Natürlich Krokodilstränen!

von Sophie Diesselhorst

Berlin, 19. September 2017. Dann hängen alle in der Luft. Der riesige Zeppelin-Käfig schwebt zwei Meter über dem Schaubühnen-Bühnenboden und acht groteske Gestalten schauen, in seine Gitterstäbe verhakelt, starren visionären Blicks auf uns, das Publikum, als ob sich ihnen da gerade eine neue Welt auftäte. Hui! Das ist sie, die gefühlte Ewigkeit, die die Inszenierungen von Herbert Fritsch so einzig herzaubern können.

Aber es ist auch unheimlich, so plötzlich, und überhaupt. Eigentlich müsste jetzt Schluss sein. Das Premierenpublikum stimmt immer wieder zaghaft einen Applaus an. Doch mit dem Hinabsteigen zur Verbeugung warten die acht im Zeppelin dann aber noch so lange, bis auch die letzte Zuschauerin sich verunsichert fühlt und also – einen Moment lang – mit ihnen im Ungefähren schwebt.

Zeppelin3 560 Thomas Aurin uLuftschiff und Lebenskäfig sowie seine Bespieler: vorn Musiker Ingo Günther. © Thomas Aurin

Auch vorher wurde sowohl auf der Bühne als auch im Zuschauerraum im Ungefähren geschwebt. Als Exilant der "alten Volksbühne" hat Herbert Fritsch für sein Debüt an der Schaubühne Berlin Texte von Ödön von Horváth zerschnippelt und in, um und um den titelgebenden "Zeppelin" herum verteilt auf ein Ensemble aus angestammten Schaubühnen- und Schauspieler*innen mit Fritsch-Erfahrung. Als Bühnenmusiker bereitet Ingo Günther die Atmosphäre, indem er das Luftschiff aus Stahlstäben per Fernbedienungs-Klaviatur als Schlagwerk traktiert.

Was ist das für 1 Milieu?

Das elektrisiert die von Victoria Behr individuell zur Verwechselbarkeit aufgebrezelten Darsteller*innen zuverlässig, sie zucken und zappeln dem Sound hinterher und fangen dann auch irgendwann an, Horváth-Texte zu deklamieren, was für sie und das Publikum die schwierige Frage aufwirft: Was ist dies für 1 Milieu? Darauf zu antworten hat aber nun zum Beispiel Jule Böwe als nölende Karoline überhaupt gar keine Lust, und die anderen auch nicht. Wirklich nicht. Denn diese Frage ist unter ihrem Niveau, auch als der Zeppelin noch auf dem Boden liegt wie ein gestrandeter Wal. Erst etwa auf der Hälfte des Abends steigt er auf, aber auch nur auf "ganz geringe Höhe", wie schon Horváth es vorgesehen hat für die Anfangsszene von "Kasimir und Karoline",  in der das Luftschiff über die Oktoberfestwiese schwebt und den ersten Streit zwischen den Liebenden auslöst.

Aber hier soll nicht "Kasimir und Karoline" gespielt werden. Hier soll auch sonst nicht mit dem Finger auf diese elende Welt gezeigt, sondern eine eigene, tollere Welt hergestellt werden, was ja erst mal ein wunderschönes Anliegen ist. Zu diesem Behuf sind die Fritsch-Leute eifrig damit beschäftigt, bloß keinen Zusammenhang entstehen zu lassen. Einzelne Szenen werden zu möglichst kurzen Momenten zerhackt. Es wird – manchmal beinahe verzweifelt – nach Bedeutungslosigkeit gehascht, was in einem dadaistischen Horváth-Ping-Pong mit Sätzen und Fetzen aus verschiedenen Stücken und Prosastücken gipfelt.

Zum Bonmot-Wettbewerb grimassieren sie wild und turnen virtuos im Zeppelin herum – als alles nichts hilft, wird das Spielprinzip gewechselt, und die Freakshow aus "Kasimir und Karoline" – "Ich darf Ihnen erklären den Mann mit dem Bulldog-Kopf" – die vorher schon in bewährter Fritsch-Manieriertheit als Komödie dahergehopst kam, sorgt, nun im hohen Ton der Tragödie vorgetragen, für Bühnen-Tränen.

