Lieben und lieben lassen

von Steffen Becker

Mannheim, 27. September 2017. Wie kann ich dich finden, zu mir ziehen und überreden zu bleiben? Das fragen die Autorin Anja Hilling und Regisseurin Friederike Heller in Mannheim eine Schar erwartungsfroher Schwarz-/Weiß-Menschen. Entsprechend ihrer Farben sortieren sie sich auf der Bühne in die einzigen Rollen, die das Stück bietet: Liebende und Geliebte. Beschworen wird die Magie eines Sommernachttraums. Die Protagonisten appellieren aneinander, es zu treiben und dabei die "wahre Nummer deiner Jahre" zu nennen.

Klingt nach einer euphorischen Rückkehr in die guten alten Zeiten realer (und ungeschützter) Techtel-Mechtel-Anbahnung. Aber Vorsicht, liebe moderne Tinder-Gemeinde: Bevor ihr beim Online-Dating euer echtes Alter zugebt oder gar das Smartphone ganz weglegt: Seht euch das Stück an und prüft, ob euch seine Bestandteile anmachen. Echte Menschen haben ihre Tücken. Nur so als Warnung.

Phase 1: Kennenlernen.

Die Doktorandin Vic (Jennifer Frank) feiert ihren Abschluss und versammelt dazu Freunde, Familie und Zufallsbekanntschaften. Man tauscht akademische Unhöflichkeiten aus. Das Publikum lacht über die gespreizte Ironie, mit der die Hindernisse benannt werden, die die Anwesenden bisher vom Glück abhielten. Vic hat sich von ihrem Freund Noah getrennt. Ihr Bruder begehrt die Frau seines besten Kumpels, ihr Professor hat ein Faible für blutjunge Dinger, das blutjunge Ding noch keine Ahnung und die Nachbarin kann sich als Praktikantin eh nicht binden. Man tastet sich ab, zeigt sein Begehren, aber mit philosophisch verbrämter Distanz – wie in einem besseren Tinder-Chat.
Bester Moment: "Wofür soll man noch demonstrieren?" – "Auf das Recht zu wichsen." Ergibt zwar keinen Sinn, klingt aber lustig. So wie Kunstporno.

Phase 2: Erproben.

Die Familien-, nein Beziehungskistenaufstellung kriegt die Hintern hoch von den Stühlen (einziges Bühnenutensil neben dem Keyboard des Live-Musikers Maximilian Hecker). Akademikerin Vic lässt ihren Ex ran. Ihr Bruder bricht die Ehe seiner Liebschaft, das blutjunge Ding probiert sich homosexuell mit der Nachbarin und der Professor bezirzt mit Ausdruckstanz die Mutter.
Bester Moment: Jennifer Frank als Vic singt. Erst Whitney Houstons "I will always love you", dann "Ich will gevögelt werden"-Rap. Betritt sie zu Beginn als Typus nerdige Jungfer die Bühne, fügt sie dieser Verschrobenheit die Komponenten Gier und Verletzlichkeit hinzu. Weil sie im nerdigen Rahmen bleibt, gewinnt ihre Figur durch die vielen Gesichter sogar an Glaubwürdigkeit.

Phase 3: Eroberung.

Die Junglesbe kann den Satz "Ich liebe dich" nicht aussprechen. Schlecht gecoacht von ihren Mitliebenden müht sie sich auf Knien und umwolkt von Seifenblasen ab. Anne-Maria Lux als impulsive Göre, die sich überhaupt erst entdeckt, ist die Überraschung des Abends. Schwierige Rolle, die leicht ins Lächerliche abgleiten kann. Aber sie meistert die Aufgabe mit Flirtstunts, Leidenschaft und glaubhafter Unsicherheit beim Abtasten ihrer selbst (seelisch) und ihrer Geliebten (körperlich).
Bester Moment: Alle hatten (per Schaumparty angedeuteten) Sex. Nach dem Höhepunkt drängen alle zum Aufbruch – "Mist, ich finde mein Ladekabel nicht", "Ist das deine Kette?". Den Moment des von sich selbst peinlich berührt sein nach dem One-Night-Stand kennt jeder (sagt das Kichern im Publikum). Grandios, ihn sich anzusehen, ohne drinzustecken.

wiekannich1 560 Christian Kleiner uFrühlingsgefühle im Herbst: Almut Henkel, Matthias Thömmes, Anne-Marie Lux, Boris Koneczny, Jennifer Frank, Larissa Breidbach © Christian Kleiner

Phase 4: Ernüchterung.

