Völlig schwerelos

von Michael Wolf

Berlin, 24. September 2017. Die Stimmung ist erstaunlich gut. Das Publikum des postmigrantischen Gorki Theaters lässt sich den Abend nicht versauen vom guten Abschneiden der AfD bei der deutschen Bundestagswahl. Dabei spielt das Stück sicher nicht zufällig in einem chauvinistischen System. Fremdwörter und politisch korrekte Sprache sind hier verboten, Europa ist längst Vergangenheit und "alle Länder werden von Männern regiert, die nackt auf Pferden sitzen und eine Mauer um ihr Land gebaut haben".

Lang kann so eine Welt nicht bestehen. Die Apokalypse naht. Und die wollen die vier Heldinnen lieber aus sicherer Entfernung beobachten. Sie planen, auf dem Mars eine matriarchale Siedlung zu gründen. Als Gefährten müssen sie aber zuvor noch notgedrungen männliche (Geschlechts-)Partner auswählen. Sonst wird das nichts mit der Kolonisierung. Es gibt also ein Casting. Diese Science-Fiction-Farce hat die Autorin Sibylle Berg nur halb aus der Luft gegriffen. Tatsächlich plant eine private Initiative die Besiedlung des Mars. 2025 soll die Rakete starten.

Intellektuelle neuen Typs?

Sibylle Berg geht es in ihrem Text "Nach uns das All" aber natürlich nicht um die Raumfahrt. Es geht ihr auch nicht im engeren Sinne um die AfD, Trump oder das Geschlechterverhältnis. Es ist nicht mal klar, dass es Sibylle Berg um überhaupt etwas geht. Was steht schon auf dem Spiel? Zu betrauern wäre nichts am Untergang dieser Welt. Dafür hebt sich zu wenig ab vom Grund der sehr flachen Textfläche. Beschreibt Sibylle Berg die Gegenwart, dann grundsätzlich pauschal. Sätze beginnen mit "Jeder", "Alle", "Man ist", "Menschen sind".

Nachuns2 560 UteLangkafel uBlümerant und kleinkariert: Eine Reisegruppe sucht den Mars © Ute Langkafel

Das Gorki hat die Uraufführung sicher nicht grundlos auf den Tag der Bundestagswahl gelegt. Sibylle Berg genießt den Ruf einer politischen Autorin – erstaunlicherweise ohne eindeutige Haltungen zu beziehen. Sie benennt die Konfliktlinien der Gesellschaft, gibt zu verstehen, dass sie auf der richtigen Seite steht, jedoch: Niemals würde sie aus ihrer Kritik etwas ableiten, was über Plattitüden hinausgeht. Der Mensch ist schlecht, bald geht das Licht aus – mit solchen Botschaften füllt sie ihre Texte. Hat sie überhaupt eine Agenda, dann ist es die Beweisführung, dass eine solche nicht zu Konsequenz, nicht zu einem Gegenentwurf oder auch nur zu einem geraden Aussagesatz verpflichtet.

Vielleicht ist Sibylle Berg eine Intellektuelle neuen Typs: engagiert nur im Sinne der Präsentation, des begeisterten Herzeigens der nächsten Plage unserer Mediengesellschaft. Wie ein Kind, das verwesende Muscheln ausgräbt. "Nach uns das All" ist kein Stück zur Lage der Nation, sondern das ewig gleiche Rauschen, bekannt aus ihrer Spon-Kolumne. Das Ende der Welt? Für Sibylle Berg nichts als ein willkommener Schreibanlass.

Mehr Grimassen als ein Ensemble

Dabei könnte sie auch anders: "Das kann einen doch verrückt machen, dass ein Mensch, mit dem man in einem Bett liegt, seine eigenen Gedanken hat, fast wie jeder beliebige Fremde, und dass man nie, nie eine Nähe herstellt, außer unter Drogen." Es gibt diese Sätze in ihrem Text. Schöne, klare, traurige Sätze. Sätze, in denen echte Anteilnahme aufblitzt. Jedoch: Es sind die Perlen am Meeresboden einer Welt, an deren Untergang die Autorin ungleich mehr Freude zu haben scheint. Auch ihr Regisseur Sebastian Nübling zeigt wenig Interesse an leisen Tönen. Keine Zeit! Frau Berg liefert alle drei Zeilen eine Pointe. Und Herr Nübling gibt sich alle Mühe, keine davon zu verpassen. Mit Erfolg. Sein Ensemble kann Komödie.

