Theaterboulevard der Erinnerungen

von Kai Bremer

Osnabrück, 1. September 2017. Kurz vor 23 Uhr, am Ende der 7. Spieltriebe, des alle zwei Jahre am Theater Osnabrück stattfindenden Festivals, geht's munter durcheinander. Auf der Bühne im großen Haus tanzen Zuschauer mit Schauspielern, im Parkett klatscht der Teil des Publikums, der sich nicht auf die Bühne wagte, rhythmisch mit Tänzern. Aus den Lautsprechern erklingen Satzfetzen aus den Inszenierungen, die in den letzten knapp sechs Stunden zu hören waren, etwa der aus dem Rechercheprojekt "Ins Blaue", dass "aus Sicherheitsgründen" für die Zuschauer immer die Grenze zwischen Theater und Leben erkennbar bleiben müsse. Die droht in der ausgelassenen Stimmung zwar nicht zu verschwinden. Gleichwohl aber knallt es, Luftschlangen schießen in den Bühnenhimmel: Die Party nach dem Festival kann beginnen.

Schüsse auf Andy Warhol

Angefangen hatte es an selber Stelle freilich weit weniger ausgelassen. Als Eröffnungsstück wurde die deutsche Erstaufführung von Sara Stridsbergs "Valerie Solanas, Präsidentin von Amerika!" gegeben. Es erzählt die Biographie der Radikalfeministin, die heute vielen nur deshalb bekannt ist, weil sie im Juni 1968 drei Schüsse auf Andy Warhol abgab. Stridsbergs Drama psychologisiert wiederholt auf nicht immer unproblematische Weise. Marlene Anna Schäfer konzentriert den Text hingegen überzeugend auf das politische Anliegen Solanas, ohne sich mit ihm gemein zu machen.

valerie solanas 6 560 Marek Kruszewski uAuf Gräbern tanzen: Marie Bauer, Maria Goldmann (Valerie Solanas), Niklas Bruhn  ©  Marek Kruszewski

Voraussetzung dafür ist neben einigen klugen Strichen zunächst die Bühne von Marina Stefan. In ihrer Mitte türmt sich ein stählernes Treppengerüst in den Bühnenhimmel. Dahinter kann eine große Projektionswand hochgefahren werden, davor eine Gaze-Wand sich senken, auf die ebenfalls projiziert wird. Schäfer nutzt die sich daraus ergebenden vielfältigen Darstellungsmöglichkeiten mal um Szenen zu doppeln, mal um Dialoge zu distanzieren. So liegt Maria Goldmann als Valerie zu Beginn noch vor dem halbtransparenten Vorhang, während die anderen Darsteller weiter hinten in die Kamera sprechen: Übermächtig groß und fratzenhaft-bedrohlich wölben sich ihre projizierten Gesichter über Valerie.

valerie solanas 4 280 Marek Kruszewski uNiklas Bruhn, Maria Goldmann  © Marek Kruszewski Auch sonst verweigert sich Schäfer entschieden dem Biographismus Stridsbergs. Die Ikonographie der historischen Solanas mit dunklen, kurzen Haaren samt Schiebermütze fehlt. Goldmann trägt zunächst eine Art hellen, seidenen Hausanzug, später ein weißes Tütü-Kleid samt Schwanenhals wie ehedem Björk: die Radikalfeministin als Popstar. Diese Bildsprache wird durch das Spiel von Goldmann wie der anderen Schauspieler ideal unterstützt. Ihr Ausdruck setzt nur selten auf Einfühlung. Vielmehr werden die Motive und politischen Anliegen artikuliert, ohne eine psychologisierende Erklärung zu präsentieren. So entstehen immer wieder neue Szenen, die durch projizierte Ausschnitte aus Solanas SCUM-Manifest ergänzt werden, ohne dazu eine eindeutige Haltung einzunehmen.

Tötet die Männer!

Einige Zuschauer lachen zu Beginn noch verlegen, da die Forderung des Manifests zu hören und zu lesen ist, dass alle Männer vernichtet werden sollen. Bald schon aber versteht jeder, wie ernst es Solana damit war. Schäfers Inszenierung fordert dazu heraus, das nicht gleich als eine radikale Phantasie abzutun, ohne dafür Partei zu ergreifen. Ästhetisch wie politisch herausfordernder kann man ein Festival, das sich in diesem Jahr das Motto "Macht*Spiel*Geschlecht" gegeben hat, kaum eröffnen.

