Auf der Suche nach dem historischen Moment

von Elena Philipp

Berlin, 10. September 2017. Verrückt vor Volksbühne. So fühlt man sich in Berlin seit mehr als zwei Jahren. Castorf raus, Dercon rein. Altes zerschlagen, Neues wagen (frei nach Kulturstaatssekretär a.D. Tim Renner). Daraufhin Theaterstreit bis -kampf: Pro. Kontra. Kontra. Pro. Zwei Fronten, unversöhnlich. Verrückt. Wenn dann doch die Kunst in diesen Kontext kommt – wie soll man sie bitte schön noch lesen? "Objektiv" womöglich? Ein hoffnungsloser Selbstversuch: Boris Charmatz eröffnet mit seinem Tanzfest "Fous de danse. Ganz Berlin tanzt auf Tempelhof" die Spielzeit der "neuen" Volksbühne Berlin unter Chris Dercon und Marietta Piekenbrock.

"Fous de danse", tanzversessen: Das ist ein Statement. Für eine Kunstform, die manchen bloß als Herumgehüpfe gilt, obwohl sie so voraussetzungsreich ist wie jede andere. Ganz Berlin tanzt: eine Behauptung des öffentlichen Raums, in dem alle willkommen sind, alt, jung, groß, klein, mit neuvolksbühnenrotem T-Shirt oder Jacke mit Bert Neumanns Räuberrad am Rücken. Tanzverrückt, das ist auch eine Einladung ans Publikum, denn jede*r ist ein*e Tänzer*in, so das Credo von Charmatz.

Mitmach-Tanztheater

Erstaunlich hoch ist denn auch nach seiner – wiewohl ballettmeisterlich strengen – Charme-Offensive die aktive Beteiligung, sowohl beim mittäglichen Aufwärmen als auch bei seiner Choreographie "Levée des conflits", deren Besetzung am Nachmittag spontan aus Freiwilligen gecastet wird. An die 150 Profis und Laien, Seit an Seit im Tanz – Rollen, Springen, Hintern hoch, nur nicht so scheu! –, das ist ein wunderlicher Anblick, der auch dem Asphalt vor dem ehemaligen Zentralflughafen Tempelhof neu sein dürfte. Momentweise fragt man sich angesichts der willfährigen Leiber, ob der Massentanz nicht ein bisschen zu gut zur monumentalen Nazi-Bau-Kulisse passt.

Fousdedanse1 Public warm up 560 Barbara Braun u"Public Warm-Up" mit Boris Charmatz (vorne links) © Barbara Braun

Neben einem anspruchsvollen Exercise bietet Charmatz beim "Public Warm-Up" auch einen Einblick in Tanzästhetiken des 20. Jahrhunderts – eine Spur, der "Fous de danse" programmatisch folgt. Isadora Duncan, Mary Wigman, Vaslav Nijinsky, George Balanchine, am eigenen Leib erlebt. Und eine Ahnung gewonnen, wie sich eine ästhetische Linie von Nijinsky über Balanchine zu William Forsythe zieht. Forsythes "Catalogue (First Edition)" ist denn auch wenig später zu sehen, gleich nachdem die kaum jugendliche Imane Alguimaret – Tänzerin schon in Charmatz' Avignon-Auftragswerk "enfant" von 2011 – eine Annäherung an Isadora Duncans Solo "Revolutionary Study" performt hat.

Be bunt. Be beliebig?

"Catalogue" ist bei Brit Rodemund und Christopher Roman eine fast statisch am Platz ausgeführte Abfolge von Armgesten und Torsionen des Oberkörpers, weich geführt, mechanisch präzise und immer komplexerer, als würden sie die architektonischen Verstrebungen und Verspannungen in ihren Körpern testen. Nach diesem intensiven Duett wandert die noch stetig wachsende Zuschauerschaft ein paar Meter weiter, um zu begutachten, wie weit sich Forsythe von seinen klassischen Wurzeln entfernt hat: Elevinnen der Staatlichen Ballettschule Berlin tanzen einen Auszug aus dem Handlungsballett "Le Corsaire", in Turnschuhen, T-Shirts und tighten Jeans ganz Anmut, Leichtigkeit und taffes Lächeln. Ihre Walzerseligkeit wird von harten Beats gebrochen, denn jetzt zeigen die Hip Hop Kids der Flying Steps Academy ihr Alphabet des Urban Dance.

