Das Dimmen der Lautstärke

von Oliver Bukowski

17. August 2017. Nun also ich. Warum erst jetzt?
Weil ich, wie damals in den persönlichen Gesprächen, den direkten Kontakt zu Darja Stocker suchte. Die Idee: Vielleicht schaffen wir es, mit einander zu reden und der anscheinend so unversöhnlichen Debatte durch eine GEMEINSAME Veröffentlichung die andere Qualität zu geben. Darja Stocker hat geantwortet und denkt über meinen Vorschlag nach. Sicherlich gibt es viel zu besprechen, denn ich kenne bis heute ja nicht einmal den Wortlaut des Beschwerdebriefes an den Präsidenten der UdK; die Autorinnen wiesen an, ihn strikt vertraulich zu behandeln. Die Universitätsleitung folgte dem, und so standen wir zwar in der Kritik, nur in genau welcher?

In einer Vier-Augen-Aussprache mit Darja hieß es nur: "Nichts gegen Leidenschaft, aber bitte nicht so laut. Wir hören dich dann nicht mehr." Das leuchtete mir ein, und schon nach dem nächsten Seminar kam eine der Unterzeichnerinnen auf mich zu und dankte mir für den Stil des Seminars. Ich schildere das nicht, um weiter kleinteilig Erinnerung gegen Erinnerung zu feilschen, sondern um zu sagen: Mit mir war zu reden, und zwar immer. Sogar mit postwendenden Wirkungen.

Für meine Art zu reden, meine Körpersprache, mein Alter, meine Hautfarbe, meinen Arbeitsrhythmus (ja, ich beginne um vier Uhr morgens), mein Leben jenseits der Lehrveranstaltungen werde ich mich hier nicht rechtfertigen. Vielleicht persönlich vor Darja? Mal sehen. Aber es wird mir Sexismus vorgeworfen. Während ich bloße Beleidigungen vielleicht noch hinnehmen kann – dieser Vorwurf trifft! Ich arbeitete noch nie gegen Autorinnen und Autoren, sondern mit vorbehaltlos allem, was ich weiß und kann, für deren Texte. Und ich verlange das von allen anderen am Seminartisch ebenso. Wütend werde ich – tatsächlich, so etwas unterläuft mir –, wenn jemand schlecht vorbereitet ist, die Kompetenz und die Bereitschaft der Anwesenden also vergeudet.

Dies ist ein Institut, vor dem alle zwei Jahre einhundertachtzig Bewerber Schlange stehen. Die wenigen, die es schaffen, haben ihr Talent an ein paar Aufgaben und Entwürfen gezeigt. Reicht das? Nein. Dann aber das Aufnahmegespräch. Besser? Auch nicht. Wir wissen vielleicht erst nach ein paar Monaten, ob, die Aufgenommenen tatsächlich die zwei nötigen Begabungen mitbringen: a) das Talent, szenische Texte zu schreiben (was aber jeder auch für sich zuhause kann), b) über diese Arbeiten mit anderen streiten und reden zu können und zu wollen. Genau deshalb zählen die Aufnahmeformalien wenig, das PROBEJAHR umso mehr. Es ist also nicht sehr sinnvoll, ausgiebig über dieses Prozedere zu streiten – wir gewähren uns ja gegenseitig ein ganzes Jahr! Nur eins will und werde ich nicht so einfach akzeptieren, nämlich dass ich jemandem schon Respekt zollen soll, nur weil er oder sie (Kapuze drüber, Kopf auf die Unterarme) im Seminarraum körperlich präsent ist. Vielleicht gibt es ja Seminare und Seminarleiter, die über die lagernde Person hinweg dennoch ein angenehmes Arbeitsklima schaffen, ich aber nicht. Genau das wollte ich derjenigen bis zu Ende erklären dürfen (eben in diesem Zimmer), auch wenn sie es nicht hören und lieber mit den Türen knallen wollte.

Aber weg von den Darja-Details und weiter zu meiner Lehrauffassung. Es muss einen Raum geben, so denke ich, in dem für ein paar Stunden nichts anderes als der Text zählt. Nicht die Herkunft, das Alter oder das Geschlecht seiner AutorInnen, nicht deren Tagesform oder Stimmung, leider nicht einmal die psychische Situation, in der er verfasst wurde. Gibt es diesen Raum nicht, zählen also plötzlich andere Faktoren in die Beurteilung, so sehe ich genau hier die Einfallswinkel für jederart Ideologie, inklusive sexistischer (aber auch der von Liebeskummer, Hangover oder Schaffenskrise). Ist das zu hart, zu menschen- und lebensfeindlich? Ja, ist es. Deshalb habe ich das Seminar vertagt, weil jemand an Trennungsschmerz oder sogar nur an der Stimme einer Gastdozentin litt. Deshalb gab es für jeden und jede die Möglichkeit, das noch zu unreife Manuskript oder die eigene Arbeitssituation nicht sogleich den Härten des Seminars auszusetzen, sondern zuvor mit mir zu besprechen. Unter vier Augen, jeden Montag am Nachmittag oder wann immer gewollt. Ebenso hinterher, wenn die vielen verschiedenen Meinungen einen nur ratlos gemacht haben.

