Zum Fjord der Freaks

von Tilman Strasser

Köln, 22. September 2017. Hier ist die Welt noch Scheibe. Na, zumindest die Bühne: Eine große, runde, schräge, drehbare, mit goldenen Kacheln belegte Fläche reicht "Peer Gynt" als Bühnenbild. Von der herab schwindelt Jörg Ratjen als Titelheld seine berühmte Mär vom halsbrecherischen Ritt auf dem Bock. Unten windet sich Marek Harloff als Mutter Aase in diesem Moment noch in Geburtsschmerz (ja, die Ereignisse überschlagen sich ein wenig), im nächsten schimpft sie ihren Sohn Peer als Phantast, der er ist, im übernächsten sorgt sie sich um ihn. Beide tragen Strickware und grässliche Frisuren, Aase ein blondes Lockenwicklerverbrechen, Peer Gynt einen noch blonderen Vokuhila. Diese Variante des "nordischen Faust" lässt schon zu Beginn keinen Zweifel daran, welchen Ton sie anschlagen möchte: einen schrillen.

Trolle mit goldenen Riesenpenissen

Regisseur und Intendant Stefan Bachmann eröffnet die Spielzeit 17/18 am Schauspiel Köln mit Henrik Ibsens dramatischem Langgedicht – in der Übersetzung von Angelika Gundlach. Die schafft das Kunststück, sich streng an die metrische Form zu halten und zugleich sprachlich ins Flapsige, Schnoddrige, manchmal Derbe auszubrechen.

 PeerGynt2 560 Tommy Hetzel uLasst wilde Feen Euch umwehen: Jörg Ratjen (als Peer Gynt) und Max Mayer © Tommy Hetzel

Bachmanns Inszenierung wagt einen ähnlichen Spagat: Peer Gynts weltlicher und geistiger Selbstfindungstrip steht klar im Fokus, immer wieder darf Jörg Ratjen ins Leere monologisieren und mit der Unmöglichkeit, den eigenen Wesenskern zu fassen zu kriegen, hadern. Zugleich kippt das Geschehen bei jeder Gelegenheit in Richtung Freak Show: Als Peer Gynt auf die Trolle trifft, gebaren sich Seán McDonagh, Niklas Korth und Justus Maier leidenschaftlich überdreht, ausgestattet mit Bärten, Goldketten und goldenen Riesenpenissen.

"Du schwitzt, Prophet"

Kann das klappen? Kann's – denn obwohl sich in drei Stunden eine beeindruckende Textschwemme ins Publikum ergießt, behält der Abend fast immer seine Dichte. Obwohl die Atmosphäre beständig ins allzu Skurrile abzudriften droht (nicht zuletzt, weil alle der 36 Rollen mit den acht ausschließlich männlichen Schauspielern besetzt sind), halten die Darsteller doch die Nähe zum existenziellen Gram des Stückes.

Und auch das vereinzelte etwas einfallslose Bild wird sofort wieder aufgewogen: So vergleicht Peer Gynt zwar in der oft zitierten Szene seine Identitätskrise mit dem Schälen einer Zwiebel und findet allein am Bühnenrand höchst illustrativ: eine Zwiebel. Doch irrt er in seinem Übergangsberuf als Prophet lüstern über das mattgoldene Rund, während drei Sklavinnen vor ihm mit ihrer Choreographie genau zwischen Verführung und Verstörung irrlichtern: "Du schwitzt, Prophet, wirkst etwas angestrengt / gib mir das Ding, das da an dir hängt."

Bei der Heimkehr grüßt der Zombie

Sogar das Solvejg-Problem bekommt Bachmann in den Griff. Die von Peter Miklusz schön spröde getroffene Geliebte Gynts gewährt dem aus Marokko und Ägypten schließlich wieder nach Norwegen Heimgekehrten eigentlich Zuflucht in ihre mystisch verklärte Weiblichkeit. Dieser Aspekt hat dem Stück viel Kritik eingebracht. Hier taucht Solvejg lediglich noch einmal als Zombie-Variante auf und lässt, statt ein antiquiertes Frauenbild auszuwalzen, ihren Geliebten im Wald seiner Sinnsuche schlussendlich weitestgehend allein.

