Die Liebe frisst ihre Frauen

von Reinhard Kriechbaum

Salzburg, 17. August 2017. Der Normalfall wäre heftige Ablehnung, was die Wohlmeinenden zu umso kräftigeren Bravo-Rufen anstachelt. Nichts da diesmal auf der Halleiner Perner-Insel, wo als letzte Schauspielpremiere dieses Sommers Frank Wedekinds "Lulu" ihrem Ende entgegen ging: Nur flauer Beifall und ein überrumpelndes Buh-Konzert (wie es schien: aus mehrheitlich jungen, weiblichen Kehlen), als sich die Regisseurin Athina Rachel Tsangari zeigte.

Augen auf Ballons projiziert

Von der Bühnengröße hat sich die Griechin jedenfalls nicht klein kriegen lassen, und auch nicht davon, dass sie nicht Deutsch spricht. Filmemacher sind Team- und Netzwerker. Und so hat Athina Rachel Tsangari auch ganz stark auf Video, sogar auf gezeichnete Animation gesetzt. Ein starker visueller Effekt ist etwa, wenn auf die vielen großen Ballone, die die Bühne (Florian Lösche), vollständig bedecken, riesige Augen projiziert werden. Wird da die "Monstretragödie" bildhaft gemacht? Ein "Monster", das uns, das Publikum, ins Visier nimmt – so wie die Männer Lulu, die in der ersten Szene als ein tierhaftes, amorphes Wesen unter einem Tuch sich bewegt, mit sechs Armen und sechs Beinen. Wie absurd, wenn der Ehemann Goll, der Gönner Schöning und der Maler Schwarz gerade zu diesem bildhaft gemachten "wilden Tier" die Schönheit einer jungen Frau beschreiben.

Lulu1 560 Monika Rittershaus uVerdreifachte Lulus, und wenn die Ballone sich heben, is tdie Spielfläche wieder leer
© Monika Rittershaus

Lulu, das sind in dieser Aufführung ihrer drei: Anna Drexler, Isolda Dychauk, Ariane Labed. Manchmal sprechen sie im Chor, öfter wechseln sie einander ab in den Dialogen. Jedenfalls hat es jeder der Männer, die sich wie Maulwürfe aus dem Bühnenboden herauf bohren und auch wieder in diesem verschwinden, immer mit allen Dreien zu tun. Die drei Lulus sind gemeinsam stark und sie werden gemeinsam schwach. Eine Herausforderung für jeden wie für sich selbst.

Drei Archetypen

Projizierte Frauen-Bilder aus Männerperspektive oder eine Dreier-Ich-AG in Sachen eines profitablen Eros? Die nahe liegende Möglichkeit, die drei Frauen zu differenzieren, hat die Regisseurin nicht genutzt. Die drei Lulus haben immer dasselbe an, und sie wechseln ihre Haartracht von Blondmähne auf dunklen Pagenschnitt. Stereotype, Klischees oder, wenn man es positiv sehen will: Archetypen. Warum eigentlich nur ein Klischee, ein Archetyp, wenn man schon drei Darstellerinnen einsetzt? Mag sein, dass der Publikumsgrimm sich deshalb so aufgestaut hat, weil die Regisseurin auch beharrlich Interpretation im Sinn präziser Geschlechter-Festschreibung verweigert. Mit Täter- und Opferrollen hält es Athina Rachel Tsangari nicht so genau, da bleibt viel offen. Feministinnen werden in dieser Aufführung schwerlich ausreichend Argumente sammeln können.

Lulu3 560 Monika Rittershaus uAriane Labed, Isolda Dychauk, Anna Drexler, dazu Steven Scharf als Dr. Franz Schöning) und
Christian Friedel als Alwa Schöning © Monika Rittershaus

Wenn sich die Ballone heben, ist die Spielfläche jedenfalls leer, immens viel Raum für ein Kammerspiel mit wechselnden Kräften. Lulu bleibt immer distanziert gegenüber den Männern Schöning hat es in einer Szene gar mit Lulus in Transparent-Kugeln zu tun. Er kann die Kugeln herumrollen, ohne dem "Objekt" Frau näher zu kommen. Erst Schigolch wird die Lulus da heraus holen, und das ist gar nicht gut für sie. Gelegentlich werden sie zu Plüsch-Gewändern greifen, die sie wie Kokons umgeben und doch nicht schützen.

Ur-Screwball Comedy

Die Choreographie, das Bewegungstheater sind der Regisseurin wichtig. Und sie pflegt den Slapstick. Im Programm äußert sie sich dazu in dem Sinn, dass "Lulu" eine Art Ur-Screwball Comedy sei. Da setzt sie voll und ganz auf die Schauspieler-Gruppe. Rainer Bock als Schigolch mit Intellektuellen-Miene, Steven Scharf als herablassender, aalglatt bis boshaft argumentierender Dr. Schöning, das sind die ernsthafteren Typen, Christian Friedel (Alwa), Benny Claessens (Rodrigo) und Maik Solbach (Schwarz/Casti-Piani) stehen fürs frontal Karikierende. Die Dialoge sind durchwegs auf Rasanz getrimmt, der so entstehende Humor wirkt gallig.

Der Paris-Akt: Dort pulsiert die Tanzmusik und die Szene wird flugs in einen makabren Walzer verwandelt. Beim Tanzen bringen die Männer ihre Erpressungsversuche an. Das hat durchaus filmische Anmutung. Eigenartig dann der London-Akt: Die Geschwitz (Fritzi Haberlandt) steht da wie eine Allegorie der aufrichtigen Liebe, während Lulu plötzlich ihre Trinität aufgibt. Da ist offenbar eine zu viel, Lulu drei wird im Bühnenhintergrund abgestellt. Das sieht nach Verlegenheitslösung aus. Die zweite Lulu schlüpft in die Rolle des Freiers und des Jack the Ripper. Die Geschwitz mischt sich gestikulierend auch noch ein in die Zweier-Figurengruppe. Schließlich fällt in einem finalen Liebesakt Lulu zwei (da als Jack the Ripper) über Lulu eins her. Kein Mord, sondern: Die Liebe frisst ihre Frauen. Die Geschwitz hat das Nachsehen.

