Presseschau vom 25. August 2017 – die SZ über Theater im digitalen Raum und die CyberRäuber

Der neue öffentliche Raum

Der neue öffentliche Raum

"Vielleicht wird man einmal sagen, dass das Aufeinandertreffen von Theater und Virtual Reality (VR) einen ähnlich starken Einschnitt bedeutete wie die blasphemische Idee, Möbel auf die Bühne zu stellen", schreibt Philipp Bovermann in der Süddeutschen Zeitung. "Als Mitte des 19. Jahrhunderts Stühle, Tische und nach und nach die ganze Alltagswirklichkeit ins Theater einzogen, anstelle von bemalten Kulissen, da wussten die Schauspieler zunächst kaum, wie ihnen geschah. Nun stellen sich junge Theatermacher eine ähnlich verrückte Frage: Kann man eigentlich auch digitale Räume bespielen?"

Bovermann porträtiert als Vorreiter dieser Bewegung die "CyberRäuber" und schreibt: "Anstatt zu versuchen, Räume und Schauspieler möglichst fotorealistisch abzubilden, wie es der Großteil der VR-Branche tut, setzen die 'CyberRäuber' Brüche in der Wirklichkeitsdarstellung als Verfremdungseffekte ein." Sie inszenierten einen "Bruch mit heiligen Kühen des Theaters": "Gegen die Einmaligkeit von Aufführungen setzen sie gespenstische Räume außerhalb der Wirklichkeit, die man auf einem USB-Stick mitnehmen kann; gegen das öffentliche Happening die private Erfahrung hinter der VR-Brille."

Ihr Ziel sei es, "sobald wie möglich Besucher gemeinsam in die virtuellen Theaterräume zu bringen und sie dort auch mit Schauspielern interagieren zu lassen, nicht nur mit holografischen Aufnahmen". Damit berühre das virtuelle Theater "einen in seiner Bedeutung oft noch unterschätzten Bereich, nämlich den der 'social VR'", so Bovermann: "virtuelle Räume im Internet, in denen sich Menschen treffen, um Zeit miteinander zu verbringen". Computerspiele lieferten die Mechanismen, wie diese Welten funktionieren. "Aber es ist das Theater (…), das sich kritisch mit den Machtstrukturen öffentlicher Räume auseinandersetzt. Auch virtuelle Räume sind öffentlich. Bislang allerdings trauen sich nur wenige Theaterkünstler und -institutionen dorthin vor."

(sd)

 

Mehr zur Arbeit der CyberRäuber: "Cyberräuber" Björn Lengers präsentierte eine Pionierstudie zu Theater und Virtual Reality 2015 erstmals im Rahmen der Konferenz Theater und Netz von nachtkritik.de und der Heinrich Böll Stiftung. Ab der Ausgabe 2016 trat Legerns gemeinsam mit Marcel Kanapke unter dem Label "CyberRäuber" auf: mit einer VR-Version von Schillers "Die Räuber". 2017 präsentierten die CyberRäuber bei "Theater und Netz" ihre VR-Version der "Borderline Prozession" vom Schauspiel Dortmund.

 

Kommentare  
Presseschau VR-Theater: es geht um Mindset
Aristoteles hat in seiner Poetik zwei Arten von Handlung identifiziert - eine, die auf konkrete Ergebnisse ausgerichtet ist wie beispielsweise die Herstellung eines Stuhls (für Aristoteles nicht fürs Theater geeignet) und eine, die auf das soziale Handeln ausgerichtet ist, was er als Einziges als theatertauglich empfand. Das Sprechen über VR im Theater ist - so sehr ich die CyberRäuber und das, was sie tun, schätze - ein Sprechen über konkrete Technologie, also konkretes technisches Handeln und damit ein Sprechen über die Art von Handlung, die Aristoteles nicht als für das Theater geeignet empfand. Nun gut, könnte man sagen, Aristoteles ist auch schon eine olle Kartoffel, aber vielleicht sollte man ein bisschen wegkommen von diesem unbändigen Staunen über das, was technisch alles möglich ist und dabei noch zu lamentieren, wie schwer sich die Theater mit der Technik heute noch tun. Das ist ja jetzt keine wirklich neue Erkenntnis, und bringt irgendwie auch niemanden weiter (been there, done that). Interessante Entwicklungen entstehen doch in der Theaterlandschaft grade da, wo die Auswirkungen der Digitalisierung unserer Kultur auf ebenjene sozialen Handlungen und -Haltungen untersucht wird, die auch schon Aristoteles interessant fand. Kay Voges' Borderline Prozession beispielsweise ist Theater für das digitale Zeitalter: nicht, weil es den Zuschauer*innen eine VR-Brille aufnötigt, sondern weil es sich der Gleichzeitigkeit des Online-Lebens, der Hyperlink-Assoziationsketten und der Erkenntnisverknüpfung und damit neuen Diskursivität des Internets bedient, um uns völlig zeitgemäß einen Spiegel vorzuhalten. Und das auf gänzlich analogem, also wie im Theater gehabten live und unmittelbarem Wege. Das heisst aber auch, dass Intendanten und Theaterinstitutionen nicht schief angesehen werden müssen, weil sie nicht sofort 400 VR-Brillen für ihr Publikum anschaffen und eine Programmierer-Abteilung aufbauen. Es heisst vielmehr, dass man zunächst mal ein gewisses Mindset braucht und die Möglichkeiten der Digitalisierung, der Datenverknüpfung, und des neuartigen Diskurses tatsächlich schätzen muss, um "digitales Theater" zu machen. Das wär zumindest im Sinne der ollen Kartoffel Aristoteles, der ja so blödsinnig eigentlich auch nicht war.
Presseschau VR-Theater: an die Redaktion
Liebe Redaktion,
befragen Sie sich doch bitte mal selbst, was so ein Beitrag soll. Ein Artikel wird in weiten Teilen wiedergegeben, gänzlich ohne eigene journalistische Leistung - keine Zusammenfassung, keine Einordnung, lediglich eine gekürzte Fassung. So kann man unabhängigem Journalismus auch zusetzen.