Überflüssige Scherzartikel

Aber das sind natürlich Krokodilstränen! Denn das Fritsch-Volk bleibt ja nicht ernst oder wird es später nur ganz kurz, nämlich als Carol Schuler an den Bühnenrand tritt und programmatisch verkündet: "Wir bringen jetzt Leben in die Bilder." Doch will das nicht so recht gelingen. Zu sehr konkurriert der Grusel dieser vielversprechenden Ambition mit dem Grusel, den zum Beispiel Horváths "Sportmärchen" enthält vom armen kleinen Jungen, der so ekstatisch für die Gegenwelt des Fußball brennt, dass er sich beim heimlichen Zuschauen verkühlt und im Fiebertraum kurz vor seinem Tod von einem Engel in Fußballtrikot in den Himmel abgeholt wird. Werner Eng trägt das mit so ernster Miene vor, dass man beinahe sein echtes Gesicht unter der Schminke sehen kann. Die Frage nach der Moral von der Geschicht wird zwar sofort von der nächsten Slapstick-Einlage weggewischt, aber sie duftet trotzdem störend nach.

Zeppelin2 560 Thomas Aurin uHinter Gittern: das Fritsch-Ensemble  © Thomas Aurin

Natürlich gibt es – vor allem, wenn sie ein Ensemble bilden, ein Fritsch-Ensemble aus lauter Stars, die sich für so unverwechselbar einzigartig halten wie sie verwechselbar gleichartig aussehen und wo trotzdem keiner dem anderen im Anwenden der Ellenbögen für mehr Einzel-Aufmerksamkeit nachsteht – hinreißende Charmeoffensiven: wenn sie etwa alle zusammen Jaques Offenbachs "Belle Nuit" trällern und dazu im Zeppelin Synchron-Gymnastik machen. Oder wenn sie als Raubkatzenbabies nach vorne gekrabbelt gekommen, sich fürchterlich erschrecken, als von den Seiten die Scheinwerfer angefahren kommen und sie zusammendrängeln, woraufhin sie sich betrübt bis entrüstet, aber immerhin gemeinsam ihrer Existenz als "überflüssige Scherzartikel" bewusst werden.

Ja, dieser "Zeppelin" weiß um sein eigenes Scheitern und verhehlt das auch nicht. Es fängt an mit seiner löchrigen Bauweise, die vor allem zum Spielen von Unfällen herausfordert. Doch gegen das Unglück der Horváth-Figuren ist in der Fritsch-Welt kein Kraut gewachsen. So hört es auf mit der einigen(den) Beklommenheit der letzten fünf Minuten, in der der Abend zu sich findet. Zum echten Schlussapplaus schwebt Herbert Fritsch dann, wie sollte es anders sein, über seinen Darsteller*innen im Zeppelin. Als Original-König des Reiches, das sie gerade eben erst zu erblicken begannen.

 

Zeppelin
nach Texten von Ödön von Horváth
Regie und Bühne: Herbert Fritsch, Kostüme: Victoria Behr, Musik: Ingo Günther, Dramaturgie: Bettina Ehrlich, Licht: Torsten König.
Mit: Florian Anderer, Jule Böwe, Werner Eng, Ingo Günther, Bastian Reiber, Ruth Rosenfeld, Carol Schuler, Alina Stiegler, Axel Wandtke.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.schaubuehne.de

 

Kritikenrundschau

Eigentlich sei "alles da". Aber: "Es ist nicht dasselbe." Einen Abend, "der trotz Anwendung aller bewährten Fritsch-Mittel und unter Einsatz der trainierten Spieler nicht richtig in Schwung und Spannung kommt", hat Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (20.9.2017) gesehen. Fritschs "Zeppelin" wecke "Zweifel und Kummer", ob dessen Volksbühnen-Arbeiten "an einem anderen Haus einfach so ersetzt werden" könnten. Das Problem, möglicherweise: "Fritschs die Zuschauer immer neu erschütternde, nun abgerissene Volksbühnen-Erfolgsserie gründete auch auf der Selbstüberbietung bei gleichzeitiger Selbstunterlaufung. ... Nun besteigt er als ruhmreich-erprobter Künstler ein unschuldiges Haus und soll machen, was er immer machte." Seidlers "zwiespältiger Wunsch": Dass Fritsch "seine peinvollen Selbstzweifel wiederfindet. Natürlich um sie mit der nächsten Arbeit glamourös zu überwinden".

Wie immer seien "die Spieler mit solcher Verve, so großer Virtuosität, Lust und Komik bei der Sache", dass man über die Fritsch'sche Sinnzerstückelung und Verfremdung seiner literarischen Vorlage fast hinwegsehen könne, bemerkt Barbara Behrendt bei Deutschlandfunk Kultur (19.9.2017). Der "naturalistische Horváth der zeitkritischen Volkstücke", der "Figuren mit Psyche und sozialer Herkunft" zeichne, interessiere Herbert Fritsch ja ohnehin nicht: "Es ist das Düstere an den Texten, das Geisterbahn- und Zirkushafte, das Abnorme und Skurrile, das Übersinnliche und Mystische, das der Regisseur ausloten möchte." Leider werde hier "das monströs-grandiose Bühnenbild" der hyperaktiven Körperchoreographie "zum Verhängnis": ermüdend sei, dass die Schauspieler*innen die meiste Zeit "in den Stahlrippen" hingen, ohne zu wissen, wohin mit sich. Das sei "alles andere als aufregend synchronisiertes Körpertheater", so Behrendt, für die das Bühnenbild das "Großartigste an diesem Abend" bleibt.

