Der Boden ist los

von Gabi Hift

Wien, 10. September 2017. Nach vier Tagen Aufschub (die Premiere sollte usprünglich am 6. September stattfinden) geht der Lappen doch noch hoch – und wir sehen "Pyramus und Thisbe". Leander Haußmann hat die Szene zu einem hochkomischen, tieftraurigen Juwel gemacht. Jeder kennt die Geschichte: Eine Laientheatertruppe bestehend aus reifen Herren probt im Wald ein Stück für eine Hochzeit – mit Liebe, Tod, Mond und einem Löwen. Mitten im Dialog wird Zettel, der Hauptdarsteller, von einem Waldgeist entführt, in einen Esel verwandelt und beglückt die Elfenkönigin mit seinem Eselsschlong. Am nächsten Morgen hält er's für den seltsamsten Traum seit Menschengedenken.

Die Herren in der Theatertruppe, hier sind's Alt-68er, sind alle großartig, aber Johann Adam Oest als Zettel ist eine regelrechte Sensation. Seine Sätze und Gesten sind so einfach, direkt und von so vollkommener Wahrhaftigkeit, wie man es am Theater nur alle heiligen Zeiten sieht. Auf Englisch heißt die Figur "Bottom", was "Arsch", "Boden", "Tiefe" und "Kern" bedeutet. Und wirklich schaut man durch Oests Spiel tief in das Unheimliche und Unbegreifliche und Wunderbare des eigenen Lebens. Jemand möge über seinen Traum eine Ballade schreiben, wünscht er sich, und: "It shall be called 'Bottom's dream' because it hath no bottom." – weil der Traum bodenlos ist.

Allerdings besteht Shakespeares "Ein Sommernachtstraum" aus vier ineinander verschränkten Stücken, und die anderen drei sind an diesem Abend mehr oder weniger missglückt.

Diktatur mit Stacheldraht und Sadomaso

Die erste Geschichte ist die vom Herzog Theseus (Daniel Jesch), der kurz vor der Hochzeit mit Hippolyta (Alexandra Henkel) steht. Haußmann wollte, so steht's im Programmheft, das Herzogtum als eine nicht-säkulare Diktatur zeigen, weshalb es zu Anfang eine Mauer mit Stacheldraht gibt; Hippolyta versucht über die Mauer zu fliehen, dann ohrfeigen sich die beiden im Bett, haben offenbar eine auf gegenseitigem Einverständnis beruhende Sadomaso-Beziehung. Dann ist Theseus aber doch auch im Alltag ein übler Sadist. Sie will mal weg, mal ist's ihr egal – und den Zuschauern bald auch. Die Idee mit der Diktatur samt Mauer verschwindet im Nirvana.

Sommernachtstraum Wald 560 ReinhardWerner uZauberwald-Wandler*innen © Reinhard Werner

Jenseits der Mauer beginnt der Zauberwald. Leander Haußmann hat sich vor 25 Jahren seinen Ruf als junger Wilder ruiniert, weil es in seinem Weimarer Sommernachtstraum einen hochromantischen Wald à la Max Reinhardt gab. Der neue Wald (Bühne: Lothar Holler, Video: Hugo Reis + Jakob Klaffs) ist nun sogar noch schöner, Bäume vermischen sich mit Projektionen von Bäumen, Videogeister huschen zwischen den Zweigen hin und her, einmal läuft lautlos eine durchsichtige Herde Elefanten vorbei. Aber es sieht so aus, als hätte Haußmann sich das alles hinbauen lassen und dann das Interesse an seinem Spielzeug verloren. Die Schauspieler bewegen sich im Wald nicht anders als in der Stadt und folgen der Regel: Text wie Wasser und nicht an die Bäume stoßen. Die einzigen Gefahren, die hier lauern, sind Stechmücken. Und die Spieler werden von einer brutalen Bonbonbeleuchtung verfolgt, die jedes Zwielicht vernichtet.

