Schöner, neuer Mensch

von Michael Bartsch

Dresden, 23. September 2017. Volker Lösch wieder in Dresden! Hier kulminierten seine Bürgerchor-Ideen, hier nahm er 2004 mit den "Webern" die Wutbürger vorweg und sorgte für einen Republikskandal, hier führte er 2015 mit Graf Öderland eben diese mit Pegida konkret gewordenen Wutbürger wieder vor. Die letzten drei Stunden eines fragwürdigen Fünf-Premieren-Marathons zum Spielzeitauftakt des Staatsschauspiels gehörten in der Samstagnacht ihm und einer erneut extrem kraft- und personalaufwändigen Inszenierung.

"Der Weg ins Leben" lautet der Zweittitel des 1935 vollendeten "Pädagogischen Poems", das der sowjetische Pädagoge Anton Makarenko rückblickend verfasste. Seine Versuche, die infolge des Bürgerkrieges nach der Oktoberrevolution vagabundierenden Waisenkinder und verwahrlosten Jugendlichen wieder zu domestizieren, machten ihn zur Legende. Mehr noch, mit der scheinbar siegreichen kommunistischen Sozialutopie sollten sie zugleich Prototypen des neuen Menschen werden, der aus dem "Rohmaterial" zu erziehen wäre.

Fulminantes Massentheater

Eine halbe Stunde lang rauscht diese Einführung als fulminantes Massentheater über die Bühne des Dresdner Schauspielhauses. Nadja Stübiger als Kommissarin und Viktor Tremmel als Makarenko schaukeln sich gegenseitig hoch und entwickeln Vorstellungen von der Erziehung durch Arbeit und im Kollektiv, dem Freisetzen von Potenzialen durch eine seelische "Explosion", von der Gründung einer Kommune. "Aber der Mensch muss mit all seiner Kompliziertheit und seiner Schönheit erhalten bleiben", fordert sogar die Kommissarin. Volker Lösch ist in seinem Element, die Massenszenen erinnern an die Ästhetik der frühen Sowjetfilme, der große Jugendchor spricht leidenschaftlicher und dennoch disziplinierter als je zuvor.

WegInsLeben 005 560 FotoSebastianHoppeViktor Tremmel als der Pädagoge Anton Makarenko © Sebastian Hoppe

Apropos Disziplin. Der Begriff hätte zum Schlüsselwort der Inszenierung werden können. Vor allem die frühe Schlüsselszene, als sich ein Bestrafter und zeitweise von der Kommune Isolierter nach seiner Züchtigung für seine Strafe bei Makarenko bedankt. Inwieweit darf man Heranwachsende zu ihrem Besseren zwingen, oder sollte man ausschließlich auf intrinsische Motivation setzen? Nach dem in Brechtscher Schärfe vorgetragenen Exposé wartete man eigentlich auf eine Diskussion.

Stattdessen folgt unvermittelt zunächst eine Viertelstunde mäßiges Kabarett. Die Parodie auf das Politbüro und andere DDR-Parteifunktionäre misslingt einmal, weil sie die imitierten Typen nicht trifft und Walter Ulbricht kein schreiender Choleriker war. Sie ist aber auch fehl am Platz, weil der versuchte Kulturkampf des 11. Plenums gegen die Beatmusik und andere Entartungen westlicher Jugendkultur nicht auf eine Stufe mit den existenziellen Problemen der frühen Sowjetunion gestellt werden kann.

Drill als Erziehung

Gleichermaßen fragwürdig erscheint die gerade Linie, die nun von Makarenko zu den Exzessen in DDR-Kinderheimen und vor allem zum berüchtigten geschlossenen Jugendwerkhof Torgau gezogen wird. So jedenfalls muss der kommentarlose Übergang erscheinen, obschon es der maßgeblich an der Textfassung beteiligte neue Chefdramaturg Jörg Bochow als profunder Russland-Kenner besser weiß und im Programmheft schreibt. Der Idealist Makarenko war immerhin von Rousseau oder Pestalozzi beeinflusst.

Es folgen geschlagene 100 Minuten Dokumentartheater. Auf erschütternde Weise berichten fünf Zeitzeugen von ihren Erfahrungen. Der hölzerne Kubus mit verschließbaren Lamellenwänden, den Cary Gayler auf die Bühne gebaut hat, wirkt nun erst recht wie ein Knast. Aber schlimmer: Es geht zu wie im Lager, fürchterliche Dinge geschehen. Der militärische Drill, die Einzel- und Kollektivstrafen werden wiederum chorisch und körperintensiv zelebriert. Die einen brüllen ständig, die anderen werden auch für das Publikum fühlbar zerbrochen.

