"Wir bleiben"

Berlin, 22.-26. September 2017. Die Berliner Volksbühne ist besetzt worden. Darüber berichten verschiedene Medien. Eine Gruppe mit dem Namen "Staub zu Glitzer" hat am Nachmittag das Gebäude am Rosa-Luxemburg-Platz betreten. In einem Facebookbeitrag der Gruppe, die ihre Website "VB 61-12" nach der derzeit größten Atombombe B 6112 benannt haben, heißt es:

Laut taz waren mehr als hundert Menschen bei der im Foyer abgehaltenen Pressekonferenz zugegen, in deren Verlauf die Volksbühne, die einen heftig umstrittenen Intendanzwechsel hinter sich hat und seit August von Chris Dercon geleitet wird, zum "Eigentum aller Menschen" erklärt wurde. Zwei anwesende Polizisten hätten "vorerst kein Problem" gesehen, so die Zeitung. Auch eine Anzeige des Hauseigentümers gebe es bisher nicht. Offenbar planen die Aktivist*innen, sich auf Dauer in dem Haus einzurichten. Das legt die Verbreitung von "Hausregeln" nahe.

Denkmalschutz und Kunst

Ein Mitglied der Gruppe, das anonym bleiben wollte, bestätigte dieses Vorhaben gegenüber nachtkritik.de: "Wir werden bleiben." Im Haus zu wohnen werde vermutlich bis auf Weiteres notwendig zu sein, um den Betrieb des Hauses sicherzustellen. Die Volksbühne solle als Aushandlungsort dienen, "in welcher Stadt wir leben, arbeiten und wohnen wollen". Man sei sich, so die Pressesprecherin, "der Bedeutung dieses denkmalgeschützten Hauses bewusst", es werde "kein Nagel in die falsche Wand geschlagen, keine Wand beschmiert."

Überdies sind verschiedene Kunstaktionen, Podiumsdiskussionen, Lesungen sowie ein "Parlament der Wohnungslosen" geplant. Außerdem wurde auf der Pressekonferenz "zur Partizipation" eingeladen. "Insbesondere möchten wir auch das ehemalige künstlerische Personal der Ära Castorf dazu einladen, sich bei dieser Großinszenierung vielfältig zu engagieren. (...) Wir fordern alle ehemaligen Regisseur*innen auf, ihre Repertoire-Stücke nach Möglichkeit in den zukünftigen Spielplan zu integrieren."

Auf der Facebook-Seite "VB 61-12" wurde die Pressekonferenz live übertragen.

Es geht nicht um Dercon

Die Übergabe der Volksbühne an Chris Dercon sei "symptomatisch für die gesamte Stadtentwicklung", so die Gentrifizierungsgegner*innen in einem am späten Nachmittag versandten Statement. "Dabei geht es uns nicht um die Person Chris Dercon. Er ist inzwischen mehr Opfer als Täter in diesem Prozess. Neben der berechtigten Kritik aus der Fachwelt an dem neuen Konzept der Volksbühne als Plattform gab es eine Reihe von Protestaktionen gegen diese Entscheidung", doch die Politik verweigere "ein Einlenken" und verweise auf geschlossene Verträge. Jedoch, so stellte die Pressesprecherin hinsichtlich Dercon klar, distanziere man sich "ausdrücklich von allen Angriffen auf seine Person" und fordere den Kultursenat auf, "Chris Dercon eine andere, angemessene Wirkstätte zur Verfügung zu stellen."

Kritik von Kultursenator Klaus Lederer

"Kunstfreiheit ist immer auch die Kunstfreiheit der Andersperformenden!", verlautbarte am Abend Kultursenator Klaus Lederer auf seiner Facebook-Seite und kritisierte die Aktion. "Ja, der Kampf um Freiräume ist wichtig und notwendig. Er ist mir ein zentrales politisches Anliegen. Aber der Kampf um Freiräume kann nicht dadurch geführt werden, dass existierende Freiräume – ob mir gefällt, was dort passiert oder nicht – privatisiert und unter eine angemaßte Kontrolle gestellt werden."

Wer steckt dahinter?

