Camera Obscura :: Lenz - Bernhard Mikeska schickt je einen Zuschauer auf einen Gang durch Weimar und die Geschichte
Im Spiegelkabinett der Seele
von Sascha Westphal
Weimar, 19. August 2017. Der Holzcontainer, der direkt am Stern, einem zentralen Punkt im Park an der Ilm, steht, fällt auf. Schon von weitem zieht er die Blicke der Flaneure auf sich. Er passt nicht so recht ins idyllische Bild, und das soll er auch gar nicht. Aber das wird mir so richtig erst später bewusst. Dann ist dieser jeweils für einen einzelnen Besucher konzipierte Gang durch das historische Weimar, der auch eine Reise ins Innere des Schriftstellers Jakob Michael Reinhold Lenz ist, längst schon wieder vorbei, und ich bin zurück auf dem Weg in mein Hotelzimmer. Während der kurzen, nicht einmal eine Stunde währenden Vorstellung bleibt für Reflexionen dieser Art kaum Zeit. Dafür sind die Eindrücke, die auf einen einprasseln, zu überwältigend.
Der momentan so gerne und häufig verwandte Begriff der Immersion drängt sich angesichts der gemeinsamen Arbeiten des Künstlertrios Raum+Zeit (bestehend aus Bernhard Mikeska, Lothar Kittstein und Alexandra Althoff) geradezu auf. Doch letztlich reicht er kaum aus, um diese ganz spezielle Form von Theater in all ihren Facetten zu beschreiben. Natürlich umschließen einen die Projekte des Trios. Wie sollte es auch anders sein, wenn sich eine einzelne Besucherin / ein einzelner Besucher mit Kopfhörer, aus denen neben Stimmen auch eine eigene Wirklichkeit erschaffende Geräusche dringen, auf einen ungewissen Weg macht? Man wird unweigerlich in die Welt der Stücke hineingezogen, und doch bleibt man sich seiner selbst immer extrem bewusst.
Ich, der haltlose Lenz
Wie Mikeskas, Kittsteins und Althoffs frühere Kollaborationen versetzt einen auch "Camera Obscura: Lenz", eine Koproduktion mit dem Kunstfest Weimar, dem Deutschen Nationaltheater Weimar und dem Theaterhaus Jena, in eine fast schon schizophrene Situation. Die Stimmen aus dem Kopfhörer drängen einen in eine Rolle, die rätselhaft bleibt. Die Frage "Wer bin ich?" bekommt eine geradezu existentielle Bedeutung. Auf der einen Seite behalte ich meine eigene Identität. Auf der anderen werde ich zu dem getriebenen Lenz, der Anfang April 1776 nach Weimar gekommen ist, um dort mit der Unterstützung seines besten Freundes Johann Wolfgang von Goethe Halt zu finden.
Schlaflos in Weimar © Heinz Holzmann
Nicht nur die Identitäten auch die Zeiten verwischen sich. 1776 und 2017 werden mehr oder weniger eins, während ich von den Kopfhörer-Stimmen zunächst entlang der Ilm durch den Park und dann durch die Altstadt von Weimar geleitet werde. Die kleinen Gassen sind eng, die Häuser, die sie säumen, wirken bedrückend. Kein Wunder, dass die männliche Kopfhörer-Stimme, die Thomas Kramer gehört, immer gehetzter und unsicherer wirkt. Die Stadt hat für den, der fremd in sie einzieht, etwas Bedrohliches, Abweisendes. Erwartung weicht Paranoia, die noch von Sophie Hutters mal lockender, mal bohrender Stimme verstärkt wird.
Streit mit Goethe
Mein Ziel ist der "Elephant", das berühmte Nobelhotel, in dem Goethe seinen 80. Geburtstag gefeiert hat und das in der NS-Zeit, wie es im Programmheft heißt, die "Heimstatt des Führers in Weimar" war. Dort angekommen, werde ich schließlich in ein Zimmer ganz am Ende eines Ganges im dritten Stock dirigiert. Dieser Ort ist wie so vieles in dieser Inszenierung hochsymbolisch: Endstation und Sackgasse in einem.
