Donner, schlage die Erdkugel flach

von Reinhard Kriechbaum

Salzburg, 20. August 2017. Was für ein Land, das Lear unter seinen Töchtern zu verteilen hat! Über und über ist es mit Blumen bedeckt. Nicht lose bestreut, nein üppiges Blühen bis auf Waden-, gar Kniehöhe. Und natürlich keine Kunstblumen, sondern saftiges Sprießen dicht an dicht auf der Spielfläche der Felsenreitschule. Die Salzburger Festspiele sparen nicht, für König Lear nicht und auch nicht für den 81jährigen Komponisten Aribert Reimann, der mit diesem Stück vor ziemlich genau vier Jahrzehnten einen der wenigen Opern-Klassiker in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelandet hat. 28 Mal ist sein "Lear" seither produziert worden: Bestätigung für ein Musiktheater, das sich musikalisch ganz und gar nicht den Ohren anbiedert.

Twittersätze aus Shakespeares Zeiten

Doch zurück auf die Blumenwiese, die in Salzburg Gerald Finley als Lear unter seinen Töchtern aufteilt. Im weißen Smoking winkt er müde, aber jovial ins Publikum und schüttelt einigen aus dem Volk, das in 150-Kopf-Stärke als Statisterie vor den Steinarkaden Platz genommen hat, die Hände. Schönredner und Speichellecker ist so ein Potentat gewohnt, nicht eine Tochter wie Cordelia, die sich lobender Phrasendrescherei verweigert und bloß "liebt wie eine Tochter, nicht mehr, nicht weniger". Da braust dann dieser Lear auf, tobt unbeherrscht wie Donald Trump beim leisesten Widerspruch. Wäre Twitter in der Shakespeare-Zeit (oder 1777, als Johann Joachim Eschenburg die von Reimann vertonte Übersetzung schrieb) schon erfunden gewesen: Ein Satz wie "Donner, schlage die Erdkugel flach" wäre schnell abgesetzt gewesen, schneller als der König durch die Töchter vom Thron entfernt werden kann.

Lear1 560 Thomas Aurin uIm Sturm auf der Blütenwiese: Matthias Klink (Graf von Kent) und  Gerald Finley (König Lear)
© Thomas Aurin

Immer an diesem denkwürdigen Abend hat man heutige Bilder vor Augen, denn der Australier Simon Stone – gleich gefragt fürs Sprech- wie fürs Musiktheater – lässt Lear im Hier und Jetzt abdanken. Wenn ihm die Folgen des Machtverzichts klar werden, trampelt Lear wie ein Berserker über die Blütenpracht, reißt Pflanzen büschelweise aus. Dass die Heide bald verwüstet ist – nach der Pause ist die Bühne völlig leer geräumt – dazu wird er mit seiner Unbeherrschtheit selbst nicht wenig beigetragen haben. Die Töchter umgeben sich rasch mit bedrohlichen "Security"-Schergen. Auch solche Typen mit Kappen sind uns leider nur zu vertraut. Lears Pensionsantritts-Bacchanal (mit viel Bier und blankem Busen) machen sie ein rasches Ende. Da richtet der dem König zu Hilfe eilende Kent in Uniform eines österreichischen Polizisten wenig aus und landet in einem Hundekotter.

Die Schlächter sind unterwegs

Was für eine Bildwirkung, wenn es bühnenflächendeckend regnet in der Sturmnacht. Ein Mal noch blühender Naturalismus, wenn der dem Wahnsinn nahe Lear sich zu dem als Narr gebärdenden Edgar/Tom hingezogen fühlt. Dann aber legt Regisseur Simon Stone den Hebel um. Bildmächtig immer noch, aber abstrahierend das Weitere. In England sind die Schlächter unterwegs, rituell wird ein Blutbad unter der Zuschauer-Statistenschar vollzogen. Viele stürzen in die rote Lache. Lear hat Visionen. Dem Parkinson-zitternden Gloster wird das Augenlicht geraubt. Edgar/Tom ist jetzt als Luftballone tragende Mickey Mouse unterwegs. Schließlich landet Lear in der Psychiatrie, Cordelia sitzt am Krankenbett des Vaters. Was Anna Prochaska in dieser Rolle in ihren wenigen Szenen auch als Schauspielerin leistet, ist beachtlich, wie überhaupt Simon Stones Inszenierung sagenhaft genau mit Blicken und Gesten arbeiten läßt.