HipHop 560 UrsulaKaufmann(Berlin) Street-Style – die "Hip Hop Kids" © Ursula Kaufmann

Be bunt. Be beliebig. Be Volksbühne Berlin? Jein. Einerseits haben sich die beteiligten Berliner Institutionen wohl um die Teilnahme bewerben können. Andererseits legt Charmatz etliche tanzhistorische Fährten in diesen ersten Stunden von "Fous de danse" und entfaltet eine Kartographie der Bezüge: Die komplexen Raumwege von Lucinda Childs fußgängerisch entspannt dargebotenem "Calico Mingling #1" (1973) – Kreise, Linien und Pendelschwingungen – meint man in Anne Teresa de Keersmaekers "Chaconne" (einem Teil von "Partita 2", 2013) wiederzuerkennen, ihrem innigen Duett mit Charmatz himself, das die beiden schreitend, springend, rennend auf vier einander schneidenden Kreisbahnen ausführen.

Museum des Tanzes

Die Nijinsky zugeordneten Stampfbewegungen aus Charmatz' Aufwärmtraining sieht man im "Sacre" wieder, den 44 Kinder und Jugendliche aus Rennes interpretieren (was vor der Tempelhof-Kulisse wiederum daran gemahnt, wie die Nazis die Tanz-Avantgarde deformiert haben). Und die Idee der Mitmach-Choreographie ist auch schon älter: Raphaëlle Delaunay erinnert im "Berlin Solo Forest" an Pina Bauschs "Nelken"-Reihe, die genauso Selfie-tauglich ist wie Charmatz' Tempelhof-Event.

Catalogue 560 BarbaraBraunBrit Rodemund und Christopher Roman mit William Forsythes "Catalogue (First Edition)"
© Barbara Braun

Tanzgeschichte ist ein Steckenpferd des französischen Choreographen, der noch bis 2018 das Centre Chorégraphique National de Rennes leitet. Mit seinem Amtsantritt 2009 benannte er es kurzerhand in "Musée de la danse" um, eine Idee und ein Label, unter dem der 44-Jährige seither produziert. Ein Museum des Tanzes, das klingt erst einmal paradox: Wie ließe sich der ephemere Tanz in ausstellbarer Form fixieren? Nun, für "Fous de danse" reiht Charmatz ein choreographisches Readymade ans andere, flüchtige Ausstellungsobjekte, die sich für den Moment im Tänzerkörper materialisieren. Frank Willens etwa lässt im Wald der Soli seine Erfahrung als Tänzer Revue passieren: Mit Laurent Chétouane, damals noch Theaterregisseur, erarbeitete er 2007 "Tanzstück #1: Bildbeschreibung von Heiner Müller", das er nun mit Bewegungsmaterial von Tino Sehgal kreuzt, für den er in Museen tanzt.

Keine Neu-Erfindung

Derart verstanden, ist "Fous de danse" eine durchaus gelungene Reflexion auf die Vielfalt von Tanz, auf seine Geschichte und sein Potenzial, Gemeinschaft herzustellen. Immerhin bis zu 7.000 Besucher*innen gleichzeitig und 15.000 insgesamt vermeldet die Volksbühne nach dem Event. Nur hat man das, auch in Berlin, schon besser gesehen von Charmatz. 2014 erst adaptierte er am Sowjetischen Ehrenmal sein Konzept "20 Dancers for the XX Century" für die Berliner Festspiele (2013 war es am MoMA zu sehen und 2015 an der Tate Modern unter, voilà, Chris Dercon). Stringenter erschien dort der tanzhistorische Aspekt, noch konzentrierter und gelöster die Atmosphäre, kein Volksfest fraß sich in die Kunst.

