Schlachtfelder der Kapitalismuskritik

von Leopold Lippert

Wien, 9. September 2017. Mit blonder Langhaarperücke und einer dicken Schicht Goldfarbe im Gesicht erzählt Sabine Haupt im Wiener Akademietheater vom Ende der Welt. Nicht apokalyptisch, mit Erdbeben und Sintflut, sondern bloß nüchtern naturwissenschaftlich. Von der Sonne, die sich im Laufe der nächsten Millionen Jahre immer weiter aufblähen wird, und von der Erde, die dann aus heißer Lava bestehen wird, ohne jedes Leben. "Wir werden verschwunden sein", resümiert sie trocken. Und hinter ihr macht eine Wand aus hunderten Glühlampen (Bühne: Thea Hoffmann-Axthelm) überdeutlich, wie das dann sein wird: erst ein matter Glühfadenschein, schließlich hell strahlend mitten in die überforderten Zuschauer*innenaugen hinein.

Fadenscheinige Versprechen der Kunst

Nach solch allgemeiner Endzeitstimmung wirkt die eigentliche Geschichte, die Thomas Köck in seinem "paradies fluten: verirrte sinfonie" erzählt, bloß wie eine schmerzliche Fußnote. In einer Art postkolonialem Lehrstück verzahnt Köck die brutale Ausbeutung der indigenen Bevölkerung im Amazonasgebiet während des Kautschukbooms der 1890er Jahre mit einer deutschen, KFZ-unternehmerischen Familiengeschichte der Gegenwart – neoliberale Selbstausbeutung bis an den Rande der Existenz inklusive. Das ergibt schöne Assoziationsfelder der kalauernden Kapitalismuskritik: Gummi, Autoreifen, Flexibilität, Individualverkehr, Klimaerwärmung – oder: "Ein Naturprodukt, das von der Natur nicht mehr zurückgenommen werden kann, aber mittlerweile automatische Spurkorrektur erlernt."

paradiesfluten1 560 Georg Soulek uArchaische Rituale, zerdehnte Rituale des Erinnerns: auf der Bühne von Thea Hoffmann-Axthelm.
© Georg Soulek

Dazu mischt Köck das fadenscheinige zivilisatorische Versprechen der Kunst: In Brasilien will der Architekt Felix Nachtigal (Philipp Hauß) erst ein gigantisches Opernhaus und schließlich gleich einen souveränen Indio-Staat bauen. Und in der Gegenwart verkauft die Tochter (Aenne Schwarz) des "vogelfreien Mechanikermenschen" (Peter Knaack) nach dem Schlaganfall des Vaters schnellstens das Familienheim, um ihre bisher ausschließlich "auf Honorarbasis" verlaufende Tanzkarriere für ein paar Jahre "querfinanzieren" zu können.

Regisseur Robert Borgmann scheint allerdings weder an Köcks Fitzcarraldo-Versatzstücken noch am neuen Geist des Kapitalismus oder dem Nachdenken über Kolonialismus und Kapital im langen 20. Jahrhundert besonders interessiert. Fast lieblos werden die entprechenden dialogischen Szenen abgespult: die Familienstreitereien (Peter Knaack und Katharina Lorenz), die Szenen über sexuelle Kommodifizierung und Ausbeutung von Frauen im Amazonasgebiet (Marta Kizyma als halbnackte Indigene, Nancy Mensah-Offei und Marie-Christiane Nishimwe im Glitzerröckchen tanzend), und die hysterischen Rassismen der Gummibaronin/Entwicklungshelferin (Sylvie Rohrer) werden mit Ironie gefällig gemacht, und mit klischeehaftem Körpereinsatz banal.

Theatersprache der Katastrophe

Was Borgmann dagegen an "paradies fluten" zu faszinieren scheint, ist die allgemein-menschliche, gar kosmologische Dimension des Stücks. Für jene apokalyptischen und doch gegenwärtigen Passagen, in denen Köck eine "Materialflut" aus geschundenen Menschen und verschrottetem Elektromüll beschwört, und die "Postparzen" (Sabine Haupt, Alina Fritsch) das Ende der Welt prophezeien lässt, findet Borgmann eine überzeugende Theatersprache der Katastrophe, die den Abend über so manch verpasste Chance auf einen schlauen Gummi-Regieeinfall hinwegrettet.

Borgmanns letzte Dinge sind nicht spektakulär, nie Exzess, sondern minuziöse Kleinarbeit. Er lässt keine Windmaschinen auffahren, keinen stürmischen Platzregen aus dem Schnürboden prasseln, ja nicht mal Requisiten fliegen durch den Raum. Stattdessen vereinzelt Pfützen, in die manchmal ein Tropfen knackt, und ein großes weißes Segel, das sich langsam bläht, bis es den ganzen Bühnenboden bedeckt, und ebenso langsam zusammenzieht, bis es als loses Bündel vom Schnürboden hängt. Mit ritualhafter Langsamkeit müssen sich zu Beginn alle Schauspieler*innen aufreihen, um nacheinander mit nasser Erde und Blut beschmiert zu werden, samt einer Extrastaubwolke als Finish. Und zu zaghaften Stroboskopblitzen, an- und abschwellendem Sonnenlicht, und gemächlich knarzendem Elektrobeat (Musik: Philipp Weber) tanzen sie dann, oder wälzen sich im Schlamm. Es sind schaurige, beinahe archaische Kämpfe ums Überleben, zerdehnte Rituale des Erinnerns nach dem Weltuntergang; jedenfalls kein realistisches Streiten um Kautschuk und Fixanstellung.

