Rührung statt Sozialismus

von Esther Slevogt

Berlin, 23. September 2017. In der Geschichte gibt's Mord, Flucht und jede Menge Unglück. Doch alles fängt sehr gepflegt an. Zu süffigen Riffs einer sanft rockenden E-Gitarre beginnt ein Mann im weißen Anzug mit dem rauchigen Pathos eines Barsängers zu singen: "In alter Zeit, in blutiger Zeit ...", fast so, als wären wir heute irgendwie weiter. Auf diesen, von Bert Wrede komponierten Tönen werden wir durch den ganzen Abend gleiten. Manchmal schwellen sie dramatisch an. Manchmal plätschern sie wie die Handlung etwas läppisch dahin. Der Schauspieler und Sänger Ingo Hülsmann steht erst noch mit dem Rücken zum Publikum und schaut auf die leere Bühne (wobei diese Leere wohl nicht ganz freiwillig ist. Ein Bühnenbild von Olaf Altmann kam, wie man hört, nicht zum Einsatz). Nur ganz hinten steht ein Gitarrist und produziert live besagte E-Gitarren Musik zu Hülsmanns manchmal provozierend laszivem Gesang.

Viehische Wesen, niedere Instinkte

Und dann kommt sie, die berühmte Geschichte vom reichen Gouverneur (Peter Luppa), dem bald unter Einsatz von viel Theaterblut die Kehle durchgeschnitten wird, seiner kaltherzigen jungen Frau und vor allem seinem neugeborenen Kind und dessen Retterin, der Magd Grusche. Grelle Figuren treten aus dem Dunkel in einen Lichtkegel in der Mitte der Bühne und fangen an, Theater zu spielen. Stumpfe, dumpfe und grobschlächtige Figuren, deren menschliche Regungen allesamt zu ziemlich niederen Instinkten verkommen sind. Egal, ob sie morden oder lieben. Die unromantisch glotzen, kreischen und stammeln. Fast viehische Wesen, die sofort nachvollziehbar machen, warum die junge Gouverneurin, von Sina Martens zunächst als blöde Hipsterzicke angelegt, beim Kontakt mit diesem Volk stets Migräne bekommt.

Rührstück

Bertolt Brecht schrieb sein Stück "Der kaukasische Kreidekreis" in den Jahren 1944/45 im kalifornischen Exil. Auf einer Collegebühne in Minnesota wurde es 1948 uraufgeführt. 1954 inszenierte Brecht die deutschsprachige Erstaufführung im Theater am Schiffbauerdamm, das er mit seinem, 1949 am Deutschen Theater gegründeten Berliner Ensemble ein halbes Jahr zuvor bezogen hatte. Das Premierendatum war auch der fünfte Jahrestag der DDR-Gründung, und das Stück liefert mit seiner saftigen Fabel triftige Begründungen, warum die alte kapitalistische Ordnung abgeschafft gehört hatte: ebenso wie das Kind in die Hände der Frau gehört, die es liebt und gedeihen lässt, statt zu seiner lieblosen leiblichen Mutter, gehören die Produktionsmittel in die Hände derer, die damit produzieren statt sie nur zu besitzen und anderer Arbeit auszubeuten.

Kreidekreis1 560 MatthiasHorn uStefanie Reinsperger als Magd Grusche im "Kaukasischen Kreidekreis" im Berliner Ensemble mit Nico Holonics  
© Matthias Horn

Doch (nicht nur) diese Rahmung ist in der knapp zweistündigen Spielfassung am Berliner Ensemble des Jahres 2017 gestrichen, wo nun der Regisseur Michael Thalheimer heißt. Das Drama ist im Grunde auf das reine Rührstück der Magd Grusche reduziert, die unter Einsatz ihres Leben und ihres Glücks das Kind ihres Herren annimmt und rettet: wie sie unterwegs barmt und leidet, zittert und bebt, mit der Entscheidung hadert, ihre Liebe opfert und doch nicht anders kann.

Zart und zerreißend

Allerdings wird diese Magd von Stefanie Reinsperger gespielt, einer Schauspielerin mit archaischer, fast animalischer Wucht, auf die die berühmte Beschreibung des Regisseurs Jürgen Fehling für Heinrich George passt, der den großen Schauspieler als "mozärtlichen Elefanten" beschrieb. Wie Reinspergers Grusche mit ihrer geballten physischen Präsenz in den Abend linkisch die zärtlichsten und zartesten Momente tupft: in blauem Kittelkleid und mit überdimensionierten blonden Zöpfen. Die schönsten Szenen spielt sie mit Nico Holonics, der ihr als Verlobter Simon Chachawa ein kongenialer Partner ist: zart, zäh und herzaufschürfend. Wie beide sich erst finden und dann wieder verlieren. Wie die Verzweiflung sie zerreißt (und es anders als bei Brecht für sie auch kein Happy End geben wird).

Doch leider gießt Michael Thalheimer über alles in steter Geflissenheit sein szenisches Lieblingsdressing: Theaterblut. Auch der Kreidekreis ist später eine Blutlache. Darin steht mit schwarzer Lockenperücke blutübergossen die unverständlichste und unverstandenste Figur des Abends: Tilo Nest als Richter Azdak. Bei Brecht ein bauernschlauer Robin Hood, den die Kriegswirren ins Richteramt brachten, wo er nun die Reichen ausnimmt und den Armen zu ihrem Recht verhilft. Bei Thalheimer gibt es keine Idee für diese Figur: Er ist eine zappelige Witzfigur, deren gewichtiger Urteilsspruch daher ebenso im Nichts verpufft wie die Moral von der Geschicht', die Dramaturg Bernd Stegemann im Programmheft so ausführt: "Brechts Satz, dass die Ausbeuter nicht zu allen Zeiten mit denselben Mitteln ausbeuten, gilt heute mehr denn je. Was bei der Arbeit an der Maschine noch offensichtlich ist, ist in den neoliberalen Wohlstandszonen hinter einem dichten Schleier verschwunden." Im BE versinkt das jetzt in Theaterblut.