Denn, auch hier gibt es einen Irrtum, das Szenische Schreiben an der UdK ist keine Meisterschule! AutorInnen und ihre Texte werden weder im Seminar noch im gesamten Studiengang der einen, alleingeltenden Mastermeinung ausgesetzt, sondern im Gegenteil: Wir luden Dozenten aller Theaterauffassungen zu uns ein, auch und gerade wenn sie uns nicht ins eigene Bild passten. Es konnte also durchaus vorkommen, in einem Seminar hoch gelobt, im anderen aber "verrissen" zu werden. Genau deshalb unterscheiden sich die Handschriften der Absolventen. Sie bilden sich unter dem Einfluss vieler verschiedener Sichtweisen. Und deshalb war es für Darja Stocker auch nicht so schwer, eine Dozentin zu finden, die ihre Skepsis gegenüber unseren Seminarpraktiken teilte. Wir hatten diese Dozentin ja eingeladen und unter Vertrag genommen. Aber kann es sein, dass hier selbstherrlich von oben herab entschieden wurde? Nein, auch nicht. GastdozentInnen konnten gern von Studierenden vorgeschlagen werden, wir kümmerten uns dann. Übrigens bin ich selbst nur dauerhaft an die UdK gekommen, weil Jürgen Hofmann der Entscheidung der StudentInnen folgte.

Hier wird zurecht gefordert, die Debatte endlich produktiver werden zu lassen und über Strukturen zu reden – ich bin dabei. Noch nicht gleich in Makro, für den Anfang aber vielleicht zur Mikrostruktur meines Seminars. Jeder Ratschlag ist willkommen! Noch mehr jeder, der sexistische Strukturen zu vermeiden hilft. Also: Alle haben zuhause gelesen und Randnotizen an ihre jeweiligen Arbeitsmanuskripte gemacht. Die VerfasserInnen geben zu Beginn den Arbeitsstand des Textes und ihre Probleme mit dem Entwurf an und übergeben ihn dann für zwei Stunden dem Seminar. Ab jetzt ist es, was es ist. Und selbst wenn wir uns alle irren sollten, ist das für die Autorin/ den Autor eine wichtige Information. Wer aber auch nur eine eigene Zeile in die Mitte einer Seminarrunde gelegt hat, weiß was Anspannung und Verlustaversion bedeuten. Also bekommt die Autorin/ der Autor persönlichen Beistand: Sie oder er wählt sich unter den Studierenden einen Partner, der auf Ruhepuls mitschreibt und hinterher auch dann noch all das Sagen und Meinen erklären kann, wenn es hochherging und der jeweilige Autor/ die Autorin zu verzweifelt ist (oder zu euphorisch). Wir lesen den gesamten Text laut, jede und jeder gibt drei Sätze ersten Eindruck, dann aber widmet sich jeder einer Art Intensitätsabgleich. Er zeigt graphisch, wo und wann (und zunächst aus welchen Gründen auch immer) das Interesse sank oder stieg. Das ist nicht etwa zu technisch oder klippschulhaft, an diesem Abgleich hangelt sich jeder Kommilitone bei seinem ersten Vortrag zum Text entlang. So kommt gleich zu Beginn jede und jeder zu Wort, und niemand kann die Diskussion an sich reißen.