Spieltriebe 2 280 Kai Bremer uVor Beginn der Routen-Laufens
© Kai Bremer
Wie bei den Spieltrieben üblich, teilen sich die Zuschauer im Anschluss an die Eröffnungsinszenierung auf fünf, sich nicht kreuzende Routen auf. Selbst diejenigen, die an allen drei Festivaltagen dabei sind, können also nicht alles sehen. Wir haben uns für die rote Route "Blutige Erinnerungen" entschieden, nicht zuletzt wegen des für das Motto so einschlägigen Monologs "Dienstags bei Kaufland" von Emmanuel Darley.

Als Mann geboren

Marie-Pierre (Christina Dom) besucht jeden Dienstag ihren verwitweten Vater, macht bei ihm sauber und geht mit ihm zu Kaufland. Für den Vater ist das aber kein Glück, denn seine Tochter wurde als Jean-Pierre geboren. Die Geschichte von Marie-Pierre und ihrem Vater ist von vielen Enttäuschungen geprägt.

Doch so bedrückend das Verhältnis der beiden zueinander ist, Nina de la Parra inszeniert es zunächst eher leicht. Dom darf in bester Castorf-Manier kalauern. Wenn sie sich auf ihre hochhackigen Schuhe erhebt, darf ein Hinweis auf Melania Trumps Pumps vor dem Abflug ins texanische Hochwassergebiet nicht fehlen. Als es um Freundschaft geht, rekrutiert Dom / Marie-Pierre kurzerhand drei Zuschauerinnen als Rachel, Monica und Phoebe aus der Sitcom "Friends", um sich von ihnen erklären zu lassen, wie man sich schminkt. Dass alle drei Zuschauerinnen nach eigenem Bekenntnis nur bedingt Erfahrung damit haben, steigert noch die Situationskomik.

Klug die Schmonzette vermieden

Diese Leichtigkeit steht im Kontrast zu den trostlosen Räumlichkeiten. Gespielt wird in einer schon länger leerstehenden ehemaligen Drogerie mitten in der Fußgängerzone. Berit Schog hat den leicht verwinkelten Raum mit zahlreichen Requisiten dem ersten Eindruck nach eher sinnlos aufgefüllt. Ein Teil ist mit Absperrband abgetrennt, dahinter liegen Beerdigungskränze. Neben einem Pfeiler steht ein Waschbottich, kleine Schilder mit Zahlen markieren auf dem Boden Stellen wie in einem Tatort, nachdem die Spurensicherung angerückt ist. An verschiedenen Wänden hängen Bilder, die zum Teil Kindheitsfotos sind, zum Teil Transgender-Geschichten thematisieren.

dienstags bei kaufland 3 uwe lewandowski uDienstags bei Kaufland: Christina Dom  © Uwe LewandowskiImmer wieder kommt dabei zwar eine Ahnung auf, dass das Stück noch eine Pointe bereithält. Doch durch die Bühne und Doms pointenreiches Spiel wird von diesem Gedanken immer gleich wieder abgelenkt. Erst zuletzt wird offenbar, dass Marie-Pierre als Prostituierte arbeitet und von einem Freier ermordet wird. Darleys Monolog hat angesichts dieser Wendung das Zeug zur Transgender-Schmonzette. Durch de la Parras assoziationsreichen Umgang mit dem Text und die Rauminstallation von Schog gewinnt die Inszenierung jedoch die Distanz, die es braucht, damit sich auch all diejenigen im Publikum dem Thema stellen können, die damit bislang nicht in Berührung gekommen waren.

Im Anschluss unterhielt sich Dramaturg Alexander Wunderlich mit der Bühnentechnikerin Heike Schmidt, die einen ähnlichen, aber eben nicht katastrophalen Lebensweg wie Marie-Pierre hinter sich hat.

Erinnerung an den Krieg

Die nächste Station auf der "Blutige Erinnerungen"-Route war die inzwischen geschlossene Käthe-Kollwitz-Schule. Hier wurde das schon erwähnte Rechercheprojekt "Ins Blaue" gezeigt. Es basiert auf den Erinnerungen von Katharina Temmeyer, die seit 75 Jahren in Osnabrück Abonnentin ist und 1941 die Operette "Maske in Blau" wiederholt sah, bevor das Theater durch Bombardierungen weitgehend zerstört wurde.