 

Der kaukasische Kreidekreis
von Bertolt Brecht
Regie: Michael Thalheimer, Kostüme: Nele Balkhausen, Musik: Bert Wrede, Dramaturgie: Bernd Stegemann, Licht: Ulrich Eh.
Mit: Stefanie Reinsperger, Ingo Hülsmann, Tilo Nest, Nico Holonics, Sina Martens, Carina Zircher, Veit Schubert, Sascha Nathan, Peter Luppa, Kai Brückner und Kalle Kalima (Live-Musiker).
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.berliner-ensemble.de

 

Kritikenrundschau

Wuchtig gehe es zu, "hart, klar und im brutalstmöglichen Frontalangriffsstil", schreibt Peter Laudenbach (Süddeutsche Zeitung, 25.9.2017) in seiner Besprechung der Eröffnungspremieren am Berliner Ensemble. Der Tragiker Thalheimer sprenge Brechts Dialektik-Märchenonkel-Sentenzen auf und zeige "lauter ums nackte Überleben kämpfende, knapp am Rand der Vertierung verrohte Existenzen", "ein Albtraum, eine Wucht, der entschlackteste Brecht, den man sich nur wünschen kann". Fazit insgesamt: gelungener Neustart, "der Bruch zur Ära Peymann ist überdeutlich".

"Der Start unter dem neuen Intendanten Oliver Reese hat etwas von einem Muskelspiel, dem sich wie von selbst ein Werbetext unterlegt", findet Katrin Bettina Müller in der taz (25.9.2017). Schauspielerin Stefanie Reinsperger sei das Pfund, mit dem Thalheimer bei seinem Auftakt wuchern können, "eine junge Frau von unerschütterlich wirkender Kraft, mit kräftiger Statur und langen blonden Zöpfen – die dann aber doch sehr bald ins Zittern und Zagen gerät". Diese Konzentration auf einen Erzählfaden mache das Drama einerseits zugänglich, "überlässt andererseits, was es an Kontext so einzuspeisen gäbe, getrost dem Zuschauer. Der am Berliner Ensemble ja meist doch eine große Seherfahrung mitbringt. Und sich so auch im neuen BE bald zurechtfinden wird."

"Michael Thalheimer hat zum Eröffnungswochenende einen Brecht hingedonnert", so Rüdiger Schaper im Tagesspiegel (25.9.2017). Und wieder, wie schon zwei Tage zuvor beim Caligula, dröhnen die Schauspieler, brülle es aus ihren Mündern, schreie dich der Text an. "Stefanie Reinspergers schauspielerische Naturgewalt würde doch schon ausreichen, das volle Haus zu erschüttern."  Auch wenn Thalheimers Regie alte Frauenklischees bediene, "die Grusche der Reinsperger berührt tief". Fazit: "Viel schmieriges Blut, dämliche Chargen, verdrehte Kreaturen: Ein Kommentar zum Berliner Theaterleben im Herbst 2017. Hart, aber hässlich."

Doris Meierhenrich beobachtet für die Berliner Zeitung (25.9.2017), "dass das 'Kreidekreis'-Personal durch die radikal reduzierte Erzählung hetzte, krümmte, rutschte und jammerte, als wären sie alle mit Gift aufgespritzt". Man kenne Thalheimers Auffassung, dass "Gegenwärtigkeit aus einem Text springt, wenn man ihn nur in möglichst schrille Körperhaltungen zwingt", schreibt die Kritikerin. "Für Brecht allerdings ist das zu wenig. Ihm muss man mit Gedanken beikommen, nicht mit Nerven." Das "Mutter-Melodram", das Thalheimer aufführe, rückt für die Kritikerin "gefährlich nah an Bauerntheaterkitsch".

Von "einem wahren Glücksfall der neueren Brecht-Pflege" schwärmt Ronald Pohl vom Standard (26.9.2017). "Brechts verwickelte Gerechtigkeitsdebatte" werde bei Thalheimer "zur physischen Zerreißprobe erklärt". Das "stark gekürzte Stück zuckt wie ein unter Strom gesetzter Kadaver". Besondere Würdigung durch den aus Österreich angereisten Kritiker erfährt die "Österreicherin Stefanie Reinsperger" für ihre Grusche-Verkörperung.

 Das "insgesamt gute Ensemble tröstet" Hubert Spiegel von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (26.9.2017) "nur ein wenig darüber hinweg, dass nicht recht erkennbar wird, was Thalheimer heute noch an Brechts wenig subtiler, aber keineswegs harmloser Fabel interessiert". Völlig unklar werde die Deutung mit Tilo Nest als Azdak Sein Auftritt mit Bojarenmütze solle "wohl auf den Gottesnarren abzielen, kommt aber über einen bekifften Pudel nicht hinaus". Größe gewinne die effektorientierte Inszenierung nur mit Stefanie Reinsperger als Grusche und Nico Holonics als Simon, die "um ihre aussichtslose Liebe kämpfen. Große Gefühle sogenannter kleiner Leute, ins Tragische gewendet."

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