(Liebe*r Heiner, es handelt sich ausgewiesenermaßen um eine Presseschau – in dieser Rubrik weisen wir auf Inhalte aus anderen Medien hin, von denen wir meinen, dass sie sie Leserschaft interessieren. Wenn sie nicht online zugänglich sind, fassen wir sie zusammen, um eine Auseinandersetzung zu ermöglichen. Mit freundlichem Gruß, sd/Redaktion)
Presseschau VR-Theater: unkontrolliertes Allein-Sehen
Die Analogie von Bovermann stimmt nicht. Statt der Möbel, die also einst die Schauspieler als dreidimensionale Requisiten, mit denen man auf der Bühne bürgerlichen Alltag darstellend spielen konnte, irritierten kann man VR nicht auf die Bühne stellen. VR ist etwas Abstraktes. Man kann nur die VR-Brille auf die Bühne legen, oder sie aufhängen oder dergleichen. Und dann können Schauspieler damit auf der Bühne Alltag im Zeitalter der Digitalen Technik und Kommunikation darstellend spielen. Sie können die Brillen aufsetzen und spielen, dass sie irgendwas sehen, was keiner weiter sieht, außer es wird über Leinwand als Einspieler behauptet. Der Zuschauer kann dann sehen, was die Schauspieler vermeintlich - die Leinwand behauptet ja nur - sieht und sehen, wie der sich bei dem unkontrollierten Allein-Sehen bewegt. Sie können sehen, wie er sein Gesicht verzieht, zusammenzuckt, hören wie er was kommtentiert, z.B. "geeeiiiill". Wenn auf der Leinwand gerade wie im Vidiospiel ein Gegner in einer virtuellen Welt zerschreddewrt wird und er sagt "geeeiiiillll" - hat er dem Publikum einen Menschen gezeigt, der es geil findet, wenn er ganz alleine eine digital erstellte Fantasie-Welt beobachten kann, in der möglichst real animierte Menschen geschreddert werden können und sich keiner dabei echt schmutzig machen muss... Der Vergleich Möbel früher-VR heute hinkt also. Deshalb kann mit ihm der Fortschritt für Theater durch die Technik, die die CyberRäuber als Zukunft des Theaters in logischer Folge der technischen Entwicklung sehen, nicht beschrieben werden.
Ich schätze durchaus die CyberRäuber und die Erfahrung, die sie einem ermöglichen durch ihr Probieren und das Angebot, dies durch ihre Brille zu sehen. Allerdings sehe ich die Dinge, die man für Theater aus ihnen lernen kann an vollkommen anderer Stelle als sie selbst. Die Erklärungen ihrer eigenen "Mission" sind so weit von einer für Theater notwendigen geistigen Durchdringung von Theater und Spiel als Gegenstand der Philosophie entfernt, dass es bedauerlich ist. Sowohl für das Theater als auch für die CyberRäuber.
An der Brille kanns nicht liegen und auch nicht an der Einlesbarkeit von öffentlichen Räumen durch Rechner, dass hier irgendetwas daran für Theater in der Tat eine Änderung bewirken könnte.
Die Gameindustrie täte gut daran, sich daraus etwas zu machen und sich ernsthaft zu bemühen, philosophisch - nicht nur technisch - hinter ihren eigenen Absatz-Interessen hinterherzukommen, wenn ihre Werbung und auch ihr Buhlen um das Theater(publikum) als Absatzmarkt Früchte tragen soll.
Presseschau VR-Theater: Korrektur
Ich meinte weniger die Option der Kontrolle durch Publikum undoder Mitspieler als eher die Option der Zeugenschaft, bitte.
Presseschau VR-Theater: Frage
wird die kunst das überleben? irgendwie wohl schon ... genau wie die politik ... die frage nach dem WIE ist jedoch entscheidend

die beschäftigung mit WAS auch immer ist nervig und völlig unrelevant, aber voll im trend ... und gut zu besichtigen ...