Nachuns1 560 UteLangkafel uApokalypse now? Ach nö. Heiter weiter geht's mit Nora Abdel-Maksoud, Abak Safaei-Rad, Svenja Liesau und Suna Gürler. © Ute Langkafel

In orangenen Overalls rumpeln sie synchron über die leere Bühne. Tabea Martins Choreographien mahnen an Scharmützel im Krieg der Geschlechter: hastig, ungestüm, gewaltsam. Die Frauen rammen die Männer mehr als einmal gegen die Bühnenwand. Später surfen sie auf ihren Rücken durch das verrohte Internet. Das ist gut gearbeitet und macht über Strecken richtig Spaß. Vor allem, weil das Ensemble nicht im Kollektiv verschwindet, obwohl die Spieler große Teile des Textes chorisch sprechen. Svenja Liesau hat mehr exakt gesetzte Grimassen im Repertoire als manch komplettes Ensemble. Jonas Dassler gibt seinen Casting-Kandidaten als netten, herrlich blöden Trottel. Auch Nora Abdel-Maksoud beweist einmal mehr ihr humoristisches Talent. Plump wie ein Pinguin tapst sie über die Bühne, und lauert doch wie ein Raubvogel auf den nächsten Lacher.

Am Ende aber ist Schluss mit lustig. Da rücken die vier Frauen eng zusammen Die Rakete haben sie verpasst. Es wird für sie kein besseres Leben geben, keine Rettung. Höchstens, wer weiß?, vielleicht doch in der Nähe zu anderen Menschen? Ist die Liebe etwa immer noch eine Möglichkeit? Aber nein. Nicht an diesem Abend. Das wäre zu tröstlich für Sibylle Bergs Stück. Wenn die Welt wirklich untergeht, möge bitte jemand anderes die letzten Sätze sprechen.

 

Nach uns das All – Das innere Team kennt keine Pause
von Sibylle Berg
Regie: Sebastian Nübling, Choreografie: Tabea Martin, Dramaturgie: Katja Hagedorn, Bühne: Magda Willi, Kostüme: Ursula Leuenberger, Licht: Jan Langebartels.
Mit: Nora Abdel-Maksoud, Knut Berger, Jonas Dassler, Suna Gürler, Svenja Liesau, Abak Safaei-Rad, Aram Tafreshian, Mehmet Yilmaz.
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause

www.gorki.de



Kritikenrundschau

"(F)assungslos" steht Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (26.9.2017) "vor diesem politisch naiven Theater-Etwas". Schon die Vorgängerarbeiten von "Szenenbauer" Nübling und "Sätzeschleuderin" Berg nehmen sich für den Kritiker wie "heutiges Jahrmarktstheater" aus: "Schauspiel aus dem Grabbeltisch zeitgenössischer Gefühls- und Gedankenfetzen". Angesichts des Bundestagseinzugs der AfD wirke diese Machart im neuen Abend "schlicht abgeschmackt". Die Arbeit wolle "selbstredend (...) sehr kritisch sein, ist aber Theater, das zu jeder Wirklichkeit schon eine Meinung hat, noch ehe es sich mit den Widersprüchen dieser Wirklichkeit befasst hätte."

Für Christine Wahl vom Tagesspiegel (26.9.2017) ist dieser unter allen Berliner Saison-Auftaktpremieren "definitiv der gewitzteste, selbstkritischste und in jeder Hinsicht gegenwärtigste Theaterabend". Die hier zelebrierte "punktuell verzweifelte Ironie" richte sich "genauso gegen den gesellschaftlichen Rechtsruck wie gegen jene Intellektuellen- und mithin auch Theater-Blase, die zwar locker aufzählen kann, wogegen sie ist. Bei der Frage nach progressiven Selbstgestaltungsmaßnahmen fallen allerdings nur 'Patenschaften für hässliche Straßenbäume' ein. Das ist bei Berg alles auf eine irgendwie entspannt bissige Art lustig – mit mal mehr und mal weniger Tiefgang."

"Eine beeindruckende Inszenierung voll schöner Regie-Einfälle" hat André Mumot vom Deutschlandfunk Kultur (24.9.2017) am Gorki erlebt. Begeistert habe den Kritiker, "dass da ganz viele wunderschöne kleine Inszenierungsdetails auftauchen, mit denen Charaktere sich entwickeln. Obwohl sie immer dasselbe sagen, sind es unterschiedlich Figuren, die miteinander interagieren, die sich Blicke zuwerfen, die ihre eigene Persönlichkeit entfalten können. Und das ist ganz faszinierend und mitreißend anzusehen."

"Auf Papier ist so viel Weltekel streckenweise ermüdend. Auf der Bühne aber wird in der Inszenierung von Sebastian Nübling großes Kabarett daraus", schreibt Mounia Meiborg in der Süddeutschen Zeitung (1.10.2017). Um eine politische Analyse gehe es hier nicht. "Es bleibt Wohlfühltheater. Aber dabei so charmant und komisch, dass es in diesen Tagen etwas Tröstliches hat."

 

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