Alles vom Bild her gedacht

Der episodenhafte Zugang entspricht wohl der lose geknüpften Szenenfolge Weedekinds (man griff auf die erste Fassung von 1894 zurück). Alles in allem wirkt diese Inszenierung dann doch zu sehr vom Bild her gedacht – aber gerade die Bild-Magie, zu der neben reichlich Video und gelegentlicher Animation auch eine höchst raffinierte Lichtgestaltung (Reinhard Traub) gehört, wirkt manchmal gerade so, als ob sich die Athina Rachel Tsangari dahinter verstecken will. Und sie versteckt auch eigene Interpretation hinter den durchwegs charsimatischen schauspielerischen Impulsen. Was will sie uns wohl wirklich erzählen über Lulu und die Männer? Kann das Artifizielle eine Deutungslinie ersparen? Das Premierenpublikum hat sein Urteil eindeutig gesprochen.

Lulu
Eine Monstretragödie von Frank Wedekind (Urfassung 1894)
Regie, Video: Athina Rachel Tsangari, Bühne: Florian Lösche, Kostüme: Beatrix von Pilgrim, Musik und Sounddesign: Mauricio Pauly, Choreografie: Ariane Labed, Athina Rachel Tsangari, Licht: Reinhard Traub, Animation: Renee Zhan, Dramaturgie: Marija Karaklajić,
Mit: Rainer Bock, Anna Drexler, Isolda Dychauk, Ariane Labed, Steven Scharf, Christian Friedel, Maik Solbach, Fritzi Haberlandt, Benny Claessens, Ian Hassett.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.salzburgerfestspiele.at

 

Kritikenrundschau

Völlig zu Unrecht werde Tsangari ausgebuht für ihr "kluges, wunderschönes, sinnliches Konzepttheater mit drei Hauptdarstellerinnen", schreibt Wolfgang Höbel auf Spiegel online (18.8.2017). "Die Sexualität ist ein dunkler Kontinent voller Abstraktionen in der 'Lulu'-Inszenierung der griechischen Regisseurin, die eine zweistündige Sinnlichkeits-Beschwörung im dunklen Raum gestalte." "In lauter kleinen, gestochen scharfen Spielszenen kommen außer Rand und Band geratene" Lulu-Bewunderer zu Wort in dieser "packenden Selbstermächtigungs-Séance". Fazit: "Tatsächlich ist dieses 'Lulu" nicht unbedingt ein feministisches Statement, sondern eher ein Bühnen-Essay darüber, was die Lulu den Menschen heute sein kann." Und: "Mag sein, dass Athina Rachel Tsangari den Festivalgästen das lukullische Schauspielertheater verweigert, das sich manche erhofft haben. Dafür hat die Regisseurin den Salzburgern einen klugen, schönen, hochmusikalischen Rausch aus Bildern und Worten geschenkt."

Einen beherzt performativen Zugang zur "Lulu" habe die bei der Premiere zusammengebrüllte Regisseurin Athina Rachel Tsangari gesucht. Dieser ergebe "zwar letztlich keine neue Deutung, dafür aber einige große Momente", schreibt Egbert Tholl von der Süddeutschen Zeitung (19.8.2017). Durchaus angetan scheint er von Tsangaris Versuch, Wedekinds Tragödie "etwas zu lüften", ebenso wie von ihrem "eigenwilligen Humor". Die Lulus seien "eine aufgeweckte Trias, die in ihrer eigenen Aura lebt und für die Männer auch dadurch nicht zu fassen ist". Tholl beschreibt atmosphärische Findungen in Musik, Bühnenbild oder Kostümen und konstatiert abschließend, "im Laufe des Abends zerfällt Tsangaris Schöpfung in eine Reihe solch toller Momente, zwischen denen reichlich Ungefähres liegt".

Zur "dekorativ harmlosen Monstershow" sei Tsangari ihre Lulu geraten, schreibt Bernd Noack in der Neuen Zürcher Zeitung (18.8.2017). Gerade eben gerettet werden die Inszenierung von einer Reihe hochkarätiger Schauspieler. Wenig interessiert scheint die Regisseurin Tsangari "an diesem Weib, das die Männer benutzen, um es zu zerstören, und das die Männer zerstört, indem es sie benutzt".  "Vom Wesen her unterscheiden sich die drei Lulus so wenig wie Tick, Trick und Track", so Noack. "Wechselnde Kostüme erzählen noch nichts von Persönlichkeit(en)". Sein Fazit: "Das alles schleppt sich kunstvoll durch einen Raum, der so aufwendig gestaltet ist, als müsste er vom offensichtlichen Mangel an Regie ablenken."

"Im Ganzen aber macht der Abend weniger den Eindruck eines bewegten Spiels als einer streng determinierten Simulation. Mit verlangsamtem Tempo, heruntergeregelter Temperatur und dramaturgischer Monotonie," schreibt Simon Strauß in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (21. August 2017). "Die anzüglichen Bewegungen, die diese dreieinige Lulu gegen Ende hin macht, bleiben nichts als Zitate. Sie ziehen niemanden in den Bann. Bringen keine Gefahr. Die männlichen Figuren wiederum stehen da wie bestellt und nicht abgeholt. Im Grunde interessiert sich diese Inszenierung nicht für sie. Ist froh, wenn sie alle tot sind."

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