Zudem wird verhindert, dass man sich "anschmiegt", also der vielleicht eloquenter vorgetragenen Meinung träge zustimmen kann. Jeder dieser Zettel ist ja für sich gefertigt und folglich so verschieden wie der Eingangsvortrag. Er liegt vor uns, und man kann ihn im Nachhinein nicht angleichen oder fälschen. Wir wissen: so viele Gutachter, so viele Meinungen. Da hier jeder nun zu der seinen reden und gehört werden muss (Selbstkorrekturen immer möglich), vermeiden wir den Ringelmann-Effekt klassischen Brainstormings, also das behagliche Abtauchen in der Gruppe. Wir kommen eben nicht zu der einen, einzigen Seminargruppenmeinung, sondern jede, ob weiblich oder männlich, Sicht zählt gleichermaßen – und auch meine ist nur eine unter anderen. Das vermeidet im Ergebnis zwar das Mittelmaß einer einzigen Meinung "mit der jeder irgendwie leben" kann, führt aber eben auch zu heftigen Auseinandersetzungen. Hier hat nämlich jede und jeder begründete Argumente und gibt sie nicht so einfach aus der Hand. Nun komme ich ins Spiel. Läuft es gut, bin ich nicht mehr als ein Mediator der Debatte. Allerdings lebt diese kleine Seminargruppe in ihrem Studium tagtäglich Stunde um Stunde zusammen. Es ist verständlich, dass man da manchmal den allzu heftigen Konflikt scheuen, man muss ja nachher auch noch in der Kantine zusammenhocken. Ich sehe es aber (auch) als meine Aufgabe, Dinge sehr klar anzusprechen, die womöglich unangenehm sind. Das jedoch nicht, weil das Theater da draußen gar grässlich lauert, sondern weil Publikum oder die Theaterkritik gewiss sehen werden, was wir zugunsten des angenehmen Klimas unter den Seminartisch fallen ließen. Lob du mich, dann lob ich dich – diese Haltung sorgt im Moment vielleicht für gute Laune, lässt die Autorin oder den Autor dann ins Messer laufen, und zwar öffentlich. Kurz, es muss raus, es muss gesagt werden.

Das gelingt mir, ich gebe es zu, nicht immer gleich gut. Wem schon? Gegenstand unserer Arbeit sind ja nicht etwa statische Berechnungen eines Reihenhauses, sondern Erregungszustände wie Wut, Macht, Gier, Geilheit, Perversion, Sprache – auch Fäkalsprache – jeder Art. Das heißt nicht, dass man sich im Seminargespräch davon infizieren lassen muss, aber wir sind gehalten, sehr explizit zu werden. Da geht es dann nicht nur um Dramaturgie und Dialogtechnik, wir wissen: Wer schreibt, kann sich nicht bedeckt halten. Also kommen in die Debatte zwangsläufig auch sehr persönliche Erfahrungen, Ansichten und Werte. Und auch wenn wir bei solchen Themen immer zu wenig Zeit haben (der Studiengang kann es unmöglich schaffen, sozialwissenschaftliche Studien zu ersetzen), begegnen sich hier eben nicht Lehrer und Schüler, sondern schreibende Erwachsene – vielleicht der Unterschied einer Schreibschule zu allen anderen. Wir sind – Darja, mal allen Ageismus beiseite - gleichauf, wenn auch mit unterschiedlich langen sozialen und Schreiberfahrungen. Genaugenommen "beendet" selbst das Stück eines Erst- oder Zweitsemesterstudierenden auf der Bühne gleichsam das Ausbildungsverhältnis. Vor dem Finanzamt, vor Publikum und Presse – und auch vor mir. Finden wir in der Debatte nicht den richtigen Ton zueinander, wird das Seminar unterbrochen oder verschoben und darüber diskutiert. Das sind dann die "Krisengipfel", von denen Anne Rabe sprach. Und Schluss des Seminars: Jede und jeder sagt reihum, was er mit dem Textentwurf anfangen würde. Nicht die Autorin oder der Autor, sondern jeder der BearbeiterInnen. Sie tun so, als wäre es ihr eigener. Warum? Weil ich es für maßlos und sogar übergriffig halte, zu meinen, man könne auch noch wissen, was die Autorin oder der Autor tatsächlich denkt und fühlt. Danach alle lektorierten Arbeitsmanuskripte an die Autorin, weiter beim nächsten Mal: Feinschliff.

Wem aber das alles noch nicht gemäß ist, der kann sich – und, erinnere dich, dazu hab ich euch immer ermutigt – an die anderen "weißen alten Männer" der Institutsleitung wenden. Das habt ihr getan, und, siehe, mit nur einem Brief Sonderbedingungen jenseits aller Studienordnungen für euch erwirkt. Der Präsident verstand euch wie seine eigene Tochter. Ich nicht! Weil ich euch eben nicht infantilisiere. Ihr seid eben nicht meine Töchter, sondern erwachsene, sozial kompetente Frauen. Und von denen habe ich mir damals wie heute gewünscht, dass sie das geheime Schreiben von damals mir endlich zeigen und wir reden können. Vielleicht sogar noch bevor sie öffentlich meinen Ruf und meine berufliche Existenz vernichten. Denn das passiert nach solchen Veröffentlichungen. Selbst wenn ihr das nicht erlebt habt oder euch vorstellen könnt, ihr hättet es euch anlesen können. Sollte ich das verdient haben, dann bitte. Aber wäre es nicht auch eurem rein professionellen Gespür für die öffentliche Wirkung von Worten angemessener, einen Schritt zwischenzuschalten und mich wenigstens mit dem Wortlaut der Anklage zu konfrontieren? Stattdessen zehn Jahre später "knutschen" oder "schildkrötenhaft" oder "demütigende" körpersprachliche Tells – sprachlich vielleicht etwas unbeholfen, aber an Niedertracht und klebriger Nachwirkung nicht zu überbieten. Absicht und Strategie? Oder vielleicht nur eine zu früh aus der Hand gegebene Fassung? Ich werde es hoffentlich ja bald erfahren.

