Ulrich Matthes zeigt die Pommesgabel

von Anne Peter

Berlin, 27. September 2017. Das allerdings hat Seltenheitswert: wie Uli Matthes im eng anliegenden Goldpaillettenglamourfummel in die Knie sackt, unter weiß getürmten Afro-Locken "Suicide is painless" ins Mikro röhrt und die Finger rockstarlike nach den Fans im Parkett ausstreckt! Der Unterhaltsamkeitsfaktor schnellt umgehend in die Höhe. Es ist das verspielt intensive Finale von Dušan David Pařízeks "Amerika" am Deutschen Theater, nach Kafkas Romanfragment "Der Verschollene".

Darin stülpt er den amerikanischen Traum um und macht ihn zum Albtraum: Für den von seinen Eltern nach Übersee abgeschobenen 16-jährigen Karl Roßmann geht es trotz eifrigen Strebens keineswegs tellerwäschermäßig nach oben, sondern – nachdem kurzfristig von seinem reichen amerikanischen Onkel in die Höhe befördert – immer nur weiter nach unten. In dieser Welt, in der alle Ideale nichts mehr wert sind, gelangt nur der hoch hinaus, der mit rücksichtslosem Ellbogeneinsatz andere zu überrennen gewillt und imstande ist.

amerika 7430 560 arno declair uMarcel Kohler und Regine Zimmermann © Arno Declair

Marcel Kohler spielt den Karl als großäugigen Naiven, als hochgeschossenes Kind, erst mit Empörungsfalten auf der Stirn, später mit schreckgeweiteten Augen. Der lange Oberkörper, zunächst noch aufrecht, krümmt sich im Verlauf, immer höher zieht er die Schultern unter der Erfahrung diverser Drangsale.

Wenig Schwingung

Während es in Kafkas Amerika wimmelt, quirlt, unaufhörlich vorwärtstreibt, seien es Wellen, Menschenmassen, Maschinen oder Betriebe, in denen der Mensch immer nur als kleines, ausgeliefertes Rädchen erscheint, herrscht auf der parkettgemusterten Bühne seltsame Statik.

Da stecken Hände in Hosentaschen, werden hinter dem Rücken verschränkt, oder nesteln, Hilflosigkeit erspielend, ineinander. Mal fahren die Matthes-Arme herrisch aus, mal stellt Frank Seppelers Mack sich schräg, mal schwarwenzelt Edgar Eckerts Robinson schmierig um Karl herum. Und die wunderbar vielfältige DT-Rückkehrerin Regine Zimmermann erfindet für jede ihrer weiblichen Rollen eine andere Art, Karl um den Hals zu fallen. (Bis auf Kohler treten alle in Mehrfach-Rollen auf.) Insgesamt aber ist da wenig Schwingung oder gar Slapstick in den Körpern, zu denen Kafkas Texte doch so einladen würden.

amerika 4010 560 arno declair uMarcel Kohler, Ulrich Matthes, Regine Zimmermann, Frank Seppeler © Arno Declair

Pařízek lässt die Bedeutungsfäden, die Kafka zu einem dichten Netz aus Verweisen versponnen hat, im Vagen baumeln. Immer wieder rätselt man, worauf diese szenisch karge Unternehmung hinaus will und ob sie überhaupt irgendetwas vorhat, außer möglichst reibungslos durch die dialogisierbaren Passagen von Kafkas der Erzählinstanz größtenteils verlustig gegangenen Text zu schnurren. Hier tippt Pařízek einen Aspekt an, legt da eine Spur, schmuggelt dort einen Apfel als Sündenfall-Motiv in die Szene. Doch die eine klare Perspektive auf den Stoff wird nicht kenntlich. Und obwohl verschiedenste Figuren (nicht immer ganz stimmig) zusammengelegt sind und der Roman auf unter zweieinhalb Stunden eingedampft wurde, fühlt sich die Inszenierung länglich an.

Fast scheint alles auf diesen End-Effekt hin inszeniert, auf dass es umso stärker knallt, wenn schließlich die Kulissen nach hinten wegkippen, Schaumflöckchen über die Zuschauerreihen wirbeln und sich eine lange Scheinwerfer-Batterie vorm schwarzleeren Rundhorizont niedersenkt. Ja, das ist toll.

Wir befinden uns im berühmten "Theater von Oklahama", in dem jeder willkommen ist. Zimmermann pustet als Anwerbetruppen-Engel sehr rührend und sehr vergeblich auf der Trompete und alle miteinander führen sie Kafkas oft als Utopie gedeutetes, grenzenlos großes "Theater von Oklahama" als schräges Fake-Paradies vor. Mit Matthes als Frontmann und Kohler an der Minitrompete singen sie von schmerzlosem Selbstmord und frotzeln selbstironisch übers Theater ("Ich bin als Schauspieler aufgenommen?" – "So etwas kommt vor." Höhö).