Die Schauspielerin Sophie Hutter erwartet mich, angezogen in der Badewanne sitzend. Wahrscheinlich befinden wir uns in der für Lenz so verhängnisvollen Nacht des 25. Novembers 1776, in der etwas zwischen ihm und Goethe vorgefallen ist, was nicht mehr aus der Welt zu schaffen war. Wenige Tage später hatte Goethe dafür gesorgt, dass sein früherer Freund, sein 'Straßburger Zwilling' der Stadt verwiesen wurde.
Eine irritierende Begegnung © Heinz Holzmann Die historischen Ereignisse, die in ein Dunkel des Schweigens getaucht sind, schwingen in der Inszenierung zwar mit, die Installation und Audiowalk, Film und Schauspiel zugleich ist. Aber sie bleiben Folie für viel grundsätzlichere Erfahrungen. Mikeska, Kittstein und Althoff versuchen erst gar nicht, eine Erklärung für das zu finden, was damals geschehen ist. Die Vergangenheit ist nur eine Camera Obscura, ein großer schwarzer Raum, in dem Projektionen als Realität erscheinen.
Ewige Fremdheit
LENZ steht in großen, im Sonnenlicht silbrig schimmernden Lettern auf dem Container am Stern. Es ist die erste Station. Eine Tür führt in einen in tiefe Dunkelheit getauchten Raum, in dem ein kurzer Film läuft. Seine Bilder nehmen die Begegnung am Ende vorweg. Ein Mann in einem Hotelzimmer, dann eine Frau, dann wieder ein Mann. Spiegelungen, die schließlich zu meiner Realität werden. Später trete ich an die Stelle des Mannes aus dem Video, und Sophie Hutter wird zu meinem Spiegelbild: Goethe und Lenz, die Freunde, die sich im anderen erkannt und gespiegelt haben.
Aber das ist nur eine Lesart dieser Situation. Die andere führt direkt zurück ins Innere der Camera Obscura. Es gibt gar keine zweite Person. Mann und Frau, Spieler und Besucher, sind eins, und alles ist nur eine Projektion, ein Trugbild, das einen auf Schritt und Tritt verfolgt. Der Container als offensichtlicher Fremdkörper im Park wird so rückschauend lesbar als Bildmetapher für die ewige Fremdheit, die das eigentliche Wesen der menschlichen Existenz ist.
Camera Obscura :: Lenz (UA)
von Bernhard Mikeska, Lothar Kittstein und Alexandra Althoff
Regie: Bernhard Mikeska; Text: Lothar Kittstein; Dramaturgie: Alexandra Althoff; Raum & Kostüm: Hannah Petersen; Sounddesign: Julia Krause; Videodesign: Nicolai Hildebrandt; Lichtdesign (Video): Marie Zahir; Maske: Kornelia Bloßfeld; Ton: Thomas Fischer; Produktionsleitung: Jana Herkner; Produktion: Verein für Raum und Zeit e.V., Deutsches Nationaltheater Weimar, Kunstfest Weimar; Koproduktion: Theaterhaus Jena
Mit: Sophie Hutter, Thomas Kramer
Dauer: 50 Minuten
www.kunstfest-weimar.de
www.nationaltheater-weimar.de
www.raumundzeit.art
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Die Arbeiten von Mikeska und Team haben aus meiner Sicht das deutsche Theater nachhaltig verändert. Danke an Weimar, dass diese aufwändigen Produktionen möglich sind!
WENN die Fremdheit eine dem Menschen wesentlich "ewige" ist, ist sie ihm ja bekannt. Was ihm durch Dauerpräsens bekannt ist, ist ihm aber nicht fremd... Es muss also etwas dazwischen sein, was die Wirkung der Inszenierung ausmacht