Warum hört der Streit nicht auf?

von Christian Rakow

Berlin, 19. September 2017. Mit der Berufung des Museumsleiters Chris Dercon auf den Intendantenposten der Berliner Volksbühne im Jahr 2015 entzündete sich eine Debatte um den damit verbundenen Strukturwandel des Hauses, die als Berliner Theaterstreit bundesweit bekannt wurde. Auch nach dem Spielzeitstart der Intendanz Dercon mit zwei Tanz-Marathons an der neuen Volksbühnen-Spielstätte auf dem ehemaligen Flughafen Tempelhof ist der Streit nicht beendet.

Ein Artikel im aktuellen Spiegel (Ausgabe 38/2017) schiebt jetzt die Diskussion weiter an. Das Wochenmagazin wertet die seit Anfang September öffentlich zugänglichen Haushaltsunterlagen über Stellenbesetzung und Finanzplan der Berliner Volksbühne aus und resümiert zuspitzend: "Chris Der­con, der neue In­ten­dant der Ber­li­ner Volks­büh­ne, treibt den Um­bau des tra­di­ti­ons­rei­chen Thea­ters in eine Ab­spiel­stät­te von Fremd­pro­duk­tio­nen kon­se­quent vor­an."

Volksbuehne2017 280 rbbDas Streitobjekt: die Berliner Volksbühne  © rbbNoch am Erscheinungstag widersprach Chris Dercon im Berliner Tagesspiegel: "Richtig ist, dass nicht wir, sondern Frank Castorf in den letzten Jahren sein Ensemble von 27 fest engagierten Schauspieler*innen auf 11 reduziert hat." Dramaturgie- und Regiestellen würden zudem, anders als vom Spiegel dargestellt, nicht abgebaut, sondern lediglich in die Programmabteilung verschoben.

Zur Aufbereitung des aktuellen Debattenstands sei hier eine kommentierte Presseschau gegeben, mit einem stichpunktartigen Überblick dazu, was im "Berliner Theaterstreit" aktuell verhandelt wird und an welchen Punkten die Missverständnisse entstehen.

1. Was heißt hier Ensemble?

Der neue Stellenplan der Volksbühne sieht die Reduktion von ehemals 27 Ensemblestellen auf 12 Stellen vor. Gemäß Chris Dercons Erwiderung im Tagesspiegel wird hiermit nur ein Ist-Zustand der letzten Castorf-Jahre buchhalterisch festgeschrieben. Dazu bemerkt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung: "Es stimmt, dass Frank Castorf in den letzten Jahren nur noch elf der 27 Ensemblestellen besetzt hatte und mit den frei gewordenen Mitteln sein Ensemble durch Gäste ergänzte, die allerdings immer wieder bei Marthaler, Fritsch, Pollesch und Castorf selbst in diesem Theater auftraten − und jedem Zuschauer als Volksbühnenschauspieler galten, auch wenn sie keinen festen Vertrag hatten (es handelt sich z.B. um Spieler wie Alexander Scheer oder Georg Friedrich, Anm. chr). (...) Dass nun die unbesetzten 15 Stellen einfach gestrichen werden, ist mehr als buchhalterische Hygiene."

Chris Dercon will nicht nur Sprechtheaterakteure, sondern darstellende Künstler*innen unterschiedlicher Sparten für sein Haus gewinnen, erklärte er bereits bei seiner Vorstellung im März 2015. Der Aufbau eines Ensembles sei allerdings durch die kulturpolitischen Streitigkeiten behindert worden, hieß es bei der Programmpräsentation im Mai 2017. Bis dato hat das Team um Chris Dercon es versäumt, namentlich festzumachen, um welche Darsteller*innen herum das künftige Ensemble aufgebaut werden soll. Lediglich Frank Willens erklärte sich während der Vorstellung von Boris Charmatz' "A Dancer's Day" als dem Volksbühnen-Ensemble zugehörig.

Im Berliner Kultur-Ausschuss erklärte Dercons Programmdirektorin Marietta Piekenbrock am 26.  Juni 2017 (hier das Wortprotokoll), man wolle an der Volksbühne mit "maßgeschneiderten Ensembles" bzw. "Stück-Ensembles" arbeiten. Diese Formulierung lenkt von dem in der Strukturdebatte in Frage stehenden Ensemble-Begriff ab: Während Piekenbrock in ihrer Definition das temporäre Zusammentreten von Darstellern für eine einzelne Produktion meint, spricht man von "Ensembletheatern" nur dort, wo Spieler regelmäßig in verschiedenen Produktionen auftreten und also eine personale Identität für ein Haus und seine diversen Stoffe stiften.