"Fous de danse" – das Charmatz bereits im Mai ortsspezifisch in Rennes inszeniert hat – ist also mitnichten der "Strawinsky-Moment", den Marietta Piekenbrock bei der Pressekonferenz zur Volksbühnen-Eröffnung ankündigte. Neu erfunden wird hier nichts. Und leise bohrt die Frage, ob sich Boris Charmatz, einer der innovativsten Choreographen derzeit, nicht allzu sehr vor den Karren der neuen Volksbühne hat spannen lassen. Und warum für dieses Experiment ausgerechnet die Castorf-Volksbühne hat weichen müssen – ein weites Feld.

Fous de danse
Ein Projekt von Musée de la danse / Boris Charmatz
Mit: Boris Charmatz, Imane Alguimaret, Brit Rodemund und Christopher Roman, Schülerinnen der Staatlichen Ballettschule Berlin, den Hip-Hop Kids, angeleitet von Samir Nikolic, Ruth Childs,
Anne Delahaye, Anja Schmidt, Pauline Wassermann, 44 Kindern aus Rennes, Mithkal Alzghair, dem BEM Folk Dance Ensemble, dem Konservatorium für türkische Musik Berlin (BTMK), Ligia Lewis, Paula Pi, Raphaëlle Delaunay, Hermann Heisig, Johanna Lemke, Felix Ott & Bahar Temiz, Jone San Martin, Julian Weber, Frank Willens, Raphael Hillebrand, Marie Houdin, Anne Teresa De Keersmaeker, dem P14 Jugendtheater der Volksbühne und Berliner Jugendlichen.
Dauer: 10 Stunden, variable Pausen

www.volksbuehne.berlin

 

Mehr zum tanzfokussierten Neustart der Volksbühne – im Mai 2017 stellten Elena Philipp und Astrid Kaminski dar, wie die Berliner Tanzszene auf Dercons Konzeption reagiert.

 

Kritikenrundschau

"Nicht um Perfektion, nicht um fertige Kunst, nicht um das Abgeschlossene ging es an diesem ersten Tag der neuen Volksbühne, sondern um Streuung, Öffnung, Geschehenlasse", schreibt Katrin Bettina Müller in der taz (12.9.2017). Den Tanz an den Anfang zu stellen bleibe jedoch eine symbolische Geste. "Berlin kennt große Raves und öffentliches Tanzen als Demons­trationsform." Besser sei es, "Fous de danse" als einen "freundlichen und netten Empfang zu sehen, aber auch als einen Beginn, aus dem man noch nicht besonders viel herauslesen kann".

Als Tänzerin sei sie immer die Fleisch gewordene Verbindung von Kontrolle und Launenhaftigkeit geblieben. "Heute aber, an diesem lang erwarteten, ungeheuer vorbelasteten Eröffnungstag (...) den viele verwünschen und noch mehr zweifelten, dass er überhaupt so stattfinden wird, an diesem Tag lacht Anne Teresa De Keersmaeker während der 15 Minuten, die ihr Solo dauert, immer wieder", schreibt Elisabeth Nehring in der Berliner Zeitung (12.9.2017). Dieser seltene Moment stehe sinnbildlich für diese Marathonveranstaltung "mit ihrer irre guten Laune, ihren heftigen künstlerischen Auf und Abs, ihrer großen, offenen Einladungsgeste an alle". Das Konzept dieses "Fous de danse" könne man harmonieeifrig finden oder als vergnügungssüchtig oder zu leichtfüßig abtun. "Sinnfrei ist es nicht. Auch wenn der Tag aus lauter schönen Splittern bereits existierender Produktionen bestand."