Die Paare haben sich gefunden, scheitern jedoch an sozialen Bedingungen. Sie müssten sich anpassen, hassen es und verlieren dadurch ihren Augenblick. Am augenscheinlichsten wird es in der Verbindung der Mutter und des Professors. Er kündigt und wird Hippie-Tänzer (was Boris Koneczny mit der Chuzpe eines Nichttänzers hinbekommt). Andernorts dehnt Hillings Text die Zeit, es wird unübersichtlich und die Sprachdrechseleien verlieren nach 1,5 Stunden an Witz und Reiz.
Bester Moment: Hmmm.

Phase 5: Neuanfang.

Scheidung ist überall durch, die Geliebten verschwinden nach draußen auf eine 90er Party. Der Rest hinterher. Das Ende kommt abrupt und wirkt etwas angeklebt. Man weiß es daher nicht genau, aber wahrscheinlich bleiben sie Freunde.

 

Wie kann ich dich finden, zu mir ziehen und überreden zu bleiben?
von Anja Hilling
Uraufführung
Regie: Friederike Heller, Ausstattung: Sabine Kohlstedt , Musik: Maximilian Hecker, Licht: Björn Klaassen, Dramaturgie: Carolin Losch
Mit: Jennifer Frank, Matthias Thömmes, Carmen Witt, Julius Forster, Boris Koneczny, Almut Henkel, Larissa Breidbach, Anne-Marie Lux.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.nationaltheater-mannheim.de

 

Kritikenrundschau

Friederike Hellers "feinfühlige Inszenierung nimmt dem Stück die Bedeutungsschwere, ohne es zu bagatellisieren", schreibt Monika Frank in der Rhein-Neckar-Zeitung (29.9.2017). Dem Ensemble gelinge es, Anja Hillings stilisierte Prototypen zu vielfarbigem Leben zu erwecken. "Mag die vorgegebene Spielsituation auch stets für alle gleich sein, die Art, wie die jeweils Betroffenen reagieren, ist nie austauschbar, macht das individuelle Verhalten glaubwürdig und die streckenweise doch recht statische Aufführung einigermaßen spannend."

"Immer wieder blitzen im (zu langen) Text poetische Glanzlichter auf, bevor sie (…) im leeren schwarzen Raum verpuffen", schreibt Ralf-Carl Langhals im Mannheimer Morgen (29.9.2017). Schauspielerisch habe das "eine Spur zu manierierte Planspiel" ebenfalls "gelegentliche Reize". Aber am Ende seien "die Erkenntnisse zur Liebe in der Jetztzeit nicht tiefer als die Erkenntnisse von Connie Francis. Schade."

Hellers Regieführung sei präzise, "den Text, den die schwarz- oder weißgekleideten Schauspieler mal wie ein Gemälde gruppiert, mal wie Schachfiguren gesetzt sprechen, hat sie mutig entschlackt", schreibt Grete Götze in der FAZ (5.10.2017). In einzelnen Momenten blitze seine literarische Qualität auf. "Aber nicht nur wegen der vielen szenischen Wechsel und ironisch gemeinten Bühnenmittel wie Windmaschine oder pinkes Scheinwerferlicht ist der Abend eher eine allgemeine Abhandlung zum Thema 'Liebe', als dass er sich wirklich für die Charaktere und ihre Geschichten interessiert."

 

Kommentare  
Wie dich finden, Mannheim: Lux
Wieso ist Annemarie Lux eine "Überraschung"???
Halloooo? Mal die "Wildente" gesehen in Mannheim, "Emilia Galotti"? Beides Arbeiten von Goerden. Wie man hört verliert Mannheim ja beide Richtung Stuttgart. Schade.
Wie dich finden, Mannheim: Klimbim
Wir haben das Stück am Sonntag gesehen und waren enttäuscht. Viel Klimbim, Bombast und Aktionismus. Inhaltlich alles vage und ungefähr, beliebig. Das kann jede Seifenoper besser. Der Mannheimer Morgen trifft mit seiner Kritik ziemlich den Punkt. Heute ist übrigens in einem lesenswerten Text über farbige Darsteller auf deutschen Bühnen eine weitere Kurz-Rezension erschienen, die die Schwachstellen des Stücke auch betont. Hier zu finden:

https://www.kontextwochenzeitung.de/kultur/341/expertin-fuer-gespaltene-seelen-4649.html
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