Ästhetisch ansprechend und "burlesk-komisch" findet auch Christian Mayer in der Welt (20.9.2017) die akrobatischen Choreographien der Darsteller*innen in "Zeppelin", schwach "das, was da mit dem Text geschieht": Als "völlig abstruse, alienartige Figuren" verkörperten die Schauspieler*innen keine Rollen, sie seien vielmehr "eine Art Mediatoren zwischen Ödön und Herbert", so Mayer. Keine der Hórvath’schen Geschichten werde auserzählt, es werde lediglich anzitiert und illustriert. Zusammengehalten werde das alles vom stählernen Zeppelingerüst auf der Bühne, Mayer zufolge "der zehnte Mann in der Inszenierung".

Acht Personen suchen ihren Horváth: Wenn Fritschs "Zeppelin" etwas vermittle von dessen fatalistischen, horizontal verlaufenden Dramen, dann "die brutale Leere. Die Öde von Horváth", schreibt Rüdiger Schaper im Tagesspiegel (20.9.2017). "Die aufgekratzten Akrobaten des Alltags stecken fest", bemerkt der Kritiker. "Und wenn einer fragt, siehst du Himmel, was sollen da die anderen antworten? Sie kommen nicht von der Stelle, das Zeppelin-Gerippe funktioniert gut als Gefängnis." So bleibt für Schaper nur die Hoffnung, der seltsame Abend möge sich als "Beginn einer wunderbaren neuen Theaterfreundschaft" erweisen.

Die Verbindung Fritsch und Horváth schien taz-Redakteurin Katrin Bettina Müller (20.9.2017) erstmal ein "vielversprechendes Konzept": "verwandte Seelen (...), die beide das Metaphysische auf dem Jahrmarkt suchen und sich mit Vorliebe den kleinen Illusionen widmen." In der Inszenierung jedoch machten zwar einzelne Sätze Spaß, verbänden sich aber nicht zu Dialogen und Szenen. "Denkt man zurück, was Fritschs Schauspieler in ‚der die mann‘ mit den Gedichten von Konrad Bayer veranstalteten, wie viele Doppel-, Drei- und Vierfachdeutung da in die Worte hineinkam", sei dieser Abend "eher enttäuschend schlicht". Was sie vermisst, sind Drähte, "die von den sozialen und philosophischen Erschütterungen der Welt damals in die von heute hätten reichen können".

Dem Abend fehle "die musikalische Struktur, von der gelungene Fritsch-Inszenierungen leben", moniert Mounia Meiborg in der Süddeutschen Zeitung (21.9.2017): "die einem Uhrwerk gleiche Präzision, die Endloswiederholungen, die klaren Zäsuren. Kurz: der Rhythmus." Die Verbindung Horváth / Fritsch hat auch für Meiborg Potential. Vom Text her betrachtet, bleibe das Ganze jedoch "ein autistisches aneinander Vorbeireden, aus dem kaum Szenen entstehen", stärker seien Gruppenchoreografien und Slapsticknummern. "Aber richtig komisch wird das alles kaum: Das Ganze ist eher Mr. Bean als Buster Keaton." Als Thema des Abends macht die Kritikerin "Machtverhältnisse" aus – "egal, ob Menschen über ihre vermeintliche Überlegenheit gegenüber Tieren schwadronieren, ein Zirkusdirektor seine 'abnorme' Attraktion vorführt oder ein Arzt seine Patientin belästigt. (...) Der anarchische Spott bekommt hier eine klare Richtung. Herbert Fritsch, der Großmeister des Nonsens, sucht vielleicht etwas Neues: Sinn."

Simon Strauss schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (23.9.2017): Mit "großer Lust an der Verrätselung" karikierten die Spieler des "spätdadaistische Effekthaschers Herbert Fritsch" ihre "straff bestrumpften Figuren", ließen sie "weit auslaufen" und führten sie "zurück ins Nirgendwo". "Denken tut weh – Turnen ist besser", laute die Devise. Ein "beständig vor sich hin blödelnder Bilder-Abend ohne Sinn und Verstand". Ein Stück oder "auch nur eine Szene" sei nicht zu erkennen, es ginge allein um die "Drehorgel-Stimmung", die "unterhaltsame Monotonie als glitzernde Tanzfläche für schlitternde Polonaisen".

 

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