits dieser interpretatorischen Klischees suchte und fand der Regie führende bildende Künstler William Kentridge auch mit seinem Bühnenbild einen dritten Weg. "Kentridge überlädt die Aufführung zweifellos mit seinen Bilderfluten", vieles davon ist suggestiv, am meisten der als Parade übergroßer Schatten entlangmarschierende Militäraufzug. "Bei der späten Margretszene wird eine ähnliche Faszination mit farbigem Menschengewühl nicht mehr erreicht."

 

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