Menschen im System

von Hartmut Krug

Dresden, 22. September 2017. Das Publikum sitzt im Zuschauerraum und auf der Hinterbühne – auf beiden Seiten eines schmalen, leeren Bühnenstreifens, während sich die Schauspieler in den ersten Zuschauerreihen eingerichtet haben. Hier ziehen sie sich um, bevor sie auf die, mit ihren zwei kleinen Schränken und zwei Wasserspendern fast leere Spielfläche steigen. Regisseurin Daniela Löffner gewährt uns mit ihrer Inszenierung Einblick in das soziale Verhalten von Menschen in ihrer Arbeitswelt. Wir sehen kein Krankenzimmer, keine Klinikräume, obwohl es weißbekittelte Ärzte sind, deren Interaktionen penibel untersucht werden. Arthur Schnitzler hat eine Arbeitswelt von Ärzten gezeigt, doch ein reines Ärztestück gibt es in Dresden nicht, da mögen sich die Darsteller noch so oft die Hände waschen.

Religion als Vorwand

Nach den ersten Inszenierungen von Schnitzlers Stück "Professor Bernhardi“ wurde in den neunzehndreißiger Jahren heftig darüber gestritten, ob das Stück Kunst oder Gesinnung sei. Löffners Inszenierung am Staatsschauspiel Dresden folgt deutlich Schnitzler, der damals in einem Brief schrieb, dass sein Stück eine Charakterkomödie und kein Tendenzstück sei. Und so bekommt hier jeder Darsteller genug Raum, seine Figur psychologisch auszumalen. Natürlich spielt beim Streit darum, ob der jüdische Chefarzt Bernhardi einem katholischen Priester den Zugang zu einer Sterbenden verwehren durfte, weil diese sich schon froh auf dem Weg des Genesens wähnte, Antisemitismus eine Rolle. Sicher wird Religion als Vorwand für politische Machtausübung eingesetzt. Doch wenn auch in den Diskussionen und Machtkämpfen der Ärzte gelegentlich erwähnt wird, dieser oder jener sei Jude, wirkt das Stück in Dresden weder politisch übermäßig aufgeladen noch aktualisiert.

Bernhardi 10 560 Sebastian Hoppe uUnterm kalten Neon liegt kein Strand: Ärzte im Karrieregerangel © Sebastian Hoppe

Uniformierte Arbeitswelt

Gezeigt wird eine ärztliche Büro- und Managerwelt im heutigen Habit, bei deren Sitzungen und Diskussionen es unter der Oberfläche heftig brodelt. Man horcht sich aus, man taktiert, man verfolgt Karriereabsichten und pflegt Freund- wie Feindschaften. Hier sind alle auch körperlich ständig in Bewegung. In Umbaupausen wird Musik eingespielt. Immer wieder verlangsamen sich die Bewegungen der Menschen zur Zeitlupe, ja fast bis zum Stillstand. Auch so zeigt sich das Eingebundensein der Menschen in ein System. Das wild ausufernde Frühlingsfest führt dann entfesselte Ärzte vor, tobende und tanzende, die sich den Zwängen ihrer uniformierten Arbeitswelt zu entziehen suchen, indem sie sich in Kostümen als Mr. Spock, als Junge mit den Scherenhänden und als andere Mediengestalten aus Film und Fernsehen austoben.

Szenisches Panorama

Raiko Küster ist ein untersetzter Bernhardi mit fester, fast dickköpfiger Haltung bei lockerer Körpersprache. Er gibt einen Denker, der fest in seinen Meinungen bleibt, aber gelegentlich ein fast unkontrolliertes Verhalten zeigt und sich nur von seinen eigenen Überlegungen leiten lässt. Die Auseinandersetzung mit dem Priester am Schluss des Stückes macht sehr schön deutlich, dass trotz eines Handschlages keine richtige Kommunikation zustande gekommen ist.

