Die Revolution und ihre Enkel – ongoing project mit einem dokumentarischen Theaterprojekt auf den Spuren des real existierenden Sozialismus beim Kunstfest Weimar
Der Enkeltrick
von Gabi Hift
Weimar, 29. August 2017. SED. Sie wissen schon. Nun stellen Sie sich vor, Sie hören eine Weimarer Zwölfjährige einen Text vorlesen, und statt "Ess. ee. dee" liest sie "Sed"- als wär's der Anfang von Sedativ oder Sedlmayer. Finden sie das a) Erschütternd? Faszinierend? Irre schrill? Dann ist diese Aufführung vielleicht genau das Richtige für Sie. Oder haben Sie b) "Eh klar – und was weiter?" gedacht? Dann könnten sie in den Würgegriff einer so quälenden Langeweile kommen, wie Sie sie zuletzt in der Schule erlebt haben.
Ein U-förmiger Konferenztisch. Daran sitzen, zwischen den Zuschauern verteilt, Weimarerinnen "aus drei Generationen", mit Mannschafts-Shirts und Microport. Zwei Mädchen, 13 und 14, zwei Frauen um die fünfzig, eine Mitte zwanzig. Das Regieteam von "ongoing project" hat sich mit ihnen und drei weiteren zu Sitzungen getroffen, bei denen Experten den Kindern etwas drüber erzählt haben, wie es damals in der DDR war. Bei der Aufführung hört man Tonaufnahmen dieser Treffen und einzelne Sequenzen werden live nachgespielt – mit vertauschten Rollen. Die Kinder spielen die Erwachsenen und umgekehrt. Es wird gesagt, dass das ein Vorschlag von Brecht für seine Lehrstücke war.
Müller, Marx und Melken
Diese Expertenvorträge sind nun geradezu Parodien von miserablen Schulstunden – unklar ob das so gemeint ist. Ekkehard Kiesewetter, ehemaliger Schauspieldirektor von Erfurt, lässt die Kinder eine Szene aus Heiner Müllers Stück "Zement" spielen – weder Spieler noch Zuschauer verstehen, worum es geht. Eine Bibliothekarin macht eine Führung durch die Bibliothek und triumphiert, weil die Kinder nicht genau wissen, wer Lenin war. Eine Arbeiterin aus einer LPG zeigt, wie sie melken gelernt hat, eine Frau bringt den Mädchen zwei Lieder von den Thälmannpionieren bei. Da müssen dann die Zuschauer auch mitsingen, vorher kriegen sie aber noch eingetrichtert, dass das Gesinge – genau wie Melken, die MEW und "Zement" – eh halb lächerlich halb lästig war und damals wie heute uninteressant. Also singt man uninteressiert, halblaut, halb falsch, Hauptsache ohne Gefühl. Freude? Wut? Gibt's nicht, gab's nicht. Am Ende jeder Sitzung fragt eine aus dem Regieteam: Gibt es an dieser Stelle noch Fragen? Und jedes Mal kommt die Antwort von einem der Kinder: Ich habe jetzt leider keine Fragen mehr. (Die beiden Mädchen singen übrigens sehr schön, sie erzählen, dass sie auch im Weimarer Chor singen, sie dort zu hören ist bestimmt ein Vergnügen).
Säuerliche Wurstigkeit
Man könnte jetzt sagen: das ist doch ein ehrenwerter Ansatz, Kinder, die von der älteren Generation was von damals hören. Man könnte sagen: das sind Laien, da darf man doch nicht so hohe Ansprüche stellen und zumindest für die Beteiligten ist es sicher eine wertvolle Erfahrung. Aber so ist es nicht. Der Ansatz ist nicht ehrenwert. Er respektiert die Teilnehmer weder in ihrer historischen Situation noch als Darsteller. Sie werden in ein Konzept gezwängt, in dem sie sich sichtlich unwohl fühlen. Und säuerliche, halblustige Wurstigkeit wird als state of the art propagiert.
Die Form bezieht sich auf Brecht'sches Lehrtheater – nur besteht das nicht aus vertauschten Rollen im inhaltsleeren Raum. Brecht hat extrem zugespitzte Situationen gebaut, in denen ein Interessenskonflikt zwischen Individuum und Kollektiv eskaliert. Hier gibt es keine Konflikte, keine Szenen, weder Klassen- noch sonstige Standpunkte, nur Gleichgültigkeit. Die Kinder kommentieren die Vorträge immer mit "mhm, mhm" – das wird mit vertauschten Rollen auch nicht lehrreicher.
