Unter Händlern

von Falk Schreiber

Hamburg, 17. September 2017. Wenn man auf St. Pauli die Bernhard-Nocht-Straße stadtauswärts geht, dann gerät man ungefähr auf Höhe der Hafentreppe in eine klandestine Handelssituation. Die Handelspartner versuchen, mit Blicken abzuklären, ob man ins Geschäft kommt. Bewegungen sind wichtig, Gesten, gezischte Codes. Man muss einschätzen, ob das Gegenüber ein vertrauenswürdiger Partner ist, man muss verstehen, ob die angebotene Ware ihren Preis wert ist, man muss die Umgangsformen beherrschen, man muss die Zeichen, die man empfängt, lesen können. Man begeht also einen performativen Akt, einen Tanz zwischen Dealer und Kunde. Und am Ende steht eine Transaktion, im besten Fall.

Wer ist der Kunde?

Aus genau solchen Zeichen besteht Bernard-Marie Koltès' selten gespieltes Zweipersonenstück "In der Einsamkeit der Baumwollfelder": Dealer und Kunde treffen sich an einem urbanen Nichtort, den Baumwollfeldern, und handeln dort die Bedingungen des Warenaustauschs aus. Christiane Jatahy hat in der Thalia-Nebenspielstätte Gaußstraße die Figur des Dealers auf fünf Schauspieler aufgeteilt und diese im Publikum platziert, das einander auf zwei Tribünen gegenüber sitzt. Der Kunde sitzt zwar ebenfalls im Publikum, bleibt den Schauspielern aber zunächst unbekannt – in jeder Aufführung wird diese Rolle von einem anderen Darsteller übernommen, durchgängig von Hamburgern mit Migrationshintergrund, was die bürgerliche Klischeevorstellung von migrantischem Dealer und eingeborenem Kunden hübsch auf den Kopf stellt. Die Schauspieler spielen also erst einmal auf gut Glück das Publikum an, meist einen Zuschauer, von dem sie annehmen, dass er der Kunde sein könnte. Weil er so seltsam lächelt. Oder eine bestimmte Kleidung trägt. Oder provozierend langsam den Saal betreten hat.

Baumwollfelder Thalia 560 KrafftAngerer uDas Ensemble (Vorschaubild) © Krafft Angerer

Als Spielanordnung sorgt das für eine spannende Verunsicherung der Performance. "Ja, ich meine Sie, nicht umdrehen!", haut Daniel Lommatzsch einen Zuschauer an, der ihm anscheinend wegen seines grauen Hoodies aufgefallen ist. "Wenn Sie zu dieser Stunde an diesem Ort unterwegs sind, dann, weil sie etwas wünschen, was Sie nicht haben!" Und plötzlich weitet sich das Stück: Wir wissen ja überhaupt nicht, was hier gehandelt wird, und natürlich ist der Angesprochene in die Gaußstraße gekommen, weil er etwas begehrt, Erkenntnis, Zerstreuung, was auch immer, genau das muss ausgehandelt werden. Sandra Flubacher bringt das auf den Punkt: "Wir kaufen eine Theaterkarte, und dafür bekommen wir was angeboten." Wobei das Angebot dann natürlich auch abgerufen werden muss.

Kapitalismus definiert Rollen

Schon bei Koltès ist die Handlung auf ihren mythischen Kern reduziert, in Jatahys so radikalem wie klugen Konzept wird das noch deutlicher: Man sieht hier kein Theaterstück mehr, sondern nur noch das Gerippe eines Stücks, und zwischen den Knochen scheint die Realität durch. Die im Handlungskontext die Realität des Kapitalismus ist, und der definiert die einzelnen Rollen. "Wir brauchen zwei Seiten, die Seite, die anbietet, und die Seite, die verkauft", weiß Tim Porath. "Das ist unser System, ohne das funktioniert es eben nicht." Was aber auch heißt: Solange es ausschließlich Dealer gibt, aber sich kein potenzieller Kunde als kaufwillig outet, funktioniert es auch nicht.

Tatsächlich findet sich ein Kunde, nachdem der kurze Abend schon zu drei Vierteln vorbei ist. Ghodrat Aria heißt er bei der Premiere, und auf das Angebot, etwas zu kaufen, antwortet er in einer unbekannten Sprache. Kurz verliert die Inszenierung da ihre konzeptionelle Konsequenz, kurz interessiert weniger der Tanz sondern die konkrete Frage, ob die Transaktion jetzt womöglich geplatzt ist. Was der Inszenierung einen unangenehm trivialen Krimibeigeschmack gibt, dann aber fängt sie sich wieder. Franziska Hartmann wagt eine Annäherung, bietet dem Kunden ihre Jacke an, was dieser ablehnt. Gibt es ein menschliches Interesse zwischen Dealer und Kunde? Nein, es gibt nur den Handel, und der scheint schließlich im Off abzulaufen, auf dem Theaterhof. Zumindest ahnen wir hier so etwas auf Video. Oder auch nicht: Der performative Akt bleibt schemenhaft, nicht ganz dekodierbar. Ein Zischen, eine Handbewegung, ein Blick, ein Tanz. Brauchst du was? Hast du was?

In der Einsamkeit der Baumwollfelder
von Bernard-Marie Koltès
Regie und Bühne: Christiane Jatahy, Künstlerische Mitarbeit, Bühne und Licht: Thomas Walgrave, Kostüme: Sina Brüggemann, Künstlerische Mitarbeit: Henrique Mariano, Simultanübersetzung und Regieassistenz: Juliane Elting, Dramaturgie: Sandra Küpper.
Mit: Sandra Flubacher, Julian Greis, Franziska Hartmann, Daniel Lommatzsch, Tim Porath sowie bei der Premiere am 16.9.17 Ghodrat Aria (Besetzung alternierend).
Dauer: 1 Stunde, keine Pause

www.thalia-theater.de

 

Kritikenrundschau

"Die Brasilianerin Christiane Jatahy hat Koltès' Stück als Wechselspiel von Wirklichkeit und Theater inszeniert“, berichtet Heinrich Oehmsen im Hamburger Abendblatt (18.9.2017). Zentraler Clou: "Jatahy hat Koltès' Vorlage verändert, indem sie aus einem fünf Verkäufer gemacht hat. Sie unterhalten sich über die Psychologie des Verkaufens und der Wunscherfüllung und über das Verhältnis zwischen Verkäufer und Kunden. Koltès' Text ist eine philosophische Auseinandersetzung mit dem kapitalistischen Wertesystem. Durch die Vervielfältigung des Personals bekommt der Text spielerische Möglichkeiten, er erfordert vom Zuschauer jedoch große Aufmerksamkeit."

 

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