PeerGynt 560 Tommy Hetzel uWandelbares Männerensemble: mit Max Mayer und Jörg Ratjen (als Peer Gynt) © Tommy Hetzel

Ein wenig tun das indes auch die dramaturgischen guten Geister: In der letzten halben Stunde, in der Peer Gynt um seine Seele ringt, drängt die ansonsten so unbekümmert drastische Inszenierung ein wenig zu sehr aufs gewollt Innerliche. Fast unbeholfen leise endet der Abend nach all den grellen Einlagen, nach Gynt als selbstgefälligem Sklavenhändler, Gynt in einem wunderbar schrägen Irrenhaus, Gynt auf dem beeindruckend sinkenden Schiff. Mit diesen Wucht-Szenen war das Epos gekonnt in die Jetztzeit gesegelt. Und dafür gibt's zu Recht: Applaus, Applaus!

 

Peer Gynt
von Henrik Ibsen
Deutsch von Angelika Gundlach
Regie: Stefan Bachmann, Bühne: Olaf Altmann, Kostüme Jana Findeklee, Joki Tewes, Musik: Sven Kaiser, Choreografie und Körperarbeit: Sabina Perry, Licht: Jürgen Kapitein, Dramaturgie: Julian Pörksen.
Mit: Nicolas-Frederick Djuren, Marek Harloff, Niklas Kohrt, Justus Maier, Max Mayer, Seán McDonagh, Peter Miklusz, Jörg Ratjen.
Dauer: 3 Stunden, keine Pause

www.schauspiel.koeln.de

 

Kritikenrundschau

Eine Figur wie Solvejg könnte man als irreale Männerfantasie bloßstellen, oder sie mit einer Herbe ausstatten, die im Text nicht zu finden ist. "Stefan Bachmann hat das Problem elegant gelöst, in dem er seinen 'Peer Gynt' rein männlich besetzt", so Christian Bos im Kölner Stadtanzeiger (25.9.2017). Ohne Musik laufe nichts. "So wirkt diese Arbeit fast wie eine Opern-Inszenierung. Aber da die Gynt'schen Irrfahrten letztlich eine Reise durch die Abgründen und Untiefen seiner Seele sind, liefert die musikalische Untermalung hier den entscheidenden Subtext." Sie halte auch den Wechsel zwischen symmetrischer Formstrenge und praller Derbheit zusammen, mit dem Bachmann die episch-lange Strecke rhythmisiere. "Trotzdem schwächelt der Abend im Verlauf seiner - pausenlosen - drei Stunden gelegentlich. Zum Beispiel, wenn sich Peers Persönlichkeit in vier Sprecher spaltet - in ein Heer von Selbstsüchtigen, die in verschiedene Richtungen irren - erscheint das zwar inhaltlich völlig schlüssig, wirkt aber in der Ausführung ein wenig fahrig."

"Männer spielen hier alle Rollen, was Ibsens willige oder unverbrüchlich treue Frauenfiguren auch für Begriffsstutzige als fleischgewordene Männerfantasien entlarvt", so Hartmut Wilmes in der Kölner Rundschau (25.9.2017). Brilliere das Ensemble in fliegenden Rollenwechseln, so misst Jörg Ratjen imposant die ganze Spannweite der Hauptfigur aus: von deren Heißhunger auf die Welt bis zur Implosion des überspannten Egos. "Auf diesem Weg wird die Inszenierung immer dichter, dunkler, stärker." Fazit: "Prasselnder Beifall und Bravi für einen zwar nicht makellosen, visuell wie mimisch aber eindrucksvollen Spielzeitauftakt."