Dabei, Anne Rabe hat es erwähnt, haben wir damals sehr wohl über sexistische Strukturen geredet. Wie auch nicht? Wir schreiben Stücke, sorgen uns um alle möglichen Themen. Im Seminar und selbst noch in diesem "Zimmer" redeten wir über den Wert des "Binnen-I" für einen tatsächlichen Feminismus, die Anerkennung des anderen Geschlechts, einer anderen sexuellen Präferenz in Sprache und Habitus usw. usw. Wie einfach wäre es gewesen, mir zu sagen "Hör mal, an dir sind da aber auch sexistische Züge zu bemerken"? Beim Dimmen der Lautstärke meines Redens ging es doch auch (siehe oben).
Aber weiter, sachlich zu gröberen Fragen: Gab es eventuell Strukturen, die eure weitere berufliche Entwicklung verhinderten? Standen wir euch da irgendwie im Wege? Nein, das kann nicht sein. Es gab Lehrveranstaltungen zur Berufspraxis (Steuer- und Urheberrecht, Krankenversicherung usw.), Kooperationen mit der Ernst-Busch und gestandenen Bühnen, um frühe Arbeitspartnerschaften zu ermöglichen, genauso wichtig aber: Wir luden Verleger und Theaterleute zu uns ein und ließen euch dann mit ihnen allein. Ihr solltet frei zuhören und entscheiden können. Wenn gewünscht, berieten wir jede und jeden Einzelnen, wie und wo es mit dem Text "draußen" weitergehen könnte.

Ich selbst war sehr dafür, sich die ersten zwei Jahre Zeit zu nehmen und nicht schon nach Preisen, Stipendien und Uraufführungen zu hecheln. Trotzdem blieb die Entscheidung ganz bei euch. Mit einem Stück in die Berufspraxis zu starten, dazu gehört nur ein Klick auf der Tastatur oder ein Briefumschlag mit Marke. Wie sollten wir das verhindern? Wollten wir auch gar nicht. Im Gegenteil. Wir feierten die Preise und Uraufführungen in den Semesterschluss-Sitzungen, ABER wir sorgten auch nach Kräften dafür, dass frühe Erfolge im Seminaralltag keine Rolle spielten. Wie gesagt: der Text, der Text ohne zusätzliche Faktoren. Wir wussten, man kann von einem frühen Erfolg erschlagen werden; und wir wussten, dass der Status "PreisträgerIn" das nächste Stück nicht klüger oder besser macht – und seine AutorIn auch nicht. Stolz und froh und für ein paar Wochen aus dem Dispo, das ja. Aber für das Klima im Seminar, das liegt auf der Hand, war jeder noch so leise Dünkel schädlich. Sprachen wir darüber, waren wir hier einer Meinung. So schien es mir jedenfalls.

Soweit ein paar erste Informationen zu den Strukturen an der damaligen UdK. Wie gesagt: Kritik und Ratschläge willkommen.

Ich hatte mir vorgenommen, so wenig wie möglich persönlich zu werden. Das ist mir nicht gelungen. Wie auch?
Bis gleich, dann sachlicher mit Darja. Hoffe ich.

 

Zum Hintergrund: Das Magazin Merkur veröffentlicht in diesem Sommer auf seinem Blog eine Serie an Texten über Sexismus an Hochschulen. In einem der Texte reflektierte Darja Stocker ihr Studium im Fach "Szenisches Schreiben" an der Universität der Künste Berlin. Sie warf unter anderem ihrem damaligen Professor Oliver Bukowski Sexismus vor, allerdings ohne seinen Namen zu nennen. Eine Kommilitonin Stockers zu dieser Zeit, die Autorin Anne Rabe, widersprach ihrer Darstellung in einem Beitrag auf nachtkritik.de scharf. In den Kommentarthreads meldeten sich weitere frühere Student*innen zu Wort.

 

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