Roma Armee - Maxim Gorki Theater Berlin
Freigeister deluxe
15. September 2017. Raus aus der Opferrolle, rein in die kreative Selbstbehauptung! – Yael Ronens Roma-Revolutions-Abend am Berliner Maxim Gorki Theater ist wütend und funkelnd und toll.
Von Christian Rakow

15. September 2017. Es ist nicht so, dass man dieses Wow-Gefühl vom Gorki nicht kennt: dieses Wechselbad zwischen aufbrodelndem Statement-Theater und eiskalt pointierendem Witz, diese schlagende Direktheit und dann wieder die boulevardesken Finten. Und die Tränen, wenn ein Bekenntnis unvermittelt nah ans Herz rückt. Besonders in Abenden von Yael Ronen. Die israelische Regisseurin hat das Spiel mit sentimentalen und hoch reflexiven Erzählmomenten perfektioniert und ist damit so etwas wie die Gallionsfigur des Berliner Gorki-Theaters geworden, die Protagonistin eines Volkstheaters neuen Typus: gedankenscharf, postmodern reflektiert und zugleich erzählerisch konkret.
Aber selbst für Ronens Verhältnisse geht "Roma Armee" mächtig durch die Decke. Man kann sich ja lebhaft ausmalen, wie dieses Thema in einem landläufigen Dokumentartheaterabend aufgehoben gewesen wäre: Da versammeln sich Roma und Romnija auf einer kargen Studiobühne, um autobiographisch von Diskriminierungserfahrungen zu berichten. Szenisch gibt's Schonkost, Laiensprech, womöglich folkloristische Einsprengsel und die beständige Gefahr, die Spieler mitsamt der Roma-Kultur zu "objektifizieren".
Vagina-Monologe und queerer Charme
Anders bei Yael Ronen auf der großen Bühne des Gorki Theaters. Schon der Auftakt ist gleißendes Feuerwerk. Lindy Larsson kokettiert mit Zarah Leander: "Von der Puszta will ich träumen / Bei Zigeuner-Musik". Hitlers Chansonnière sei in den 1960ern durch die Schwulenbewegung rehabilitiert worden, führt er aus und eröffnet sogleich ein Schaulaufen der übrigen Akteure in reinster schwuler Pracht: In sexy Leder-Outfits und Dessous stolzieren sie daher, allesamt Roma und Romnija, bis auf die Gorki-Ensemblemitglieder Orit Nahmias (wie stets unter der Narrenkappe brillierend) und Mehmet Ateşçi (der sich mit ironischem Bedauern eingestehen muss, dass er als schwuler türkischstämmiger Deutscher in dieser Produktion erstmals nicht die Minderheitenposition bekleiden konnte; er war halt zu weiß, zu deutsch, zu mainstream, smiley).
Schwule Pracht vor Comic-Background: schon der Auftakt ist gleißendes Feuerwerk © Ute Langkafel
Larsson (eine Entdeckung!) moderiert und choreographiert die achtköpfige Crew mit bestechender Gelenkigkeit und queerem Charme. Die drahtige Sandra Selimović stellt sich als aktivistische Lesbe vor; ihre Schwester Simonida Selimović hat gerade eine Scheidung hinter sich, erfahren wir (soll sie eigentlich nicht sagen, Mutter schaut zu, aber egal). Der emanzipatorische Zugriff erstreckt sich weit über das Roma-Thema hinaus. Die Spielerinnen treten betont feministisch auf, diskutieren genüsslich ihre Periode und ihre sexuellen Vorlieben (Mihaela Dragan holt sich mit einem herrlichen Vagina-Monolog Szenenapplaus ab). Die männlichen Spieler zelebrieren ihren gay touch und umspielen den so schmerzhaften wie theatralen Moment des "Outing". Statt auf schlichte Identitätssetzung ("Ich bin Roma") zielt das Intro auf eine breit gefächerte Erfahrung von kultureller Marginalisierung und Ausgrenzung – und Befreiung.
