Saurer Goldregen

von Reingart Sauppe

Saarbrücken, 16. September 2017. So schlicht und ein bisschen langweilig das neue Corporate Design des Saarländischen Staatstheaters auch sein mag, so furios und mitreißend war der Spielzeitauftakt. Nach elf Jahren unter Dagmar Schlingmann führt jetzt Opernspezialist Bodo Busse das Drei-Sparten-Haus – und bot, nach einem bildstarken, temporeichen und emotional-hochgeschraubten "Guillaume Tell" im Musiktheater, mit Elfriede Jelineks die Modewelt entblößendem Text "Licht im Kasten" eine aberwitzig skurrile Inszenierung, in der das weitgehend runderneuerte Schauspielensemble seine akrobatischen, musikalischen und komödiantischen Talente vorführte. Den Eröffnungsreigen vollendeten gestern abend im Großen Haus die neuen Schauspieldirektor*innen Bettina Bruinier (Regie) und Horst Busch (Dramaturgie), die sich mit einer aktualisierten Fassung von Lessings "Nathan der Weise" dem Publikum vorstellten.

Schwarz, grau, braun und beige ist die Welt, in der hier malocht wird, in der riesige Pappkartons für den Versandhandel  hin- und hergeschleppt werden – und gleich eine Bombenexplosion das Haus des Juden Nathan in Brand setzen wird. Ein großes kraterförmiges Loch in der Kulissendecke deutet bereits auf einen früheren Anschlag hin. Durch das schwarze Loch schwebt wie im Sterntaler-Märchen Goldkonfetti still und unaufhörlich herab, ein verheißungsvoll-poetischer Lichtblick in dieser Tristesse.

It's the economy, stupid?

Das Goldkonfetti wird in Bettina Bruiniers Inszenierung zum nie versiegenden Leitmotiv: Schatzmeister Al-Hafi rafft es gierig zusammen, der radikal-fundamentalistische Patriarch des Christentums stellt sich im güldenen Umhang in den Goldregen und erhebt die Hände zum Gebet: Geweiht sei der Mammon. Dem Geschäftsmann Nathan bedeutet Geld menschliche Unabhängigkeit und Lebemann Saladin die Freiheit zur Freizeit. Steckt also hinter all dem Toleranz- und Religions-Gelaber, dass es den Beteiligten nur um monetäre Interessen geht?

Nathan Saarbrucken 24 560 AndreaKremper uThorsten Loeb, Sébastien Jacobi, Philipp Seidler, Barbara Krzoska, Juliane Lang und Ensemble
© Andrea Kremper

Nein – die Inszenierung will viel mehr erzählen; zuviel auf einmal. Kommentare und Ergänzungen, die sich üblicherweise in Programmheften finden, werden mitgespielt. Der Original-Lessing wurde fragmentiert, was es schwer macht, der ohnehin kompliziert-konstruierten Familiengeschichte zu folgen. Nervös hetzt Gregor Trakis als Nathan durch Lessings sperrige Verse. Später gelingen ihm berührende Momente, etwa wenn er seine Adoptivtochter Recha so fest und lang in die Arme nimmt, dass seine Verlustangst wortlos spürbar wird, ihn zu einer menschlichen Figur machen.

Mit Voltaire und Ravenhill der "Leitkultur" auf die Pelle gerückt

Solche emotionalen Momente aber sind die Ausnahme. Denn die Zeit drängt, weil dem Ideen-Drama noch ein paar Ideen aufgesattelt wurden. Wie schnell das christlich-europäische Abendland der Gegenwart unter dem Eindruck des Terrorismus wieder zu seinen radikal-fundamentalistischen Wurzeln der Kreuzritter zurückfinden könnte, wie Sicherheitsfanatiker unter dem Vorwand, Freiheit und Demokratie zu verteidigen, selber zu Terroristen werden könnten, wie gefährlich und absolutistisch doch die christliche Religionslehre in ihrem Kern sei – all das soll gezeigt werden.

Um die dank Aufklärung überlegene europäischer Leitkultur infrage zu stellen, haben Busch und Bruinier religionskritische Textpassagen von Voltaire und Szenen des britischen Dramatikers Mark Ravenhill in Lessings Klassiker eingebaut. Schauspieler Thorsten Loeb unterbricht als neuzeitlicher Wiedergänger christlich-fundamentalistischer Kreuzzügler die Vorstellung und sorgt für einen Moment der Irritation: Es habe einen Anschlag auf die Demokratie gegeben. Schwupps wähnt man sich in einem andern Stück, doch die Anleihe bei Ravenhills Minidramen-Zyklus "Wir sind die Guten", das der britische Dramatiker vor zehn Jahren nach dem Bombenattentat auf die Londoner U-Bahn schrieb, funktioniert hier nur als Kommentar: Schaut mal, wie aktuell doch unser Lessing ist!

Schon Lessing hat allerdings an der Wirksamkeit seiner aufklärerischen Parabel gezweifelt – dieser "Nathan" erklärt nun kulturpessimistisch den Zweifel zur Tatsache. Was bleibt? Im Endeffekt doch nur Goldkonfetti.

 

Nathan oder Das Märchen von der Gleichheit
nach Gotthold Ephraim Lessing
Regie: Bettina Bruinier, Bühne: Mareile Krettek, Kostüme: Cornelia Kraske, Musik: David Rimsky-Korsakow, Video: Ayse Gülsüm Özel, Dramaturgie: Horst Busch, Choreinstudierung: Luca Pauer.
Mit: Sébastien Jacobi, Juliane Lang, Gregor Trakis, Barbara Krzoska, Gabriela Krestan, Philipp Seidler, Thorsten Loeb, Ali Berber, Inga Brandel, Walter Brandel, Erna Bytyqi, Tatjana Franken, Gürsu Hatimaz, Uwe Keller, Matthis Löw, Angéline Ruffing, Herrmann Schell, Lara Wagner, Ruth Weissmüller, Heike Wenndorff, Aaron Noel Zachow.
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, eine Pause

www.staatstheater.saarland

 

Kritikenrundschau

Einen "gelungenen Einstand" gebe Bettina Bruinier mit ihrer "ausgeklügelten, zynischen Saarbrücker Version" von "Nathan, der Weise", findet Christoph Schreiner in der Saarbrücker Zeitung (18.9.2017). Die märchenhafte Fügung des Stücks entpuppe sich bei Bettina Bruinier als bloße Inszenierung, "die zu Bruder und Schwester Erklärten gaukeln uns nur eine Aussöhnung vor. Damit kein kultureller Dissenz den Fluss des Warenverkehrs staut." Die Verästelungen lassen sich kaum komplett erfassen, "was die Frage aufwirft, ob Bruinier nicht zu viel gewollt hat. Ihr roter Faden aber ist erkennbar".

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