Lösungsmöglichkeit? Chris Dercon muss Darsteller*innen präsentieren, die regelmäßig auf den Bühnen am Rosa-Luxemburg-Platz und in Tempelhof stehen werden.

2. Ein Schreckgespenst: Die Volksbühne als "Event-Bude"?

Der polemische Begriff der "Event-Bude" wurde 2015 von Claus Peymann in die Volksbühnen-Debatte eingebracht. Sein sachlicher Kern bezieht sich auf die Spielplangestaltung: Als "Event" bezeichnet man im Theaterbereich ein Ereignis, das nur kurzzeitig am Ort verfügbar ist. Das Gegenteil davon ist das "Repertoire" aus Inszenierungen, die regelmäßig im Spielplan wieder auftauchen. Die Eröffnungsproduktion der Dercon-Volksbühne "Fous de Danse" und "A Dancers Day" hatten einen bzw. vier Aufführungstage und waren insofern temporäre Events, wie man sie aus freien Spielstätten wie dem HAU oder den Berliner Festspielen kennt. Dass die Arbeitsweise dieser Gastspiel und Koproduktionshäuser von der Dercon-Volksbühne übernommen würde, wiederholen Kritiker*innen seit 2015. Der neue Stellenplan sieht die Umwidmung der ehemals sieben Dramaturgien des Hauses in Produktions- und Dispositionsstellen vor. Solche Posten werden vor allem an Häusern benötigt, die bestehende Produktionen an die Spielbedingungen vor Ort anpassen müssen (Dramaturgien erstellen Spielpläne, sichten und erarbeiten Stoffe für Inszenierungen und begleiten den Probenprozess inhaltlich). Das Team um Chris Dercon hatte sich abseits der eigenen Produktionspläne um die Übernahme von Spielplanpositionen der Castorf-Volksbühne für ein kommendes Repertoire bemüht, aber die Rechte dafür nicht erhalten. Das Verbot von Übernahmen war Teil einer großen Verweigerung, mit der Castorfs Mannschaft Chris Dercon und seinem Team begegnete (Dercons Team wurde zeitweise der Zugang zur Volksbühne untersagt; für die erwartet schwierige Übergangsphase hatte Dercon 2016-2017 insgesamt 3 Millionen Euro Vorbereitungsetat extra erhalten).

3. Wird die Volksbühne zur "Abspielstätte"?

Der Spiegel-Artikel kritisiert im Begriff "Abspielstätte", den hohen Anteil an auswärtigen Produktionen im neuen Volksbühnen-Programm. Richtig ist, dass der bis dato veröffentlichte Plan der ersten Spielzeithälfte zahlreiche Übernahmen, Gastspiele, anderswo bereits erprobte Formate (wie das aus Rennes importierte Spielzeiteröffnungsformat "Fous de Danse") sowie Kombinationen von bestehenden Produktionen ausweist. (Der Autor Raban Witt hat das detailliert in einer Spielplanrecherche dokumentiert.)

4. Warum ist der Berliner Streit um Ensemble, Repertoire und Eigenproduktionsanteil wichtig?

Der Betrieb von Theatern im Ensemble- und Repertoiresystem ist international gesehen ein Alleinstellungsmerkmal der deutschsprachigen Theaterlandschaft. Die Produktionsform gilt als kostenintensiv und gerät an vielen Orten Deutschlands zunehmend unter fiskalischen Druck. Die Strukturfragen, die aktuell an der Volksbühne verhandelt werden, haben mithin Beispielcharakter. Die Frage ist, inwieweit sich der deutschsprachige Raum sein einzigartiges Theatersystem weiter leisten will oder wie vehement der Trend hin zu wenigen Produktionsstätten bei einer wachsenden Anzahl von Tournee- und Gastspielhäusern wie in England oder Frankreich geht.

5. Gibt es ein Demokratiedefizit bei der Berufung von Chris Dercon?

Intendantenberufungen erfolgen in der Regel unter Ausschluss der Öffentlichkeit durch die Träger der Häuser. Einige lassen sich bei der Bewerber*innensichtung von Findungskommissionen unterstützen. Ex-Staatssekretär Tim Renner, der mit dem Regierenden Bürgermeister und damaligen Kultursenator Michael Müller 2015 Chris Dercon ins Amt hob, formierte keine Findungskommission und folgte darin den Gepflogenheiten der Berliner Kulturpolitik. Zum Problem wird der intransparente, aber eben nicht unübliche Vorgang, wenn sich mit der Personalentscheidung eine tatsächliche Umstrukturierung des Ensemble- und Repertoirebetriebs an der Volksbühne verbindet. Mit ebendieser Kritik trat im Juni 2017 eine Petition auf den Plan, die die Überprüfung der mit der Personalie Dercon verbundenen Strukturentscheidung verlangt und im September 2017 mit bis dato über 40.000 Unterschriften dem Berliner Kulturausschuss vorgelegt wurde.