Jerry Saltz über die Lage der Kunst:
... ist die Szene in der Lage ist, sich selbst aufzurütteln?

"Was wir meiner Meinung nach brauchen sind Zeichen einer neuen Energie oder Aktivität – ob politisch oder nicht sei erst mal dahin gestellt. Ich will wissen, ob die Kunstwelt in der Lage ist, sich selbst aufzurütteln. Angesichts der Kommerzialisierung unzähliger Widerstandsaktionen und Kritik durch Kunst und deren Institutionen, rückt diese Hoffnung in weite Ferne. In den letzten 20 Jahren kritisierte Kunst Kolonialismus, Kapitalismus, Sexismus, Rassismus – an denen sie immer auch selbst beteiligt ist – und immer wieder sich selbst.

Es wirkt, als spielten die Künstler nun die Rolle von rasenden Reportern.

Ai Weiweis nichtssagende Armory Installation "Hänsel und Gretel", die er gemeinsam mit den Star-Architekten Herzog und de Meuron erarbeitet hat. Die Ausstellung kuratierten Tom Eccles (ein Genie, das ich bewundere und der es besser hätte wissen müssen) und Hans Ulrich Obrist (der es wahrscheinlich nicht besser weiß) – zwei Mitglieder der internationalen Kuratorenelite. Die über 5000 Quadratmeter große Haupthalle ist bis auf die über den Besuchern schwebenden, sirrenden Objekte und Netze dunkel. Die beiden Kuratoren bezeichnen dies als "einen bedrohlichen, dystopischen Wald aus projiziertem Licht und von Infrarotkameras und Drohnen verfolgten Besuchern”. Die Leute zahlen 15 US-Dollar Eintritt, um ziellos umherzulaufen und Abbildungen ihrer selbst auf dem Boden zu ihren Füßen zu betrachten. Dieser Unsinn ist der Welt größte Selfie-Maschine – die "Fake News" der Kunstwelt. Wenn wir die Republikanische Partei dazu auffordern, ihre eigenen "Fake News" aufzudecken, dann gilt Gleiches für die Kunstwelt. Und zwar schnell, klar und gründlich."


http://www.art-magazin.de/szene/20723-rtkl-jerry-saltz-ueber-die-lage-der-kunst-was-machen-wir-hier-eigentlich


ein interview mit kerry james marshall + seine gedanken zu seinem kurator chris dercon zu Trends unter nicht-schwarzen Künstlern, schwarze Themen als progressive, neoliberale Aussagen zu behandeln. (auszugsweise übersetzung übersetzung)

"Es ist zutiefst traurig und beunruhigt mich, dass wir weiter diskutieren, wie wir am besten die Kunsträume diversifizieren können, aber weiterhin Menschen beschäftigen und unterstützen, die so weit von der Arbeit entfernt sind und Erfahrungen, von denen sie profitieren. Es ist beleidigend und unempfindlich, einen nicht schwarzen Kurator zu haben, der einem schwarzen Künstler erzählt, wie eine kleine Anzahl von Menschen in einer auserwählten Gemeinschaft eine weltweit verstandene Erfahrung von Armut, Isolation und verinnerlichter Unterdrückung widerlegt. Es ist erbärmlich und faul, schwarze Schmerzen als das einzige logische Mittel der Kritik und des Verständnisses der Kunst zu verwenden, die von den Künstlern der Farbe stammt.
Ich applaudiere Marshall für die Behandlung dieser Fragen mit reiner Professionalität sowie die vielen anderen Leute der Farbe im Raum, die die Implikationen von Dercons Subtext verstanden. Wir sind mehr als nur Opfer und weit mehr als Instrumente der vorgeschlagenen Vielfalt Quoten. Für die Liebe von allem, was gut ist, wenn Sie einen Künstler interviewen wollen, der zufällig schwarz ist und Sie nicht schwarz sind, geben Sie ihnen die Chance, ohne Ihr Beharren zu sprechen, dass Sie mehr wissen, als sie jemals gelebt haben."

https://thenorwichradical.com/2017/05/11/how-not-to-interview-a-black-artist/
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