WegInsLeben 017 560 Sebastian Hoppe uEin Ensemble unter der Knute © Sebastian Hoppe

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Das geht wirklich unter die Haut, aber es nutzt sich allmählich auch ab. Vor allem deshalb, weil das Geschehen entwicklungslos plakativ stagniert und in keinen Kontext gestellt wird. Nicht erst Kommunisten haben versucht, Menschen zu brechen und nach ihrem Menschenbild neu aufzubauen. Was geschah nicht alles im Namen der Kirche? Man lese nur, was Thomas Bernhard über seine Zeit im katholisch-nazistischen "Johanneum" in Salzburg schreibt. Bis heute betreiben Sekten wie Scientology Gehirnwäsche.

Eine Viertelstunde vor Schluss, während noch die leidenden Kinder von damals ihre Traumatisierungen schildern, platzen plötzlich bunte "Think positive"-Typen herein, jedenfalls irgendwie Selbstoptimierer der Spaßgeneration. Sie stiften eher Verwirrung, während die letzten zwei Minuten zum pointierten Anfang zurückkehren. Überraschend bekennt sich nämlich der langjährige Leiter der Salem-Eliteschule am Bodensee zum Scheitern des liberalen Pädagogikansatzes und zur Disziplin als Voraussetzung für den Erfolg. Jetzt, meint man, könnte das Stück losgehen und in den Diskurs einsteigen. Aber da klatscht schon die eine Hälfte des Publikums stehend Beifall, während die andere zögernd verharrt.

 

Der Weg ins Leben
nach Zeitzeugenberichten und Texten von Anton Makarenko
Spielfassung von Jörg Bochow und Volker Lösch
Regie: Volker Lösch, Bühne: Cary Gayler, Kostüme: Carola Reuther, Dramaturgie: Jörg Bochow.
Mit den Zeitzeugen: Ilona Enskat, Anette Gebel-Kozian, Stefan Lauter, Andreas Richter, Detlev Sadrinna und als Spieler: Luise Aschenbrenner, Jannik Hinsch, Malte Homfeldt, Hannah Jaitner, Moritz Kienemann, Deleila Piasko, Daniel Séjourné, Nadja Stübiger, Yassin Trabelsi, großer Jugendchor.
Dauer: 2 Stunden 50 Minuten, eine Pause

www.staatsschauspiel-dresden.de

 

Kritikenrundschau

Volker Lösch finde zunächst ein großartiges Bild. Auch der große Rhythmus stimmte, "Chorszenen wechseln mit Dialogen ab", so Stefan Petraschewsky auf mdr Kultur (24.9.2017). Alles wird frontal ins Publikum serviert, "nach einem schlüssigen Vorspiel, das die Vorgeschichte in der Sowjetunion vorstellt, wird es für die DDR-Zeit multimedial. Auf Radiokommentare, die sich gegen einen verwahrlosten, westlichen Lifestyle richten, folgt ein Filmausschnitt aus 'Spur der Steine'." Der revuehafte und auch ironisch-leichte Ansatz bleibe aber auf der Strecke, als fünf Zeitzeugen über ihr Leben im Jugendwerkhof Torgau berichten. "Wo illustriert wird, wird geschrien. Vielleicht, weil es einmal von den Zeitzeugen heißt: 'Es war nur eine Redensart. Das war Brüllen!'". Insgesamt ein durchwachsender Start von Joachim Klement in Dresden, so Petraschewsky.

Eine "famose, vor allem physische Leistung" zeigen Chor und Ensemble an diesem Abend, berichtet Rainer Kasselt in der Sächsischen Zeitung (25.9.2017). Differenzierung sei für die Inszenierung ein "Fremdwort"; Lösch wolle das "Tribunal". Die Zurichtung von Jugendlichen im DDR-Jugendwerkhof werde "in langen und schmerzhaften Szenen fast naturalistisch" gezeigt.

"FM Einheit lasse die Musik zum Komplizen werden, um die Wucht der Erniedrigungen und Misshandlungen zu unterstreichen", so Helmut Schödel in der Süddeutschen Zeitung (27.9.2917). Die Arbeit von Volker Lösch habe etwas Schonungsloses und sei beeindruckend konsequent. "'Der Weg ins Leben' ist ein richtig großer Brocken Theater."

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