6. Warum lässt die aktuelle Berliner Kulturpolitik Chris Dercon nicht in Ruhe?

Schon in der Vorstellungspressekonferenz 2015 betonten die seinerzeit verantwortlichen Kulturpolitiker Michael Müller und Tim Renner (SPD) gemeinsam mit Chris Dercon, dass sie zugleich Tradition und Erneuerung der Volksbühne betreiben wollen. Im Klartext sollte die Volksbühne weiterhin Ensemble- und Repertoiretheater für Sprechtheater und Tanz aber auch "Plattform" diverser weiterer Kunstbereiche (Computerspiel, Film, Online-Theater, Konzerte) sein. Es wurde betont, dass der Plattform-Gedanke an die bisher gängige Praxis des Hauses anschließe, an dem stets eine Vielzahl diverser Veranstaltungen das Theaterprogramm ergänzte. An Castorfs Volksbühne wurden diese Veranstaltungen gleichwohl nicht zum Premierenplan des Hauses gerechnet (anders als jetzt bei Dercon). Mit Auswertung des Stellenplans deuten sich signifikante Widersprüche in dieser Aufgabenbestimmung als Ensemble- und Plattformtheater an. Ebendeshalb wurde die Neuformulierung "Plattform" im Berliner Kulturausschuss Anfang September von den Regierungsparteien Linke und Grüne betont kritisch diskutiert, obgleich die Bestimmung, wie der neue Kultursenator Klaus Lederer ausführte, der Umriss des neuen Profils bereits 2015 zur Prüfung vorgelegen habe. Grüne und Linke, die seit 2016 gemeinsam mit der SPD unter dem Regierenden Bürgermeister Michael Müller koalieren, haben sich vor der Wahl kritisch zur Berufung Chris Dercons geäußert. Kultursenator Klaus Lederer (Linke) wollte die Personalie Dercon nach der Wahl überprüfen, sah sich dann aber an die vertraglichen Gegebenheiten gebunden. Lederer wurde in den Abschiedsmonaten der Castorf-Volksbühne wiederholt im "Lüge"-T-Shirt der Castorf-Volksbühne gesichtet, auf der Abschiedsfeier des Hauses tanzte und sang er im Verbund mit den Castorf-Spielern.

7. Ist der Berliner-Theaterstreit gleichbedeutend mit "Mobbing" gegen Chris Dercon?

In einem vielbeachteten Artikel für die Süddeutsche Zeitung diagnostizierte Till Briegleb am 8. September 2017 ein andauerndes "Mobbing" gegen den Neu-Intendanten Chris Dercon. Diese "Hasskultur" sei Zeichen einer Selbstgerechtigkeit des feudalistisch organisierten Theaterbetriebs, in der sich der regieführende Künstler praktisch jeder demokratischen Schranken enthoben sieht. Das Anliegen der Volksbühnen-Petition (es ist übrigens bereits die zweite Online-Petition) stufte der Artikel im selben Atemzug als "populistisch" ein. Richtig ist, dass gerade in den sozialen Medien die Dercon-Öffentlichkeitsarbeit seit ihrer Geschäftsübernahme im August 2017 mit jedem neuen Posting auf Häme und Polemiken stößt. Ebenso richtig ist, dass Volksbühnen-Künstler*innen wie Jürgen Kuttner als scharfe Kritiker auftreten und darin die Haltung fortschreiben, mit der viele der bisher Verantwortlichen der Dercon-Leitung entgegentraten (hier der Link zu Kuttners Facebook-Seite, über die er seine Einlassungen im Wesentlichen verbreitet). Die Volksbühnen-Petition hingegen ist vorgebracht von Theaterwissenschaftler*innen und Publizist*innen. Sie ist eine Publikumsinitiative und taugt mithin nicht für eine Allegorie auf die Binnenverhältnisse des deutschen Theaterbetriebs. Der personalisierende Begriff des "Mobbing" verschleiert zudem die Strukturfragen, die an den Volksbühnen-Vorgang gestellt werden (siehe Punkt 1-4).

 

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