In dieser Inszenierung bekommt jede Figur Raum und könnte sich darstellerisch entfalten. Doch merkwürdigerweise öffnet die Inszenierung sich nicht hin zum Schauspieler-Fest, sondern wirkt eher, nun ja, fast lähmend. Hier spielt sich keiner in den Vordergrund, hier sind alle Teil eines szenischen Panoramas. Aber sie geben ihrer Figur jeweils zu viel spielerisch ausgebreitete Wichtigkeit. So wird der Abend sehr lang und steht allzu sehr unter Druck.

 

Professor Bernhardi
von Arthur Schnitzler
Regie: Daniela Löffner, Bühne: Mathias Werner, Kostüme: Katja Strohschneider, Musik: Matthias Erhard, Licht: Andreas Barkleit, Dramaturgie: Kerstin Behrens.
Mit: Raiko Küster, Dominik Maringer, Hans-Werner Leupelt, Moritz Dürr, Thomas Eisen, Holger Hübner, Betty Freudenberg, Karina Plachetka, Christine Hoppe, Philipp Grimm, Thomas Schumacher, Lukas Rüppel, Gina Calinoiu, Philipp Lux, Birte Leest, Hendrik Heutmann.
Dauer: 3 Stunden 10 Minuten, eine Pause

www.staatsschauspiel-dresden.de

 

An der Berliner Schaubühne inszenierte im Dezember 2016 Thomas Ostermeier Schnitzlers Professor Bernhardi.

 

Kritikenrundschau

Daniela Löffner ließ sich für die Inszenierung eine Art breiten Laufsteg auf die Vorderbühne bauen, und die Aussage sei so banal wie klar: "So etwas kann mitten in der Gesellschaft passieren", sagt Stefan Petraschewsky auf mdr Kultur (25.9.2017). "Die Inszenierung startet als geschäftiges Stelldichein der Ärzte zwischen Seifenspender und Trinkwasserautomat - ganz heutig also, und durchaus als überzogene Charakterstudie mit Witz." Die natürlich wirkende Sprech- und Spielweise im abstrahierten Bühnenraum wirke als schöner Kontrast. Einen Höhepunkt finde das Setting in der Krisensitzung der Ärzteschaft nach dem Rücktritt des Stiftungsrates. Doch "leider kann die Inszenierung dieses Niveau nicht halten." Durch völlig herbei-inszenierte Gesten gebe die Regisseurin ihre Hauptdarsteller der Lächerlichkeit preis.

"Daniela Löffners Regie bekam nicht einmal einen Zipfel des Stücks zu fassen. Schnitzlers Figuren blieben ohne Tiefe", schreibt Helmut Schödel in der Süddeutschen Zeitung (27.9.2917). Die banale Mechanik der Intrige sei nicht erwischt worden. "Im großen Schwung des Dresdner Beginns, zu dem auch ein Auftritt der Performance Gruppe Rimini Protokoll gehörte, fiel die Ambitionslosigkeit des Abends besonders auf."

Kommentare  
Professor Bernhardi, Dresden: und der Schluß?
Am Schluss des Stückes? Fehlen in Dresden eineinhalb Akte, oder wurden sie umgestellt? Das wäre jedenfalls für die Interpretation von Belang.
Professor Bernhardi, Dresden: Unterscheidungsmerkmal?
Noch ein Wort zum Teaser: Ja, die Welt der Ärzte war zu Schnitzlers Zeiten eine Männerwelt. Das Stück ist übrigens auch eins aus der Männerwelt der Pfarrer, der Rechtsanwälte und der Parlamentsabgeordneten. Aber ist das das Unterscheidungsmerkmal, um das es in "Professor Bernhardi" geht? Gab es in der Frauenwelt ein paar Jahre später keine Denunziation, keine Intrigen, keinen Antisemitismus? Helga Schuberts "Judasfrauen" versuchen eine Antwort. Und wäre dann etwa "Bernarda Albas Haus" ein Stück aus der Frauenwelt der Spanier?
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