Und dann: Trump

Die Selbstreflexion auf das Theater, das Freilegen des Apparates und der Mittel – das ist Pařízeks Terrain. Auch die typischen Overhead-Projektoren sind wieder dabei, wirken diesmal allerdings wenig zwingend, umständlich werden Folien ausgetauscht. Mehr als ein paar nette Schattenspielchen (Schatten-Karl versucht sein Hinterteil auf einem projizierten Stuhl zu platzieren) ergibt sich daraus nicht.

Amerika, war da nicht was? Tatsächlich gibt es ihn, den Trump-Moment. Gerade als man sich darin eingerichtet hatte, dass Pařízek seine Adaption gänzlich ohne erkennbare aktuelle Analogien abspulen würde, beobachtet Karl gen Ende den Wahlkampfauftritt eines Kandidaten. Sein Name wird von den Anhängern gesungen und es wird maschinenmäßig geklatscht, die gegnerischen Parteien schleudern Gegenstände aufeinander, es erklingt "Wutgeheul". Kohler geifert wie außer sich ein paar Trump-Tweet-Fetzen heraus: "My I.Q. is one of the highest – and you all know it"; "I am attracting the biggest crowds by far; "Nobody can beat me".

Doch dieser eine überdeutliche Moment wirkt gänzlich isoliert – und macht den über weite Strecken lauen Abend noch lange nicht zur großen "America first"-Parabel.

 

Amerika
nach dem Roman "Der Verschollene" von Franz Kafka
in einer Fassung von Dušan David Pařízek
Regie und Bühne: Dušan David Pařízek, Kostüme: Kamila Polívková, Musik: Marcel Braun, Licht: Cornelia Groth, Dramaturgie: Birgit Lengers.
Mit: Marcel Kohler, Ulrich Matthes, Regine Zimmermann, Frank Seppeler, Edgar Eckert.
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, keine Pause

www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

Im Deutschen Theater mache sich nicht nur in den Augen der Protagonisten Ratlosigkeit breit, sondern auch im Parkett, schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (30.9.2017). "Schwer zu sagen, was das Text-Ektrakt, das hier gezeigt wird, konzeptionell eigentlich im Sinn hat." Dass das alles recht vorhersehbar und in einer gewaltigen gefühlten Distanz dahinplätschere, habe auch mit Parízeks Entscheidung zu tun, den epischen Text dialogisch aufzulösen, Kafkas Text erweise sich in diesem Punkt als ausgesprochen schwierig.

Simon Strauss lobt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (29.9.2017) Regine Zimmermann, Ulrich Matthes und Edgar Eckert in den höchsten Tönen. Sie seien "Lichtblicke an einem ansonsten schwächlich-düsteren Abend". Parizek habe keinen Sinn für die surreal-skurrilen Untiefen des Textes und für seine metaphysischen Exkurse schon gar nicht. "Das ist das Versagen dieses Abends: Dass nur zitiert, nur aufgesagt wird, was eigentlich in Bildern und Bewegungen, in Stimmlagen und Gesichtern erlebt werden müsste."

"Ist das noch ästhetische Reduktion oder schon Einfallslosigkeit?" fragt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (28.9.2017).  Als "so etwas eine gestalterische Idee" kenntlich werde, enthusche diese sofort wieder, "als wäre es allen Beteiligten peinlich". Das Oklahoma-Theater sei bei Pařízek ein "glitzernder Routine-Show-Act, der halbherzig an Nicolas Stemann erinnert".

"Es liegt wahrlich nicht am fünfköpfigen Ensemble, das diese Aufführung einen so schwerfälligen, steifen, verkniffenen Eindruck macht", so André Mumot von Deutschlandfunk Kultur (28.9.2017). Was fehle und was Kafkas Texte ausmache sei: "Die unbarmherzig ausführliche Erzählstimme, das entnervend genaue Protokoll von Scham und Bedrängung, von Scheitern und Verurteilung." Die spröden Texte, zum Teil sehr klug in Dialogform gebracht, zögen sich gewaltig. Wer aber durchhalte, den erwarte am Ende ein unerwartetes Spektakel.

Dušan David Pařízek mache den 'Homo Sacer' – den ungeschützten, ums Überleben kämpfenden Körper – zum Zentrum seiner Inszenierung, schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (2.10.2017). "Hilflos, staunend und freundlich blickt Kohlers Roßmann in diese fremde Welt des Erwachsenwerdens, in der alles bürokratisch reguliert und trotzdem undurchsichtig ist." Dass er nicht durchdrehe, sei ein Wunder.

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