"Dercons Team ist entspannt gestartet, erwartungsgemäß ohne Grußwort des Kultursenators, überraschenderweise ohne weitere Anti-Kundgebungen", so Dorion Weckmann in der Süddeutschen Zeitung (12.9.2017). "'Fous de danse' verführte die ewig miesepetrige Hauptstadt sehr erfolgreich zu Amüsement und Kunstteilhabe", auch wenn Dercon die Antwort nach den künftigen Adressaten seines Theaters schuldig geblieben sei. "Der Einstand ist geglückt (...) Und dann? Auf Dercons erster Spielzeit lastet enormer Druck, das Leitungsteam steht unter Dauerbeobachtung. Aber einstweilen haben Dercon und Piekenbrock mit "Fous de danse" ein versöhnliches Zeichen gesetzt. Darüber sollte niemand hinwegtrampeln."

a De Keersmaeker zu Recht Weltberühmtheit erlangt, als Tänzerin ist sie immer die Fleisch gewordene Verbindung von Präzision und Lässigkeit, Kontrolle und Launenhaftigkeit geblieben. Häufig hat man sie schon stirnrunzelnd oder sogar leise schimpfend beim Tanzen auf der Bühne erlebt, doch kaum je lachend.

Heute aber, an diesem lang erwarteten, ungeheuer vorbelasteten Eröffnungstag einer hochumstrittenen neuen Intendanz, an diesem Tag, den viele verwünschen und noch mehr zweifelten, dass er überhaupt so stattfinden wird, an diesem Tag lacht Anne Teresa De Keersmaeker während der 15 Minuten, die ihr Solo dauert, immer wieder – und dieser seltene Moment steht irgendwie sinnbildlich für diese ganze zehnstündige Marathonveranstaltung mit ihrer irre guten Laune, ihren heftigen künstlerischen Auf und Abs, ihrer großen, offenen Einladungsgeste an alle.

Von jedem für jeden

Das Konzept dieses „Fous de Danse“ des französischen Choreografen Boris Charmatz ist schnell klar: Hier geht es nicht um Höhepunkte, nicht um Exklusivität, nicht um High End oder sonst eine Form künstlerischen Strebertums. Hier soll getanzt werden – und zwar von jedem für jeden, und deswegen stehen neben einer Anne Teresa nicht nur Frank Willens, Ligia Lewis, Felix Ott und viele andere fabelhafte Tänzer und Tänzerinnen der freien Berliner Szene auf dem Beton des Flugvorfeldes, nicht nur Brit Rodemund und Christopher Roman vom Dance On Ensemble und nicht nur der beeindruckende syrische Tänzer Mithkal Alzghair, sondern auch die Zuschauer selbst.

Wirklich viele von den 2000-3000 in der Partystoßzeit zwischen 13 und 18 Uhr ständig Anwesenden haben die Giant Soul Train, die Dance Circles und alle anderen Kollektivtanzgelegenheiten freundlich bis ekstatisch angenommen und mitgefeiert.

Tourismuskampagne

Zwischendurch tanzte das BEM Folk Dance Ensemble und die Elevinnen der Staatlichen Ballettschule. Klar geriet man bei den leicht monumentalen, pathetisch aufgeladenen türkischen Volkstänzen ins Grübeln über Genderklischees, und der Auftritt der zukünftigen Balletttänzerinnen in wirklich sehr schicken Jeans und Sneakers erinnerte nicht nur von Ferne an eine mittelstädtische Tourismuskampagne.

Aber irgendwie muss man das alles im – beinahe hätte hier Totalzusammenhang gestanden – im Zusammenhang sehen, und dann ergibt es schon wieder Sinn. Denn, wie schon Rudolf von Laban wusste, jeder Mensch ist ein Tänzer und deswegen war hier jeder Tanz und jeder Tänzer gefragt – ungeachtet seiner Herkunft, Hautfarbe, politischen und sexuellen Orientierung sozusagen.