Nun verlässt Stone ganz den Naturalismus: Gefangennahme von Cordelia und Lear durch einen herabfallenden Zylinder aus Gaze-Stoff. Davor Rampensingen. Den Machtkampf am Hofe braucht man nicht "spielen", da hat das Publikum genug Bilder im Kopf. Adäquate Bilder wären nicht mal mit der sagenhaft-verschwenderischen Festspiel-Opulenz zu toppen. "Die Zeiten sind so grausam, dass Wahnwitzige Blinde führen" – so aktuell ist "Lear"...

Lear2 560 Thomas Aurin uEnde im Hundekotter: Gun-Brit Barkmin (Regan), Evelyn Herlitzius (Goneril), Matthias Klink
(Graf von Kent) © Thomas Aurin

Das geht unter die Haut

Edmund und Goneril haben blutige Hände, es tropft und rinnt herunter. Das reicht als Chiffre. Die tote Cordelia steht erst da wie eine weiße Alabasterfigur, Lear und sie sinken aufs Spitalsbett: ein berührender und doch abstrahierender Liebes- und Selbsterkenntnis-Tod. Da kippt und verflüchtigt sich der Orchesterklang in einen magisch-irrealen, gläsernen Sound.

Das geht unter die Haut wie überhaupt man 39 Jahre nach der Uraufführung in München (damals inszenierte Pierre Ponnelle und es sang Dietrich Fischer-Dieskau) die herausragende Qualität dieser so enorm aufs Wort konzentrierten Musik mehr als bestätigt findet. Wie jeder Gedanke unmittelbar seinen Niederschlag findet in dieser Partitur, das zeigen Franz Welser-Möst und die Wiener Philharmoniker quasi al fresco und doch mit rhythmischer Genauigkeit und großer innerer Ausbalanciertheit. Das seitlich im Raum erhöht platzierte Schlagzeug macht gehörig Effekt. Vor allem aber das dynamische Augenmaß fürs Orchester! Jeder gesungene Satz, jede Randbemerkung kommt pointiert und so verständlich herüber, dass es die Übertitelung eigentlich gar nicht brauchte.

Machtvoll auftrumpfende Finsterlinge

Gerald Finley hat im Lear seine Traumpartie gefunden, glaubhaft in seiner Wandlung vom Wort-Randalierer bis zum leisen Erdulder, all das gestaltend mit der zurückhaltenden Präzision eines Liedsängers. Schlackenlose Lyrik ganz ohne verdächtige Sentimentalität steuert die kluge Anna Prochaska als Cordelia bei. "Lear" ist ein personenreiches Stück, man kann in dieser fürwahr festspielwürdig besetzten Riesengruppe nicht alle einzeln aufzählen. Der machtvoll auftrumpfenden Finsterlinge sind viele, und die schneidigen Attacken der Evelyn Herlitzius und Gun-Brit Barkmin (Goberil, Regan) lassen immer wieder zusammenzucken. Der Countertenor Kai Wessel hat als Edgar/Tom intensive Momente. Der "echte" Narr ist mit einem Schauspieler besetzt: Michael Maertens mal in einem ganz anderen Timbre und mit Sprechgesang gefordert. Auch das eine nachdrückliche Leistung.

Der Jubel war riesengroß, einige Mißfallensäußerungen wohl für den Regisseur (aber überwiegend Zustimmung auch für ihn). Was hätten die Buh-Rufer wohl gerne gesehen?