Revolution der Nicht-Weißen
Die Roma-Künstler*innen Damian und Delaine Le Bas haben dazu ein Bühnenbild entworfen, das eindrucksvoll die Psychedelik der "Yellow Submarine"-Ära mit neuerem Comic-Artwork mixt. Auf den Projektionen des Vorhangs rotieren Speichenräder, großäuige Lurchmenschen schwirren umher. Mit der Britin Riah May Knight nähert sich der Abend dann harten Diskriminierungserfahrungen: Ihr Erlebnisbericht über archaische Sündenbock-Praktiken in einem englischen Dorf anno 2003 klingt wie eine Neuauflage von Arthur Millers "Hexenjagd", in maximaler Komprimierung (der Abend ist übrigens größtenteils auf Englisch, aber gut verständlich und zudem sorgsam übertitelt).
Die Opfererzählung wird sogleich ausgekontert von einer aktivistischen Wutrede von Sandra Selimović im Geiste von Malcom X: "Die Roma-Revolution ist der Kampf der Nicht-Weißen dieser Erde gegen ihre Unterdrücker." Oder wie es bei Brecht heißt: "Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht." Wie lange hat man diesen Gedanken nicht so scharf, so empörend, so verständlich vernommen? Yael Ronen, die Virtuosin der Versöhnung, mutet uns an diesem Abend viel zu. Aber es ist eine notwendige Zumutung. Ohne die Anerkennung von Wut, ohne das Akzeptieren des kollektiven Schuldzusammenhangs der europäischen Mehrheitsgesellschaften lassen sich die Abgründe der Geschichte nicht überwinden.
Riah May Knight bringt Disco-Beat in den Abend, links im Hintergrund: Lindy Larsson und Mihaela Dragan © Ute Langkafel
Es soll nicht unterschlagen werden, dass das Gorki-Theater vor diesem großen Saisonauftakt ein kleines Vorspiel im Studio angesetzt hat. Eine konzentrierte, szenisch reduzierte Besinnung auf die Kriegserfahrungen in Syrien: "Skelett eines Elefanten in der Wüste" von Ayham Majid Agha (Text und Regie). Agha, der Leiter des Exil-Ensembles (das mit Yael Ronen die Winterreise erarbeitete), verschneidet darin die Perspektive von Scharfschützen mit der Alltagserfahrung von Opfern in den Kriegsruinen. Das ist die Qualität des Gorki: Es stellt theatrale Erinnerungsräume für Ereignisse her, die langsam aus der Tagespresse rutschen.
Es groovt und funkelt im Erinnerungsraum
Das Erinnerungsmotiv bestimmt auch Yael Ronens "Roma Armee" im finalen dritten Teil. Simonida Selimović umspielt Walter Benjamins "Engel der Geschichte" und fordert eine gemeinsame Erinnerungskultur für die Begegnung zwischen den Roma und den "Gadje" (Nicht-Roma) ein. Europäische Geschichte über Minderheitsperspektiven zu erzählen und damit ein wahrhaft pluralistisches Denken in den herrschenden Diskurs einzuspeisen, dieser Impuls bewegt den Abend – und die Arbeit an diesem Haus.
Es klingt ein bisschen staatstragend. Das ist "Roma Armee" beileibe nicht. Das Stück kontert jedwede Opfererzählung durch eine Feier der individuellen und kulturellen Kreativität. Die Spielerinnen sind Profis oder zumindest fantastische Bühnentalente. Es groovt und funkelt. Mit Riah May Knight kommen Soul und Disco-Beat in den Abend. Die Kraft des Theaters wird beschworen: die Magie des Auftritts, der signalisiert: Seht her, hier stehe ich, eine Romni, auf einer Staatstheaterbühne. Wer hätte das gedacht! Die Stimme der Romni wird gehört! Let's roll. Der Beat schwappt ins Publikum, es wirft Wogen von Szenenapplaus zurück. "Ich wünsche, wir würden Roma rebranden", sagt Sandra Selimović einmal. "Ich wünsche mir, dass sie uns als Freigeister sehen würden." Fürwahr, sie haben es vollbracht.
Roma Armee
von Yael Ronen & Ensemble
nach einer Idee von Sandra Selimović, Simonida Selimović
Regie: Yael Ronen, Bühne: Heike Schuppelius, Malerei & Artwork: Damian Le Bas, Delaine Le Bas, Kostüme: Maria Abreu, Delaine Le Bas, Musik: Yaniv Fridel, Ofer Shabi, Video: Hanna Slak, LUKA UMEK, Licht: Hans Fründt, Dramaturgie: Irina Szodruch.