Enttäuschte Hoffnung
Aber das wirklich Schlimme ist, wie hier ein enorm brisantes Thema ins Lächerliche gezogen wird. "Mama, Papa, was habt ihr eigentlich im Krieg gemacht?", das war die Frage an deutschen Mittagstischen, die die 68-er Revolte ausgelöst hat. Davor herrschte Schweigen, nicht nur bei den Tätern, auch bei den Opfern. Ein ähnliches Schweigen ist nach dem Ende der DDR entstanden. Das gehört wohl zu den schwersten Situationen in einer Gesellschaft: wenn eine ganze Generation mit Scham, unterdrückter Wut und Verdrängung auf ihre enttäuschten Hoffnungen reagiert. Wie kann man in so einer Lage mit seinen Kindern sprechen? Für die man doch ein Vorbild sein will? Wie können Kinder, die sich doch Helden als Eltern wünschen, verstehen, dass ihre Eltern keine waren? Wie können diese Kinder trotzdem lernen zu vertrauen? Es wäre eine wirklich noble Aufgabe für das Theater, Möglichkeiten zum Durchbrechen dieses Schweigens zu finden. Das ist sicher sehr schwer. Es versuchen und daran scheitern wäre ehrenwert. Hier ist es angekündigt, dann allerdings gar nicht versucht worden. Schade.
Die Revolution und ihre Enkel
Ein dokumentarisches Theaterprojekt auf den Spuren des 'real existierenden Sozialismus'
Konzeption: stellwerk weimar e.V., ongoing project, Regie & Dramaturgie: ongoing project
Mit Beteiligten aus drei Generationen aus Weimar: Corinna Deibel, Hannah Deibel, ClaudiaDunse, Ronja Margarethe Heinrich, Isolde Malkowski, Jakob Menkens und Johanna Wagner.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.ongoing-project.org
www.kunstfest-weimar.de
Das Theaterkollektiv "ongoing project" suchte "die direkte Konfrontation zwischen Jugendlichen und ihren Eltern bzw. Großeltern" – "und scheiterte", findet Henry Bernhard im Deutschlandfunk Kultur Fazit (29.8.2017). "Selbstbespiegelung statt Fragen an die Vergangenheit, Regieeinfälle statt Fakten, die auf den Tisch kommen."
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Was aber Kinder nicht verstehen können, ist, dass in ein und dem selben Land die ehemals West-Eltern und in den Westen geflohene Eltern ganz prinzipiell auch in öffentlicher Lesart Helden gewesen sein dürfen und die nicht geflohenen Ost-Eltern in derselben Lesart ganz prinzipiell nicht. Das ist auch nicht verstehbar. Kinder sind sehr klug. Sie wissen ganz genau, was verstehbar ist und was nicht.
Dieses Bestehen auf dem Aufsagen des öffentlich-verordneten Narrativs über die DDR, was mir manchmal schon vorkommt wie "Malen nach Zahlen", hat aber in sich auch etwas sehr Trübes-Langweiliges. Von daher passt diese Nachtkritik ganz gut zu dem Projekt.
@ M.G.: Was ich an Ihrem Kommentar wiederum als nicht ganz richtig empfinde, ist: Klar wurde die DDR aufgrund der Erfahrungen im zweiten Weltkrieges aufgebaut. ABER: Das schützt ja nun nicht vor möglicherweise ebenso übernommenen autoritären Persönlichkeits- bzw. zwischenmenschlichen Strukturen. Genauso wenig, wie bei den alten West-Nazis, natürlich. Und ein neues staatliches Gebilde heisst noch lange nicht ein "neuer Mensch". Erklären Sie mir mal bitte diesen Zusammenhang.
Ausserdem ist allein der Aspekt der Langeweile in meiner Wahrnehmung auch nicht richtig. Denn warum wandte sich ein anarchistischer Autor wie Brasch dann sowohl gegen den NS-Staat als auch gegen den SED-Staat? Warum gab es den Volksaufstand von 1953? Warum gab es Abwanderungen bzw. Rebublikflüchtlinge? Eine direkte Gleichsetzung des NS-Staats mit dem SED-Staat sehe auch ich nicht. Aber dass letztere Strukturen auch nicht frei von Macht waren, sehe ich schon.
(Anm. d. Red.: Den ersten Kommentar habe ich als Ko-Kritik und Dopplung empfunden, daher nicht veröffentlicht. Hier ist das Wesentliche ja nun konzise noch einmal enthalten. Bitte um Verständnis und beste Grüße von E. Philipp)
Was aber auch reflektiert wird, ist das Machtverhältnis zwischen Erwachsenen und Jugendlichen, das meiner Meinung sehr ernst genommen wird.
Und eine letzte Frage noch an Ihre Kritikerin: Wünschen Kinder sich wirklich Helden als Eltern? Ich würde sagen, Kinder wünschen sich keine Helden, denn sie wissen ganz genau, dass sie selbst auch nicht immer nur Helden waren und sind. Ich würde sagen: Kinder wünschen sich ein authentisches Gegenüber mit Fehlern, Ecken und Kanten, genau wie sie selbst, ob nun in West oder Ost.