 

Lear
von Aribert Reimann
Libretto von Claus H. Henneberg
nach William Shakespeares Tragödie King Lear in der Übersetzung von Johann Joachim Eschenburg (1777)
Musikalische Leitung: Franz Welser-Möst, Regie: Simon Stone, Bühne: Bob Cousins, Kostüme: Mel Page, Licht: Nick Schlieper, Dramaturgie: Christian Arseni.
Mit: Gerald Finley, Evelyn Herlitzius, Gun-Brit Barkmin, Anna Prohaska, Lauri Vasar, Kai Wessel, Charles Workman, Michael Maertens, Matthias Klink, Derek Welton, Michael Colvin, Tilmann Rönnebeck, Franz Gruber, Volker Wahl. Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor, Wiener Philharmoniker
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.salzburgerfestspiele.at

 

Kritikenrundschau

Von einem Festspiel-Höhepunkt schreibt Ljubiša Tošić in der Wiener Tageszeitung Der Standard (22. 8. 2017): "Die Inszenierung von Simon Stone arbeitet dicht an emotionalen Grenzbereichen der Figuren: Aus dem blumenprallen Laufsteg lässt er konsequent Niedertracht, seelische Verwüstung und Demütigung sprießen. Mord und paranoide Ängste wachsen empor in grellen Seelenfarben, und vielschichtig kommt das Grauen daher: Eine bierselige Sadomaso-Orgie ist ebenso möglich wie angststarre Figuren, die Erinnerung an üblen Taten plagen. Zu Säulen aus Angst und Empathielosigkeit werden zwei Töchter Lears, die Evelyn Herlitzius (als Goneril) und Gun-Brit Barkmin (als Regan) mit dramatischer Aufgeladenheit versehen, während Lear kalt vernichtet wird."

In Superlativen lobt Eleonore Büning in der Neuen Zürcher Zeitung (22.8.2017) diesen Abend. Natürlich sei es mehr als überfällig, dass die Salzburger Festspiele erstmals ein abendfüllendes Werk von Reimann zeigen. "Aber dass diese Produktion musikalisch und szenisch so dicht gelungen ist und jeden etwas angeht, das wirkt wie ein Fanal: Es geht jetzt wieder um etwas in Salzburg." Denn das sei, so die Kritikerin "keine altmodische Publikumsbeschimpfung, auch keine selbstreferenzielle Materialschlacht: Vielmehr wird an diesem Abend die Aufhebung der vierten Wand zwischen Bühne und Publikum auf überwältigende Weise Ereignis."

Für Walter Weidringer von der Wiener Tageszeitung Die Presse (22.8.2017)  wird Simon Stones Inszenierung von Aribert Reimanns Oper zu einem "Triumph zeitgenössischen, schonungslos expressiven Musiktheaters".

Von einer "merkwürdigen, aber denkwürdigen Inszenierung, die man in ihrer Rätselhaftigkeit am liebsten gleich noch einmal ansehen würde" spricht Thorsten Preuß bei BR Klassik (21.8.2017). "Je mehr Lear in den Wahnsinn gleitet, desto stärker geraten auch Zeit, Raum und Logik aus den Fugen. Wie in einem Film von David Lynch verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Albtraum. So geistert der Graf von Gloster, packend dargestellt von Lauri Vasar, schon mit blutigen Augenhöhlen über die Bühne, lange bevor ihm im Stück tatsächlich die Augen ausgedrückt werden.

Die letzte Neuproduktion der diesjährigen Salzburger Festspiele ist ein akustisch wie szenisch extremes Erlebnis," so Franziska Stürz in der Sendung Fazit vom Deutschlandfunk Kultur (20.8.2017). "Stones starke Bilder auf der Laufsteg-Bühne brennen sich ein, die Wucht der musikalischen Interpretation wirkt erschlagend, doch ein begeistert wirkender Aribert Reimann wird am Ende der Premiere vom Publikum gefeiert."

"Wir lernen hier fast niemanden kennen, obwohl die Besetzung grandios ist", schreibt Volker Hagedorn in der Zeit (24.8.2017). "An Reimanns Differenzierungen rauschen (...) krasse, platte Bilder vorbei." Simon Stone scheine zu glauben, es werde in der Oper "höchste Zeit für spritzende Bierdosen, nackte Frauen, Hektoliter von Theaterblut und ein Publikum auf der Bühne, das so aussieht wie das davor", so Hagedorn: "Lieb gemeint, aber das hatten wir alles schon!"

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