Gegängelte Normalos im Zauberwald

Die Geister, die den Wald bewohnen, sind eigentlich keine. Oberon (Johannes Krisch) und Titania (Stefanie Dvorak) sind ein gewöhnliches Paar im mäßig lustigen Ehestreit. Elisabeth Augustin muss in einem schäbigen Flatterfetzen durch den Wald hoppeln und demonstrieren, wie antiquiert Elfen sind. Christopher Nell als Puck im geringelten Stricktrikot ist ein gequälter, geknechteter Angestellter von Oberon, mehr Caliban als Puck, in ständiger Angst vor Bestrafung, permanent am Rand der Panikattacke. Im ganzen Wald gibt es keine mutwilligen, lustigen, amoralischen Geister, nur gegängelte Normalos. Keine anderen Gesetze, keine Anarchie, keine Traumwelt.

Die Liebespaare, die vor Hermias strengem Vater in den Wald geflohen sind, laufen dann auch mehr oder weniger wurschtig herum. Ausstaffiert sind sie im 70er Jahre Stil, aber das hat ihnen nur Schlaghosen eingebracht und weder Sex noch Drugs noch Rock ’n’ Roll. Erst im Hass erwachen wenigsten die beiden Herren zum Leben. "Du schwarze Schlampe" rutscht es Lysander heraus, kurze Zeit sind die beiden jungen Männer fassungslos, was da für politisch unkorrekte Sachen aus ihren Mündern herauskommen. Dann findet Lysander (Martin Vischer) auf einmal zu sich selbst und kanzelt Hermia mit einer solchen Verachtung ab, dass es einem kalt den Rücken hinunterläuft. Aber was auf den ersten Blick feministisch daher kommt – die Männer haben doch einen Kern, und der ist purer Frauenhass – ist es nicht. Denn die Frauen haben gar nichts im Inneren, bleiben Pudding ohne Herz und Gesicht, während die Männer wenigstens kurz zu echten Menschen erwachen dürfen.

Dann kommt der Morgen, "jeder Hengst kriegt seine Stute, alles Gute", der (Regen-)Wald wird abgeholzt. Wäre es der Lebensraum der Geister gewesen, Heimat unheimlicher Ängste und Lüste, dann wäre das ein starker und schlimmer Moment. So wird nur Deko abgeräumt.

Eine Ahnung von Traumwelt

Aber dann – endlich! – kommt eben die Aufführung von "Pyramus und Thisbe". Die zarte Thisbe von Franz Flaut (Peter Matic) steht Zettels Pyramus in nichts nach. Wie sie immer "Kirschhof" statt "Kirchhof" sagt, wie sie ihre kleine Brust gewissenhaft hochhebt und nach der Stelle sucht, in die das Schwert zu stoßen ist, wie ruhig und grauenhaft endgültig sie stirbt. Als ausgerechnet Schnauz (Hans Dieter Knebel), der die Wand spielen soll, mit seinem besoffenen Schwanken alles gefährdet, nagelt ihm der sonst so sanfte Regisseur Peter Squenz (Martin Schwab) die Füße an den Bühnenboden. Und man denkt: Ja, das muss sein. Die Kunst ist das Wichtigste! Als Theseus den Darsteller des Mondes schikaniert, sagt, er müsse doch in die Laterne hineinkriechen als Mann im Mond, hat Schlucker (Hermann Scheidleder) einen großen Ausbruch. Er reißt sich das Hemd vom Leib, breitet weit die Arme aus, sein kugelrunder bleicher Bauch leuchtet auf, und da steht vor aller Augen der Mond.

Sommernachtstraum PyTh 560 ReinhardWerner uDie Kunst ist das Wichtigste! © Reinhard Werner

Und als nach dem schrecklichen Tod von Pyramus und Thisbe die Geister noch einmal auftauchen, in einem zerfaserten, wie improvisierten letzten Moment, und alle dazu bringen einander zu umarmen, da entsteht auf einmal doch noch eine flirrende Melancholie, eine Ahnung von einer Traumwelt. Als Puck dann stotternd seinen Schlussmonolog hält – "Falls wir Schatten euch beleidigt, tadelt uns nicht allzusehr" (Shakespeare, der ausgebuffte Hund!) – wird man dann doch schwach, hat sie alle gern. Aber was für ein Durcheinander! Was für eine Männerwirtschaft, was für glorreiche Momente, wieviel banaler Blödsinn. – Großer Applaus.