paradiesfluten2 560 Georg Soulek uDie Tochter des Mechanikers will Tänzerin werden: Aenne Schwarz. © Georg Soulek

Vielleicht gibt Borgmann auch deswegen dem Schlaganfall des Familienvaters viel dramatischen Raum: weil hier die Apokalypse im Individuum stattfindet. Weil hier der Mensch beginnt, seine eigene Existenz zu vergessen, auszulöschen. Borgmann setzt Peter Knaack ins warme Sonnenlicht, genau zwischen zwei Glühbirnenpaneelen, und lässt ihn verwundert plaudern, über "verstopfte Arterien, abgestorbene Neuronen", und über "Proteinablagerungen, die jetzt von der Schädeldecke herabfallen". Das ist berührend. Und im Kontrast zu dem parallel ablaufenden Gezänk von Mutter und Tochter in Rokoko-Kostümen unglaublich intim. Doch die Lücke zwischen (post)moderner Kapitalismuskritik und allumfassender Menschheitserzählung kann auch der sentimentale Rückgriff auf das verdämmernde Individuum nur bedingt schließen.

 

paradies fluten: verirrte sinfonie
von Thomas Köck
Österreichische Erstaufführung
Regie: Robert Borgmann, Bühne und Kostüme: Thea Hoffmann-Axthelm, Musik: Philipp Weber, Video: Lianne van de Laar, Licht: Michael Hofer, Dramaturgie: Eva-Maria Voigtländer.
Mit: Sven Dolinski, Alina Fritsch, Sabine Haupt, Philipp Hauß, Leonhard Hugger (statt Tino Hillebrand), Marta Kizyma, Peter Knaack, Anna Sophie Krenn, Katharina Lorenz, Marie-Christiane Nishimwe, Nancy-Mensah-Offei, Elisabeth Orth, Christoph Radakovits, Sylvie Rohrer, Aenne Schwarz.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.burgtheater.at

 

Die Uraufführung von Thomas Köcks Stück, für das er 2016 mit dem Kleistförderpreis ausgezeichnet wurde, fand 2016 in Koopertation mit dem Staatstheater Mainz bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen statt. Regie führte Sara Ostertag.

Kritikenrundschau

Mehrere Untergänge seien zelebriert worden – familiäre, koloniale und neoliberal-prekäre. "Die 15 Schauspieler haben sie mit großem Körpereinsatz und voll Intensität gemeistert", schreibt Norbert Mayer in der Presse (10.9.2017). Das Zusehen strengte wegen der Reizüberflutung durch all die Bilder, Tänze, Gesänge und Botschaften an. Manchmal sei es eine Kunst gewesen, dem komplexen Text zu folgen. "Man hört nicht nur äußerst gelungene Phrasierungen, die an Elfriede Jelineks irre Sprachverspieltheit erinnern, sondern auch so manche Phrasen, die entbehrlich scheinen. Noch etwas mehr Spiel und ein etwas strafferer Text wären vielleicht besser."

"Eine steile Vorlage" sei Köcks Stück, der sympathisch größenwahnsinnig Versuch, "Privates und Politisches, Kolonialismus, Globalisierung und den Klimawandel in ein Stück zu packen", so Wolfgang Kralicek in der Süddeutschen Zeitung (14.9.2017). Bei Borgmanns Bühnen-Aktionismus gehe allerdings die Struktur des durchkomponierten Textes verloren, die drei Stunden lange Inszenierung mache einen etwas unfertigen Eindruck.

"Köck gebietet über eine erstaunliche Sprachmacht", findet Ronald Pohl im Standard (10.9.2017). Allerdings gewännen seine Figuren über sich selbst Aufschluss, indem sie gegenüber der eigenen Aussagehaltung einen Sicherheitsabstand wahrten. Am Ende frage man sich: "Wen soll dieser ungemein begabt sein wollende Abend eigentlich mitreißen? - derstandard.at/2000063848183/Akademietheater-Kautschukmilch-der-frommen-DenkungsartWen soll dieser ungemein begabt sein wollende Abend eigentlich mitreißen?"

Köck gebietet über eine erstaunliche Sprachmacht. Nur möchte er nicht unbedingt beim Wort genommen werden. Also reden seine "Figuren" so, wie einem durchschnittlichen Prosaschreiber der Schnabel gewachsen wäre. Sie gewinnen über sich selbst Aufschluss, indem sie gegenüber der eigenen Aussagehaltung einen Sicherheitsabstand wahren. - derstandard.at/2000063848183/Akademietheater-Kautschukmilch-der-frommen-Denkungsart

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