Das Gerücht um eine geplante Besetzung der Volksbühne kursierte bereits seit mehreren Wochen, eine Ankündigung der Aktion "am Tag-X" veröffentlichte die "Staub oder Glitzer"-Gruppe im Netz. Wer dahinter steckt, ist bislang unklar. Erklärt wurde, dass "ein harter Kern von etwa 40 Personen mit einem Mantel von bis zu 110 Menschen" seit mehr als einem Dreivierteljahr "aktiv an dieser Operation mitgearbeitet" habe. Das Kollektiv bezeichnet sich selbst als "feministisch, antirassistisch und queer". Namentlich in Erscheinung getreten ist bislang nur Hendrik Sodenkamp. Sodenkamp war (nicht an der Volksbühne, sondern am Thalia Theater Hamburg) Hospitant beim ehemaligen Volksbühnen-Chefdramaturgen Carl Hegemann, später Protagonist der 2014 in Berlin gegründeten antikapitalistischen Gruppierung 'Haus Bartleby – Zentrum für Karriereverweigerung' sowie Koordinator des "Kapitalismustribunal", das 2015 in Kooperation mit dem Haus der Kulturen der Welt, Brut Theater Wien und dem Club of Rome dazu aufforderte auf Grundlage "des eigenen Erlebens der ökonomischen Wirklichkeit" Akteure des Kapitalismus auf seiner Internetseite öffentlich anzuprangern.

Via Twitter haben die Aktivist*innen am Abend eine Liste mit Unterstützer*innen verbreitet:

Unter den Unterstützer*innen sind u.a. Hochschullehrer *innen wie Wolfgang Engler, Giulia Palladini, Alice Creischer, Künstler*innen wie Dirk von Lowtzow, Ruth Herzberg, Andreas Siekmann und Raul Zelig, ehemalige Castorf-Schauspieler wie Uwe Dag Berlin und Mex Schlüpfer und der ehemalige Volksbühnen-Hausphilosoph Guillaume Paoli.

Erklärung der Dercon-Volksbühne

Es habe bis tief in die Nacht Gespräche zwischen den Aktivisten, der Kulturverwaltung und dem Volksbühnenteam gegeben, berichtet unter anderem die Berliner Zeitung. Auch Intendant Chris Dercon und Kultursenator Klaus Lederer seien dabei gewesen. Inzwischen hat die Volksbühne via Facebook eine Erklärung verbreitet: "Wir haben Besuch! Von gestern 17 Uhr bis heute in die frühen Morgenstunden fanden Gespräche zwischen Vertreter*innen der Volksbühne, des Senats, der Polizei und den Besetzer*innen statt. Die Gespräche endeten vorläufig ergebnisoffen. Offen ist auch inwiefern unser Probenbetrieb am Montag wieder aufgenommen werden kann", heißt es unter anderem. "Bitte habt Verständnis dafür, dass wir via Facebook aufgrund der laufenden Verhandlungen keine weiteren Fragen beantworten. Wir erwarten von den Besetzer*innen, dass sie zu ihren selbstverhängten Hausregeln stehen, das denkmalgeschützte Haus vor Schaden bewahren und unseren Mitarbeiter*innen friedlich begegnen. Und bitte lüftet mal."

Der zweite Tag

Am zweiten Tag der Besetzung, Samstag, den 23.9., veranstalteten die Besetzer*innen um 16 Uhr ein Plenum, bei dem eine Sprecherin, die sich mit ihrem Vornamen "Sarah" vorstellte, zunächst darüber informierte, dass die Gespräche mit dem Berliner Senat ergeben hätten, dass die Besetzung bis auf Weiteres geduldet und von einer Räumung durch die Polizei abgesehen werde – unter der Bedingung, dass das Kollektiv für die Kosten eines durch Fehlalarm ausgelösten Polizeieinsatzes am Freitag Abend aufkomme. Der einzige, der der Besetzung jetzt noch einen Strich durch die Rechnung machen könne, sei Chris Dercon – ob der Intendant vorhabe von seinem Hausrecht Gebrauch zu machen, wisse man nicht.

Video: nachtkritik.de / sd

Man plane für das Wochenende "die Situation zu zelebrieren" und erwarte für die Party am Samstagabend 6000 Gäste. Ab Montag werde man mit der Arbeit beginnen – "wir laden Chris Dercon und sein Team ein sich in unsere kollektiven Strukturen zu integrieren."

Der dritte Tag

Die Leitung der Volksbühne verbreitete am Nachmittag des 24. Septembers folgende Stellungnahme: "Keinesfalls verurteilen wir die Besetzer und ihre stadtpolitischen und sozialen Themen, die wichtig sind für Berlin." Verurteilt werde aber "die unverantwortliche Art und Weise", wie sich die Besetzer das "Haus gegriffen haben". Sie stellten "ihre Anliegen" über die "Sicherheit der Mitarbeiter" und des Publikums. Außerdem stellten sie sich "in beispielloser Anmaßung" über "unsere Künstler und deren Arbeit". Am Montag solle der Probenbetrieb wieder aufgenommen werden, was aber mit den Tag-und-Nacht-Veranstaltungen der Besetzer nicht vereinbar sei. "Diese Besetzung", so die Volksbühnen-Leitung sei nicht hinnehmbar. Sie fordert, dass "die Politik jetzt dringend ihrer Verantwortung nachkommt und handelt".