Es hat seinen Sinn

Das Konzept dieses „Fous de danse“ kann man harmonieeifrig finden oder als vergnügungssüchtig oder zu leichtfüßig abtun. Sinnfrei ist es nicht. Auch wenn der Tag aus lauter schönen Splittern bereits existierender Produktionen bestand, und auch als Veranstaltungsformat schon in Rennes zu erleben war: Hinter dem Spaß lässt sich eine strenge und doch geschmeidige Dramaturgie entdecken und auf der Metaebene eine in der Volksbühne bisher nicht voll ausgelebte, in der Welt und im alltäglichen Umgang aber nicht ganz falsche Menschenfreundlichkeit.

Dennoch ist absehbar: dieses gelungene, bestens komponierte Fest wird an der Causa Volksbühne erst einmal nichts ändern. Nicht den stattgefundenen Verlust wettmachen und nicht die Kritik an der neuen Intendanz zum Schweigen bringen. Die Mischung aus Ensembleschwund, erschreckend ausgedünntem Spielplan und Premierenmogelpackungen bei luxuriöser Finanzausstattung wiegt einfach zu schwer. Und auch das Warten auf das groß angekündigte Neue, die eigene Handschrift des Hauses, dauert an.

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– Quelle: http://www.berliner-zeitung.de/28392356 ©2017

Ein harmloser Tag, "durchaus abwechslungsreich, auch unterhaltsam, mit einer Animation besser als an jedem Hotelpool. Aber an sich eben doch ganz und gar bescheiden", schreibt Simon Strauss in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (12.9.2017). "Frank und frei, ohne schweres Ideologie-Gepäck. Die Masse macht's – Diversität präsentieren, Genre-Auflösung propagieren." Man kenne das aus den verschiedenen Berliner, aber auch sonstigen Festspielen und ist gar nicht überrascht, auch nicht verärgert. Fazit: "Ein schöner, sorgenloser Tag. Das einzig wirklich Irritierende waren die Aufschriften, die man im Vorbeigehen vereinzelt auf retrograden T-Shirt-Rücken lesen konnte: 'Volksbühne Berlin' stand da in schüchternen Zügen. Aber das waren bestimmt nur irregeleitete Besucher, die hier auf der ganz falschen Hochzeit tanzten."

Boris Charmatz habe sich "in seiner Multifunktionsrolle als Massenkurator, Animateur und Physiotherapeut glänzend bewährt", schreibt Eckhard Fuhr in der Welt (11.9.2017). "Ernst wird es, wenn sich die hüpfende und zappelnde Masse Herausforderungen wirklicher Körperbeherrschung stellen soll. Auf einem Bein stehen und dabei nach hinten schauen, da steigen viele aus." Tanzverächter könnten daraus "immerhin die Erkenntnis gewinnen, wie schwer der Beruf der 'Hupfdohle' ist", so Fuhr, "aber dieses Wort werden viele nicht mehr kennen, weil es in rauchgeschwängerten Herrenzimmern heimisch war, die es nicht mehr gibt. In Castorfs alter Volksbühne hätte man auf solchen Wörtern vielleicht ironisch herumgekaut und rauchend in Bühnenherrenzimmern herumgeknarzt."

"'Fous de danse' reiht Unterschiedlichstes aneinander, zeigt mal hier etwas, mal da etwas", gibt Fabian Wallmeier auf rbb online zu Protokoll. Was wolle Dercon damit erreichen – "mal abgesehen davon, dass es offenbar die banale Erkenntnis zu streuen gilt, dass Tanz ja ganz schön viele Formen hat?" Der Tanzgeschichte neue Perspektiven abzuringen, funktioniere nur in manchen Fällen, so Wallmeier. "Eine andere Möglichkeit: Dercon und Charmatz möchten einfach möglichst viele Berlinerinnen und Berliner ansprechen, mit einem Da-ist-für-jeden-was-dabei-Großprogramm in leichten Häppchen." Das sei "ein freundliches Signal zum Einstand, als künstlerisches Eingangs-Statement aber zu dürftig".