Stefan Bachmanns Inszenierung verzichte auf jede Abschilderung von äußerer Wirklichkeit. "Das macht sie auch zu einer Selbstbehauptung des Theaters, zur Reflexion über seine Mittel und seine Möglichkeiten", so Andreas Rossmann in der FAZ (27.9.2017). Die Inszenierung finde immer wieder überraschende Lösungen, die in Schaubuden-Satire und derbe Direktheit ausscheren. Doch der Aufführung mangele es an Stringenz, ihre Bilder zu gliedern und zu verzahnen. "Disparatheiten und Aufsage-Längen folgen mehr aufeinander, als dass sie ineinandergreifen, der düstere Schluss wird zerdehnt."

Prasselnder Beifall und Bravi für einen zwar nicht makellosen, visuell wie mimisch aber eindrucksvollen Spielzeitauftakt. – Quelle: http://www.rundschau-online.de/28483564 ©2017
Brilliert das Ensemble in fliegenden Rollenwechseln, so misst Jörg Ratjen imposant die ganze Spannweite der Hauptfigur aus: von deren Heißhunger auf die Welt ("Das Gyntsche Ich - oh Gott, das ist das Heer von Wünschen, Lust und dem, was ich begehr..") bis zur Implosion des überspannten Egos. Auf diesem Weg wird die Inszenierung immer dichter, dunkler, stärker. – Quelle: http://www.rundschau-online.de/28483564 ©2017
Brilliert das Ensemble in fliegenden Rollenwechseln, so misst Jörg Ratjen imposant die ganze Spannweite der Hauptfigur aus: von deren Heißhunger auf die Welt ("Das Gyntsche Ich - oh Gott, das ist das Heer von Wünschen, Lust und dem, was ich begehr..") bis zur Implosion des überspannten Egos. Auf diesem Weg wird die Inszenierung immer dichter, dunkler, stärker. – Quelle: http://www.rundschau-online.de/28483564 ©2017
Männer spielen hier alle Rollen, was Ibsens willige oder unverbrüchlich treue Frauenfiguren auch für Begriffsstutzige als fleischgewordene Männerfantasien entlarvt. – Quelle: http://www.rundschau-online.de/28483564 ©2017

Auch sonst läuft hier wenig ohne Musik, die stammt allerdings nicht von Grieg, sondern vom Theatermusiker Sven Kaiser und reicht von üppig-orchestraler Untermalung bis zu in Schwärze verhallenden E-Gitarren-Akkorden.

Fast eine Opern-Inszenierung

So wirkt diese Arbeit fast wie eine Opern-Inszenierung. Aber da die Gynt'schen Irrfahrten letztlich eine Reise durch die Abgründen und Untiefen seiner Seele sind, liefert die musikalische Untermalung hier den entscheidenden Subtext.

Sie hält auch den Wechsel zwischen symmetrischer Formstrenge und praller Derbheit zusammen, mit dem Bachmann die episch-lange Strecke rhythmisiert. Darin folgt er nicht zuletzt Angelika Gundlachs immer noch großartiger "Gynt"-Übersetzung, die metrische Strenge mit entwaffnend ordinärer Direktheit kombiniert.

Trotzdem schwächelt der Abend im Verlauf seiner - pausenlosen - drei Stunden gelegentlich. Zum Beispiel, wenn sich Peers Persönlichkeit in vier Sprecher spaltet - in ein Heer von Selbstsüchtigen, die in verschiedene Richtungen irren - erscheint das zwar inhaltlich völlig schlüssig, wirkt aber in der Ausführung ein wenig fahrig.

– Quelle: http://www.ksta.de/28481122 ©2017

olvejg, ein Gretchen, das nicht so einfach zu verführen, dafür aber mit Engelsgeduld auf ihren dann hoffentlich geläuterten Peer zu warten bereit ist.

So eine Figur, wie sie Ibsen vor ziemlich genau 150 Jahren erdichtet hat, kann man heute nicht mehr ungebrochen auf die Bühne bringen. Man kann sie als irreale Männerfantasie bloßstellen, oder sie mit einer Herbe ausstatten, die im Text nicht zu finden ist. Stefan Bachmann hat das Problem elegant gelöst, in dem er seinen "Peer Gynt" rein männlich besetzt hat.

– Quelle: http://www.ksta.de/28481122 ©2017

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