Der vierte Tag: Erklärung des Berliner Kultursenators

Die Senatsverwaltung für Kultur hat am 25. September eine Erklärung veröffentlicht: von der Devise "Deeskalation statt Konfrontation" geleitet würden Gespräche geführt. Für die stadtpolitischen Forderungen der Besetzer*innen liessen sich Möglichkeiten eröffnen, an vielen Orten weiter zu diskutieren. "Die Forderungen, sich die Volksbühne mit einer kollektiven Intendanz anzueignen, sind nicht erfüllbar."

Der fünfte Tag: Angebot der Volksbühnen-Leitung um Chris Dercon an die Besetzer*innen

Am 26. September 2017 unterbreitet die Volksbühnen-Leitung um Chris Dercon "den Besetzerinnen und Besetzern das Angebot, den Grünen Salon sowie den Pavillon für die Durchführung ihrer künstlerischen Angebote und zur Diskussion ihrer wichtigen stadtpolitischen Anliegen zu nutzen." Das teilt die Volksbühne in einer Presseaussendung mit (vollständige Pressemitteilung in Kommentar #41).

Diese Meldung wird bei neuer Sachlage ergänzt, letzte Aktualisierung 26.9.2017  20:20 Uhr.

(Die Welt / Das neue Deutschland / Tagesspiegel / tageszeitung / miwo / ape / sle / sd / jnm / chr)

 

Presseecho

 

Erste Medienberichte über den Nachmittag der Besetzung: Welt, Neues Deutschland, Tagesspiegel, tageszeitung, Deutschlandfunk Kultur, Berliner Zeitung.

Auf Spiegel Online (23.9.2017) schreibt Hannah Pilarczyk: "Zu einem Bolle, dem legendären Supermarkt, der während der ersten Kreuzberger 1.Mai-Krawalle abbrannte", werde die Volksbühne wohl nicht werden. "Aber vielleicht ja zu einer Berliner Version des Gängeviertels." Von dem Hamburger Gebäudekomplex, der vor acht Jahren besetzt worden sei, aus Protest gegen die Gentrifizierung," gäbe es jedenfalls einiges zu lernen - vor allem die Bündelung der verschiedenen stadtpolitischen Interessen und ihre Überführung in semi-permanente Strukturen und Anlaufpunkte".

Für die Welt (online am 23.9.2017) spaziert Jan Küveler am Sonnabend in der besetzten Volksbühne herum und schließt aus seinen Eindrücken: "Wäre es (…) nicht eine salomonische Synthese des Weltgeists, wenn dem tyrannischen Linken Castorf und dem frauenverstehenden Neoliberalen Dercon ein feministisch-queer-hierarchiefrei-anarchistisches Kollektiv nachfolgte, immerhin in einem Haus, in dem der dialektische Materialismus Denkmalschutz beanspruchen darf? Die erste Inszenierung ist schon mal gut."

Im Tagesspiegel (online am 23.9.2017) nimmt Rüdiger Schaper Berlins Kultursenator Klaus Lederer in die Verantwortung: Für die Besetzer nehme der sich mehr Zeit als für manchen Intendanten. "Dabei genügt ein Blick auf ihre Forderungen, um die Absurdität und die Kunstfeindlichkeit der Aktion zu erkennen", so Schaper. "Lederer hat ein Amt und eine Verantwortung. Dem wird er nicht gerecht." Er lasse an der Volksbühne einen rechtsfreien Raum zu und nehme in Kauf, dass Haus und Einrichtung beschädigt werden. "Und auch die Institution, die Tradition: Man darf den 'geilen' Besetzerkram nicht mit Frank Castorfs chaotischer Ernsthaftigkeit verwechseln."

Auf Deutschlandfunk Kultur (23.9.2017) vermutet André Mumot, dass es die Aktivisten auf eine Räumung womöglich anlegt haben könnten, "dass da Videos und Fotos entstehen sollen, wie Polizisten die Volksbühne stürmen und linke Demonstranten daraus ziehen". Das mache ihm Bauchschmerzen: "Dann ist wirklich, glaube ich, die Volksbühne unter Dercon gar nicht mehr zu retten – ideologisch nicht mehr zu retten."