Ein Sommernachtstraum
von William Shakespeare, deutsch von Frank Günther
Regie: Leander Haußmann, Bühne: Lothar Holler, Video: Hugo Reis + Jakob Klaffs, Mitarbeit Bühnenbild: Jan Freese, Kostüme: Janina Brinkmann, Video: Jakob Klaffs, Hugo Reis, Licht: Friedrich Rom, Dramaturgie: Steffen Sünkel, Musikalische Einstudierung: Bernhard Moshammer, Choreografie: Daniela Mühlbauer, Martin Woldan, Komparsen: Thomas Bäuml, Alireza Nodushani.
Mit: Daniel Jesch, Alexandra Henkel, Martin Vischer, Matthias Mosbach, Sarah Viktoria Frick, Mavie Hörbiger, Franz J. Csencsits, Johannes Krisch, Stefanie Dvorak, Christopher Nell, Elisabeth Augustin, Martin Schwab, Johann Adam Oest, Peter Matić, Hans Dieter Knebel, Dirk Nocker, Hermann Scheidleder.
Dauer: 3 Stunden 15 Minuten, eine Pause

www.burgtheater.at

 

Kritikenrundschau

Haußmann verlege die Szenerie ins Griechenland der frühen siebziger Jahre, in eine faschistische Militärdiktatur, schreibt Martin Lhotzky in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (13.9.2017). "Weswegen im Laufe des Abends gefühlt jeder Charakter mit Ausnahme der Elfenwesen auch mindestens einmal erschossen wird – und wieder aufsteht." Als lustig gehen einzig die tricktechnisch übertriebenen Feuer-und-Eis-Spukereien von Oberon, den Johannes Krisch im Druidenmantel kindisch-verbiestert gib. Fazit: Selbst bei den heißgeliebten Rüpelszenen der Laienschauspieltruppe hat man das Gefühl, die Regie hat den Aufführungstext zurückgehalten und lasse alte Burgtheaterhasen wie Martin Schwab als Peter Squenz, Hermann Scheidleder als Matz Schlucker (und als Vollmond!) oder Johann Adam Oest als Zettel aus der Erinnerung improvisieren, "willkommen im Kasperltheater der Burg!"

Puck bildet "das heimliche Schmerzzentrum von Leander Haußmanns Inszenierung", schreibt Ronald Pohl in Der Standard (11.9.2017) und freut sich über "diese wunderbare Aufführung" – "sie ist unmäßig, denn sie wagt ein Spiel mit doppeltem Einsatz." In Haußmanns "Ringelspiel der Liebe" erhalte niemand mehr, als er andererseits auch verliert: "Nullsummenspiele, die helfen sollen, die Nichtigkeit des Daseins zu verwinden". Würde besäßen "im Tollhaus der Nacht allein sechs Wahnsinnige: die Handwerker, die zur Hochzeit des Theseus Herrn Squenzens 'Pyramus und Thisbe' aufführen", so Pohl: "Die abschließende Haupt- und Staatsaktion dieser sympathischen Versager gipfelt in der Utopie der reinen Menschenliebe."

"Diese multimediale, mehr als drei Stunden lange Zaubershow ist über weite Strecken ein Vergnügen", schreibt Norbert Mayer von der Presse (11.9.2017). "Hier sieht man eindeutig 'Ein Sommernachtstraum' – ideenreich, zügellos und zugleich brutal wie ein Alb." Haußmann habe das Publikum mit reinem Übermut bezirzt. Da verzeihe man sogar einige Längen.

"Man sieht diesem charmant anachronistischen Abend an, dass Leander Haußmann sich in die Zeit zurückträumt, als er jung war und ihm noch keiner vorwerfen konnte, dass er nur spielen will", so Wolfgang Kralicek in der Süddeutschen Zeitung (14.9.2017). Für einen Theaterromantiker wie Haußmann sei "Ein Sommernachtstraum" die ideale Spielwiese. Bei ihm gehe nicht nur die Liebe "durch den Magen, und dass die Schusswunden folgenlos bleiben, versteht sich von selbst. Ist ja nur Theater!"

 

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