Mit: Mehmet, Ateşçi, Hamze Bytyci, Mihaela Dragan, Riah May Knight, Lindy Larsson, Orit Nahmias, Sandra Selimović, Simonida Selimović.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.gorki.de
Yael Ronen sei eine Meisterin der lakonischen Schlusspointe – "eigentlich", findet Fabian Wallmeier im RBB (15.9.2017). "Schade, dass das Stück in dieser geballten Ladung Pathos endet. Denn sie lässt das ehrenwerte Anliegen der Demonstration von Stärke der Roma-Community am Ende schal erscheinen. Und die Erinnerung an die großen Yael-Ronen-Momente, die das Stück ja zweifellos hat, verblasst dahinter."
Vortreten, das Publikum direkt ansprechen, umgarnen, beschimpfen, flachwitzeln oder weichsingen und es erst mit seinem Lachen und danach, wenn es klappt, mit seiner Irritation allein lassen − das ist so ungefähr die Ronen’sche Grundmethode. – Quelle: http://www.berliner-zeitung.de/28417994 ©2017
"Vortreten, das Publikum direkt ansprechen, umgarnen, beschimpfen, flachwitzeln oder weichsingen und es erst mit seinem Lachen und danach, wenn es klappt, mit seiner Irritation allein lassen − das ist so ungefähr die Ronen’sche Grundmethode", beschreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (Ausgabe 16.9.2017, online abgerufen am 15.9.2017). Das funktioniere diesmal gerade am Anfang sehr gut. Aber was zum Beispiel fange man an "mit den entgleisenden, tränennassen Beschwörungen des Roma-Stolzes? Es soll sich ja niemand seiner nationalen, vor allem durch feindliche Klischeezuschreibungen, von tiefsitzendem Hass und jahrhundertelanger Gewalt lädierten Identität schämen müssen, aber ist es sinnvoll, ausgerechnet mit Nationalstolz darauf zu antworten?"
Bekannt, aber wirkungsvoll findet Christine Wahl im Tagesspiegel (16.9.2017) die Figuren und Inszenierungsverfahren "der gewitzten Stereotypenzertrümmerin Yael Ronen". Drastische Zahlen und Fakten zu Ausgrenzung und Gewalt würden mit "einer satten Portion Ironie" kontrastiert, Pathos „zu höheren Erkenntniszwecken“ gebrochen, Stereotype mittels theatralischer Überaffirmation ad absurdum geführt. "Roma Armee" sei "nicht mehr und nicht weniger als ein kraftvoller Selbstermächtigungsabend; eine große zweistündige Diversitätsparty", so Wahl.
Als Haus mit der "markantesten, weil am stärksten ausdifferenzierten Stimme" in Berlin lade das Gorki Theater zu zielgruppengerechten Inszenierungen "im Stil eines flotten Zeitgeist-Cabarets", schreibt, Irene Bazinger in der FAZ (16.9.2017). "Wie viel das mit Kunst zu tun hat, lässt sich nur von Aufführung zu Aufführung entscheiden." Konkret: In "Roma Armee" erscheine manches zwar "arg eindimensional", aber Ronen und den ideengebenden Schwestern Selimović gelinge "eine multiple, immer wieder berührende Nahaufnahme der Ausgrenzung" von Roma in Europa, so Bazinger. "Ganz anders, und zwar nachdrücklich aus der perspektivischen Distanz" sei die zweite Uraufführung der Gorki-Saisoneröffnung gestaltet, Ayham Majid Aghas "Skelett eines Elefanten in der Wüste" in der Studiobühne: "Subtil wird das Theater da politisch – und wahrhaftig zugleich", befindet Bazinger.
"Ich bin stolz, Rom zu sein", heißt es zum Höhepunkt der Bekenntnisorgie. Sonst hört man das, ins Deutsche gewendet, bei Pegida, AfD & Co." Tom Mustroph tritt in der taz (18.9.2017) an, den Abend als "Missverständnis" zu beschreiben. Diskriminierungsgeschichten würden "ganz schrill" erzählt. "Und wenn mal ein Betroffenheitsgestus reinrutscht, dann wird er brav ironisch gebrochen, getreu den postmodernistischen Kunstfibeln. Alles ganz vorbildlich." Auf die Ironie folgt das unmissverständliche Fazit: "Es war Muff, nur bunt angemalt – in dieser Kombination aber ausreichend für ein frenetisch sich selbst feierndes Publikum. Happy Bubble in mid town Berlin."