"Charmatz eröffnete das zehnstündige Tanzevent − so etwas wie ein bunter Strauß von vielfältigen Tanznummern, hochkarätigen Choreografie-Ausschnitten und Darbietungen von Kinder- und Jugendtanzgruppen − mit einer sehr charmanten, ironisch moderierten Erwärmung", schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (11.9.2017), bekennt, nicht mitgetanzt zu haben und kündigt einen weiteren "tanzkritischen Bericht über die Höhepunkte, die am späteren Sonntagabend noch zu erwarten waren" an.

"So viel gute Laune, das passt doch nicht hierher, das ist doch geradezu eine Provokation!", schreibt Rüdiger Schaper im Tagesspiegel (11.9.2017). Tempelhof, die neue, temporäre Spielstätte des Dercon-Theaters, übe auf das Publikum eine starke Attraktion aus. "Aber das Geld, das dafür eigentlich notwendig wäre, hat Dercon nicht bekommen." So bleibe Tempelhof ein Abenteuer, ein Provisorium, ein Experimentierfeld. "Gut so vielleicht", so Schaper. "Dercons Kritiker halten sein Programm für glatt und austauschbar." Dieser Eindruck vermittele sich zum Auftakt nicht. "'Fous de danse' hat Charme und Kraft."

Dercon (...) hat Glück mit dem Wetter am Eröffnungssonntag, und die Menge, die abends auf dem Feld herumgegeistert sei, habe "zaghaft zunächst und dann doch zunehmend entschlossener mitgetanzt", schreibt Dirk Peitz auf Zeit online (11.9.2017). "Ob sie wiederkommen, aufs Tempelhofer Feld wie später ins Theater am Rosa-Luxemburg-Platz, wird sich herausstellen. Und auch, ob sie dort mehr erwartet als schöne Bilder, eine Gegenwartsanalyse zum Beispiel, die sich nicht nur in den Stanzen der Kuratorenlaberei äußert." Dercon sei am Sonntag zu sehen gewesen, "Castorf nicht, natürlich nicht. Mehr ist erst mal nicht passiert."

"Es waren strenggenommen keine Ur- und Erstaufführungen zu sehen. Es gab kein Sprechtheater. Und es war ein Event", schreiben Anke Dürr und Wolfgang Höbel auf Spiegel online (11.9.2017). "Als Suche nach der Begründung eines neuen, launigen Volksbühnengedankens, den man möglicherweise sogar tanzen kann, war das Volksfest auf dem Tempelhofer Feld am Sonntag gleichwohl ein Erfolg. Eine Mischung aus Tag der offenen Tür, Rave, Kindergeburtstag, Anschauungsunterricht in Tanzgeschichte und Mitmachtheater." Der große Berliner Theaterstreit sei für ein paar Stunden vergessen worden. Höhepunkt des langen Tages sei das finale Solo von Anne Teresa de Keersmaeker gewesen, so Dürr und Höbel: "Dieses Solo mag 35 Jahre alt sein, an diesem Sonntag war es die kühle, gelassene Eroberung der Tempelhofer Betonbühne – und eine Demonstration dafür, wie intuitiv, unaufdringlich und universell Tanz nicht als einzige, aber als gültige Theatersprache funktionieren kann."

Einen "neuen Volkshochschulspirit der Volksbühne" hat Christine Käppeler vom Freitag (13.9.2017) in Tempelhof erlebt. "Was fehlte, waren bis auf ein paar wenige Ausnahmen – Mithkal Alzghairs eindrückliches Solo 'Displacement' wäre so ein Beispiel – Konflikte, Brüche oder auch schlicht Herausforderungen. Reibung entstand nur, wenn die Körper der Tanzenden mit dem körnigen Betonboden des Vorfelds in Berührung kamen."

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