Mark Siemons hat sich am Samstag in der Volksbühne umgesehen. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (online 24.9.2017) schreibt er: Für die Besetzergruppe sei das Theater "nur eine von mehreren Möglichkeiten, die durch die Aktion realisiert werden sollen." Bei der Vollversammlung am Samstagabend sagte "die erste 'Volk'  und Kinderbetreuung, der zweite 'Kunst', die dritte 'Gentrifizierung', der vierte 'Organisation'." Schon jetzt stark entwickelt sei "der Sinn für Verfahren und Regeln". In allen Gängen hingen die "Hausregeln". Weniger deutlich sei, ob der Plan aufgehe, in der Volksbühne Theater zu machen.

Medienberichte vom Montag (25.9. 2017) nach der Besetzung:

Die Besetzung komme von Aktivisten, die bisher nicht durch besondere Kunst- oder Theater-Expertise aufgefallen seien, schreibt Mounia Meiborg in der Süddeutschen Zeitung (25.9.2017). Die 1981 geborene Politik- und Literaturwissenschaftlerin Sarah Waterfeld habe sich die Aktion mitausgedacht. Schon vor Monaten habe Waterfeld namhafte Theaterleute um Unterstützung gebeten, "der Zulauf hält sich offenbar in Grenzen". Viele Besetzer, die im Januar an der Humboldt-Universität, eine Fakultät besetzt hätten, seien dabei. Meiborg schreibt, es lassen sich unter den Unterstützern drei Fraktionen erkennen: die alternative Kulturszene, die Berliner Clubszene und die linke Szene, die ihre Erfahrung mit Demos und Hausbesetzungen einbringe. Unter dem Titel "Die Rote Flora lässt grüßen" überlegt Peter Laudenbach, ebenfalls in der Süddeutschen Zeitung vom 25.9.2017: "Warum haben sich die Besetzer der Volksbühne eigentlich ein Theater für ihre konfuse und anmaßende Aktion ausgesucht? Weil es zu ihrem Kalkül gehört."

Geplant sei eine "zweijährige kollektive Interims-Intendanz", zitiert Jens Uthoff in der taz (25.9.2017) die Besetzer*innen. In der kommende Woche wollen sie sich an die "kuratorische Ausgestaltung des Orts" machen. Dabei sei das Interimskollektiv "sehr zuversichtlich", dass sich "einige namhafte Regisseure aus der Castorf-Ära" wie René Pollesch am Programm beteiligten. 

"So unterhaltsam das Spektakel für nicht wenige auch sein mag, entpuppt sich die quälende Volksbühnenaffäre mehr und mehr als kulturpolitische Bankrotterklärung", findet Harry Nutt in der Frankfurter Rundschau (25.9.2017). "Weit davon entfernt, ästhetische Fragen nach Sprechtheater und der Zukunft des Ensembles aufzuwerfen, sehen die Besetzer ihren Einsatz vor allem als kritischen Beitrag zur Stadtentwicklung." Falls die Besetzung bis zum heutigen Montag nicht beendet werde, müsse Dercon den Probenbetrieb des Theaters einstellen, heißt es von Nutt.

Auch international ist die Besetzung der Berliner Volksbühne Thema in Leitmedien wie dem Londoner Guardian, der Pariser Libération und der New York Times.

Im Tagesspiegel (26.9.2017) vergleicht Bernhard Schulz die Besetzung mit den Universitäts-Besetzungen der Jahre nach 1968 und den Hausbesetzungen der 80er Jahre, die den gesellschaftlichen Fortschritt vorangebracht hätten. Er kommt zu dem Ergebnis: ""Nicht einmal symbolisch kommt hier das Ringen um eine 'gute' Politik zum Ausdruck. Ein Theater ist ein Theater und eben kein Spekulantenwohnhaus."

in derselben Ausgabe des Tagesspiegel (26.9.2017) schreibt Gerrit Bartels, es scheine sich eine "starke Sehnsucht" nach dem "Berlin der Nach-Wendezeit", dem "Berlin der Extase, der Kollektivität, des euphorischen Widerstands". Nicht von ungefähr erinnere das Ganze an die "Kongresse" der Volksbühne in dieser Zeit, nur dass diese eben von der Volksbühne selbst organisiert worden seien. Das, was im Gebäude gerade geschehe und "wer hier welche Interessen" habe, wirke vor allem "diffus".

Auf dem Titel der Berliner Zeitung  vom 27. September 2017 (online 26.9.2017) wirft Ulrich Seidler den Besetzern mit ihrer im Kern undemokratischen und kunstfeindlichen Aktion vor, jedwede berechtigte Kritik an Chris Dercons Umbau des traditionsreichen Hauses am Rosa-Luxemburg-Platz zu diskreditieren. Die Besetzer "zerstören den demokratischen Zusammenhang, in dem sich die Debatte um die Volksbühne bisher abspielt. Sie setzen sich in aller Selbstzufriedenheit auf diesen Konflikt und verderben ihn."

 

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