Frau Temmeyer sitzt in der ersten Reihe und wird von der elegant in schwarz gekleideten und Steppschuhe tragenden Johanna Franke begrüßt. Doch wer nun eine umfassende Auseinandersetzung mit den Erinnerungen Frau Temmeyers, gar mit der Funktion des Theaters während des Nationalsozialismus erwartet hatte, sah sich getäuscht. Regisseur Jan Philipp Stange hat sich vielmehr entschieden, die Grenzen von Realität und Fiktion zu verhandeln, indem er Franke im Anschluss an die Begrüßung von Frau Temmeyer Notfall-Pläne ausführen und Fluchtwege in der nicht mehr brandschutzkonformen Schulaula erklären lässt. Das wird immer absurder und ermüdender. Nach einer gefühlten Ewigkeit und realen 20 Minuten folgt eine Videoeinspielung, in der Frau Temmeyer ebenso geistreich wie reflektiert ihre Erinnerungen an die Operette und das Theater Osnabrück von 1941 bis 1945 schildert.

Zum Motto gegenstrebiges Ende

In den sich anschließenden Szenen aus der Operette kommt insbesondere durch den Gesang von Hans-Hermann Ehrich für Momente eine Ahnung von deren Faszination in der Kriegszeit auf. Doch rasch fällt der Vorhang, die Mitwirkenden treten vor und dahinter leuchtet und raucht es wild. Franke gibt das Zeichen für den Notfall und alles darf an einem draußen wartenden, fröhlich blinkenden Feuerwehrwagen und ein paar Feuerwehrleuten vorbei die Schule verlassen.

Das war als Schlussgag eines Rechercheprojekts, dessen Hintergrund auch die Bombardierungen Osnabrücks sind, nicht nur billig, sondern schlicht geschmacklos. Zudem sorgt das vordergründige Spiel mit Realität und Fiktion dafür, dass das Motto der diesjährigen Spieltriebe in den Hintergrund gedrängt wird, obwohl die dargebotenen Lieder der Operette hinreichend Material für die Auseinandersetzung mit "Macht*Spiel*Geschlecht" geliefert hätten. Das fröhlich-bunte Treiben auf der Bühne und im Parkett nach der Rückkehr ins große Haus machte das Motto der 7. Spieltriebe schließlich endgültig vergessen. Welch großes Potential es bereithielt, haben die Inszenierungen von Marlene Anna Schäfer und Nina de la Parra gezeigt.

 

Spieltriebe 7. Festival für zeitgenössisches Theater

Valerie Solanas, Präsidentin von Amerika!
von Sara Stridsberg
Deutsch von Jana Hallberg
Deutsche Erstaufführung
Regie: Marlene Anna Schäfer, Bühne und Kostüme: Marina Stefan, Dramaturgie: Jens Peters.
Mit: Marie Bauer, Niklas Bruhn, Maria Goldmann, Cornelia Kempers, Andreas Möckel.
Dauer: 1 Stunde 5 Minuten.

Dienstags bei Kaufland
von Emmanuel Darley
Deutsch von Klaus Gronau
Deutsche Erstaufführung
Regie: Nina de la Parra, Bühne, Kostüme: Berit Schog, Dramaturgie: Alexander Wunderlich. Mit: Christina Dom.
Dauer: 55 Minuten.

Ins Blaue
Rechercheprojekt
Uraufführung
Regie: Jan Philipp Stange, Bühne, Kostüme: Josephine Hans, Video: Jakob Engel, Dramaturgie: Elisabeth Zimmermann.
Mit: Johanna Franke, Katherina Nakui, Neven Del Canto, Hanns-Hermann Ehrich, Wladimir Krasmann (Klavier).
Dauer: 50 Minuten.

www.spieltriebe-osnabrueck.de

 

Kritikenrundschau

Nichts sei "anstößig oder privatistisch" dahergekommen in den dreizehn Produktionen, schreiben Christine Adam, Daniel Benedict und Anne Reinert auf der Website der Neuen Osnabrücker Zeitung (3.9.2017), das habe am Konzept gelegen, welches "das Genderthema historisch von frühen Emanzipationskämpfen herleitete". Damit habe sich das Festival aber leider auch "zum Gutteil selbst die Zähne" gezogen: Der Radikalfeminismus der 60er-Jahre wie in "Valerie Solanas, Präsidentin von Amerika!" locke heute niemanden mehr "vom Fernsehsofa ins Theater". Trotzdem sei das Anliegen "spürbar" gewesen, in einer "liberalen Demokratie nun endlich auch Transgendermenschen von Stigmatisierung zu befreien". Ruhig noch mehr Stücke hätten davon erzählen können, "wie sehr schon allein das biologische Geschlecht ein Korsett ist". Darin stecke "das Hochpolitische des Themas", aber auch in "den neuen Tendenzen zu Intoleranz und archaischen Geschlechterrollen". Das Festival habe gezeigt, das Osnabrücker Theater sei zu viel "spontaner Spiellust und Wandelbarkeit" in der Lage.

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