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Und die Spieler sind famos, sprühen vor Energie, ganz unabhängig von dem was inhaltlich verhandelt wird. Allen voran die Musikalität, die wohlgesetzten Tempowechsel und die wunderbare Stimmen lohnen den Abend - und lassen professionelle Kritiker ins uferlose Schwärmen kommen.
Denn inhaltlich bleiben viele Fragen offen: geboten wird keine ausgewogene oder gar "dramatische" Auseinandersetzung mit dem Thema Roma, sondern eine Mischung aus Pamphlet und Gruppentherapie. "Ich schäme mich...", "ich wünsche mir...", "Ich fordere..." so oder so ähnlich werden die inhaltlichen Botschaften überschrieben, bekräftigt von wechselseitigen (Echo-)jubeln der Mitspieler und aus dem Publikum.
Warum die Integration sehr anderer Lebensformen tatsächlich eine Herausforderung ist oder inwieweit konservative Roma-Haltungen für - hier allein vertretene schwule, queere etc. Roma - das größere Problem sind, bleiben fast unberührt.
Insofern: tolle Stimmung, tolle Spieler mit leider einseitiger und selbstbezogener Botschaft.
Deswegen kann ich schon verstehen, dass Christian Rakow so sehr von dem Abend schwärmt.
Aber: Vor allem in der ersten Hälfte hängt das Stück oft zu sehr durch. Vieles wirkt noch unfertig: als ungefilterte Stoffsammlung auf der Probebühne. Hier hätte Yael Ronen die Dialoge stärker verdichten und das Ausfransen in allgemeine, manchmal recht banale Plaudereien über Mobbing und Missachtung verhindern müssen.
Neben den zu großen Schwankungen im Rhythmus ist vor allem der zu pathetische Schluss ein Makel des Abends. In allzu getragenen Sonntagsreden wird das Hohe Lied auf die Versöhnung gesungen, manche Zwischentöne klingen geradezu kitschig. Da bin ich ganz bei Fabian Wallmeiers rbb-Besprechung.
Mein Fazit: „Roma Armee“ ist ein interessanter Abend, der einer ansonsten wenig sicht- und hörbaren Minderheit eine Stimme gibt und somit perfekt zur Programmatik des Gorki Theaters passt. Trotz eindrucksvoller Momente und mitreißender Szenen ist dieser Saisonauftakt aber doch nicht gelungen.
Komplette Kritik: daskulturblog.com/2017/09/15/roma-armee-von-yael-ronen-entert-das-gorki-theater-zum-saisonauftakt/
Auch wenn der Witz bleibt – natürlich ist die Nummer, in der das Ensemble sich als Roma-Superhelden geriert, zwerchfellerschütternd, Larssons Erzählung über die groteske Suche nach dem passenden „Superhero“ berührend, hochkomisch und überaus klug – beginnen nach und nach die Appelle, die politisch-ideologischen Ansagen, die Agitprop-artigen Aufrufe die Kontrolle zu übernehmen. Man erzählt sich (und uns), worauf man stolz ist, referiert seine Wünsche. Es wird wütend gerappt und schmachtend gesungen – und ganz plötzlich, wenn man sie doch wieder bräuchte, ist sie verschwunden, die Ironie. Und so endet der Abend in – zweifellos notwendigem – Frontalunterricht, der auch bei den Bekehrten womöglich so manche Sensibilisierung erzeugen wird, aber mit einer Eindeutigkeit daherkommt, die mit der Ronenschen Dramaturgie der Brüche zusammenprallt. Nach starkem Beginn wird sich der Abend immer unsicherer über seine Mittel, versucht es mit ironischer Untergrabung, die streckenweise zum Selbstzweck wird, trocken propagandistischer Akklamation oder offensiv selbstbewusster Affirmation. Das mag der Botschaft gut tun, verhindert aber, dass aus einem fraglos wichtigen Theaterabend auch ein großer wird.
Komplette Rezension:https://stagescreen.wordpress.com/2017/09/16/jenseits-von-zarah-leander/
Bühnenbild und Musiknummrn waren gut. 2 Stunden als Altenpfleger gearbeitet, um das Ticket zu bezahlen.
Ärgerlich.