Tür auf, Tür zu

von Shirin Sojitrawalla

München, 23. September 2017. Das herrschaftliche Haus, in dem der Naturwissenschaftler Pawel und die Seinen bei Gorki hausen, sieht im Münchner Residenztheater aus wie ein baufälliger Elfenbeinturm. Ein in die Jahre gekommenes Wolkenkuckucksheim: stockfleckig, abgewohnt, lädiert. Die Wände sind übersät mit gelben Klebezetteln, Bildern und Skizzen, links wird die Entwicklung des Homo Sapiens zitiert, rechts da Vincis Menschenbild. Ganz oben steht undeutlich das Wort "Mensch" wie ein Versprechen unter der Decke. Das ist nur folgerichtig, geht es in diesem Stück doch allenthalben um den Menschen, den neuen und den alten. Den Menschen als angeblich zur Vernunft und Utopie begabtem Wesen.

Angesiedelt im vorrevolutionären Russland führt Gorki auch verschiedene Strategien vor, das Leben auszuhalten. Der Chemiker Pawel flüchtet sich ins Labor, der Maler Wagin in die Kunst, Pawels Schwester Lisa in ihre Krankheit, die Geschwister Melanija und Boris in die Liebe und in den Tod, der Schlosser Jegor in die Gewalt und so fort. Pawels Frau Jelena scheint dabei als einzige tatkräftig genug, sich der jeweiligen Situation zu stellen, ohne gleich davonzulaufen. Sie liebäugelt mit dem Maler Wagin, der sich in sie verliebt hat.

Schwärmerei mit Ei

Bei Gorki ist Jelena diejenige, die am Ende zur Waffe greift, um ihren Mann und ihren Status zu verteidigen. Doch in David Böschs Inszenierung fällt der kommende Aufstand beinahe aus beziehungsweise entlädt sich in einem Schlagzeugsolo vom Band, Nebelschwaden und einer Batterie Scheinwerfer, die ins Publikum leuchten. Das bringt nur die Klebezettel, Skizzen und Bilder an den Wänden zum Zittern. Oder sind wir buchstäblich zu verblendet, um die Gefahr zu sehen?

KinderderSonne 17 560 Dashuber uIn dramatischer Polonaise: Aurel Manthei (Wagin), Katharina Pichler (Melanija) Norman Hacker
(Protassow), Hanna Scheibe (Jelena) © Thomas Dashuber

Das Harmlose fügt sich in jedem Fall besser in den boulevardesken Zuschnitt dieser Inszenierung. Bühnenbildner Patrick Bannwart hat passenderweise einige Türen geschaffen, die immer wieder beherzt auf- und zugestoßen werden. Die Gesellschaftskomödie scheint David Bösch mehr zu interessieren als die politische Schwerkraft des Textes. Dabei kommen die Figuren wie schon bei Gorki eher als Typen daher: Melanija, die sich unsterblich in Pawel verliebt, gibt Katharina Pichler als hübsch stabile Blondine mit Fähigkeit zu großen Gefühlen. Einmal übergibt sie ihrem Angebeteten die gewünschten Hühnereier, die sie lose in der Handtasche trägt. Ein sinnfälliges Bild für den Unverstand der schwärmerischen Frau. Schlosser Jegor kommt bei Thomas Huber dann als genau der viehische Prolet daher, als den ihn Gorki zimmert, und Norman Hacker verkörpert Pawel als verrückten Professor, wie er im Buche steht: cholerisch, hilflos, weltfremd und ohne seine Frau Jelena verloren. Hanna Scheibe spielt diese sehr glatt und wirkt dabei oft, als trete sie gerade in einer gepflegten Unterhaltungskomödie auf.

Von oben alles ruhig

Die fallsüchtige Lisa und der Tierarzt Boris nehmen sich da wie ernsthafte Alternativen aus. Mathilde Bundschuh spielt die kränkliche junge Frau und hellsichtige Warnerin mit Unschuld im gespenstisch wächsernen Blick. Gleich zweimal hält sie den Umstehenden ihre Blindheit und ihr Unglück vor und kündigt kältere Tage an. Zuerst tritt sie dazu ganz nah an die Rampe und wendet sich nur ans Publikum, später dann spricht sie es noch einmal auf der Bühne zu den anderen. Wir sind die, heißt das. Davor allerdings muss sich niemand fürchten, denn denen da oben droht ja, wie erwähnt, an diesem Abend kaum Gefahr.

Lisa liest aber nicht nur den Eliten die Leviten, sondern erweist sich auch als wahrhaft tragisch Liebende in diesem Stück. Die Anträge des Tierarztes lehnt sie so lange ab, bis es zu spät ist, Ja zu sagen.Till Firit spielt diesen Mann als einen, der um die Trostlosigkeit der Komik weiß und um den Witz an der Tragik. Schön anzusehen, wie es diesem Schauspieler gelingt, seine fiebrig abgründige Figur nie vollständig auszuerzählen.

Die anderen wirken dagegen oft fix fertig. Sie verharren dabei im Eindeutigen wie auch manches Kostüm: Maler Wagin etwa trägt einen säuberlich mit Farbe beschmierten Overall, Melanija eng Anliegendes in aufdringlichen Farben. Das wirkt dann in etwa so einschichtig wie der Abend insgesamt. Kurz: Ein paar Verrücktheiten hätten hier not beziehungsweise sicher gut getan.

Kinder der Sonne
von Maxim Gorki
Deutsch von Ulrike Zemme
Regie: David Bösch, Bühne: Patrick Bannwart, Kostüme: Meentje Nielsen, Musik und Komposition: Karsten Riedel, Licht: Gerrit Jurda, Dramaturgie: Sebastian Huber.
Mit: Norman Hacker, Mathilde Bundschuh, Hanna Scheibe, Aurel Manthei, Till Firit, Katharina Pichler, Joachim Nimtz, Max Koch, Thomas Huber, Pauline Fusban.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.residenztheater.de

 

Kritikenrundschau

Was Bösch und die gut aufgelegten Schauspieler aus dem Stück herausholen, "ist die triste Lächerlichkeit der Redensarten, mit denen diese Insassen ihrer eigenen Ich-Projekte einander behelligen", so Jürgen Kaube in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (25.9.2017). Alle Zweiermuster seien unglücklich ineinander verhakt. "Auf der von Patrick Bannwart großartig als riesiges Wohnzimmer mit angeschlossener Laborkammer eingerichteten Bühne des Münchner Residenztheaters leben sie darum auch nicht zusammen. Sie treten nur ständig durch eine der vielen Türen auf." Bösch entscheide sich zumeist für die Karikatur. Wie in der Karikatur eine Seele unterzubringen sei - "diese Frage steht zweieinhalb Stunden lang im Bühnenraum, denn Gorki hat sie nicht beantwortet".

Mit einer lauen Inszenierung eröffne das Residenztheater die Saison, findet Christine Dössel (Süddeutsche Zeitung, 25.9.2017) deutlichere Worte. Ein bräsig-komischer, möchtegern-politischer Abend, an dessen Ende tatsächlich die Realität in Form eines Volksaufstandes herein- und das Bühnenbild teilweise zusammenbriche. "Aber das ist nur ein Knalleffekt, wie der Regisseur David Bösch sie gerne einbaut in seine oft kernig unterkomplexen Inszenierungen - mit gleißenden Scheinwerfern, Rauchschwaden, Schlagzeug-Krawumm." Fazit: "Viel Gefühlspolitik, wenig Substanz."

 

 

 

 

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