Niederlagen überall

von Nikolaus Merck

Berlin, 28. September 2017. Nach sieben Tagen ist heute die Besetzung der Volksbühne in Berlin auf Wunsch des Hausherren Chris Dercon beendet worden. Polizisten "entfernten" die Besetzer*innen mit sanfter Gewalt vom symbolisch aufgeladenen Ort des Geschehens. Die Sache verlief friedlich, immerhin, die Scharfmacher auf den publizistischen und parteipolitischen Schreibtisch-Barrikaden bekamen nicht den von ihnen herbeigeredeten Häuserkampf geboten.

Welches Anliegen?

Kultursenator Klaus Lederer hat sich der Senatsräson gefügt, Chris Dercon kann "seine Künstler" proben lassen und die Besetzer*innen sind an ihrem Anspruch gescheitert, das irgendwie linke, irgendwie globalisierungs- und gentrifizierungskritische Volk für die Verteidigung ihres Anliegens in Bewegung zu setzen. Aber welches Anliegen eigentlich? Waren die Besetzer*innen nun ganz gegen Dercon oder nur halb oder wollten sie mit ihm zusammenarbeiten? Wollten sie die Volksbühne dem Volke zurückzugeben? Kreative Energie entfesseln, die zu ganz neuen Formen und Ausdrücken sich aufschwingt? Ein politisch-künstlerisches Zentrum für das "wahre Volk", ein Volkshaus neuen Typs sozusagen? Oder wenigstens ein in Permanenz tagendes "Parlament der Wohnungslosen" mit Volxküche und Kinderbetreuung? So richtig klar wurde das über die detailliert ausformulierten Hausregeln, die Vollversammlungen und Pressekonferenzen eigentlich nie.

Schlechter Schiller

Trotzdem: Hier wurde eine Chance verpasst. Zum einen von den Besetzer*innen, die ihre Aktion dem Vernehmen nach zwar monatelang vorbereitet hatten, aber es trotzdem nicht auf die Reihe bekamen, die Volksbühne zu einer Bühne für ihre "transmediale Theater-Inszenierung" zu machen, für Künstler*innen, die in Dercons "kosmopolitischem" Konzept nicht vorgesehen sind und auch nie vorgesehen waren. Es ist nun einmal so, dass die Besetzung eines Hauses mit einem Zweck verbunden werden muss, man kann darin wohnen oder eben eine Bühne errichten, die bespielt wird. Lediglich einen partyesken open space zu behaupten, "alle" aufzufordern, zu kommen und sich den Raum anzueignen, reicht in diesen Zeiten nicht aus. Übersättigt von Geschwätz, verlangt das Publikum nach "Content".

Dercon und Polizei PolizeiBerlin EImagegewinn? Chris Dercon mit dem Pressesprecher der Berliner Polizei und dem Einsatzleiter der Polizei © PolizeiBerlin_E

Dass es den Besetzer*innen aus dem universitären und aktivistischen Milieu überdies nicht gelang, die Arbeiterklasse in Gestalt der Volksbühnen-Gewerke an ihre Seite zu bringen, mag ausschlaggebend gewesen sein für ihre Niederlage. Da halfen auch die solidarischen Reden der Castorf, Pollesch, Hegemann wenig, die aus der Ferne Sympathie bekundeten, aber gar nicht daran dachten, sich mit Leib und Kunst an die Seite der aufmüpfigen Jungen zu stellen. So verabschiedet man sich von der Aktion mit dem unguten Eindruck, dass die Besetzer*innen als Trittbrettfahrer des Berliner Theaterstreits sich das umkämpfte Haus gegriffen haben, um dann ratlos mit schlechten Schiller-Parolen ("Das Projekt Menschheit sollte auf eine andere Zukunft hinauslaufen") darin zu verharren und zu schauen wie die Gegenseite reagieren würde.

Erfolg verspielt

Die Gegenseite, in erster Linie Hausherr Chris Dercon und sein Team haben sich aber nun ihrerseits die Riesenchance entgehen lassen, wie gute Kuratoren diese immerhin vorhandenen Energien zu schärfen, zu profilieren und in das eigene bis November unbespielte Haus einzupflanzen. Seit spätestens August wussten die neuen Herren und Damen der Volksbühne von der geplanten Besetzung. Dennoch hatten sie keinen Plan, wie sie dieses ungerichtete Schäumen, das sich zudem auf die Foyers des Theaters beschränkte, für sich nützen könnten.

Einen Erfolg, der mit dem geschickten Angebot, den Besetzer*innen den Grünen Salon zu überlassen, greifbar nahe erschien, hat sich Dercon mit Strafanzeigen und Räumung seines Theaters sowie Bildern, die ihn im Kreise der Schupo zeigen, wohl selbst vermasselt. Wo blieben seine viel gerühmten Fähigkeiten als Kommunikator? Reicht es wirklich zu sagen: "Ich finde Euer stadtpolitisches Anliegen wichtig", aber nun lüftet mal und lasst dann Eure Kinderspiele sein und die Erwachsenen weiter an Erwachsenenkunst probieren? Und seid ihr nicht willig, dann hol ich die Polizei? Wieso ist Dercon nicht auf den Vollversammlungen aufgetreten und hat das Volk in seiner Volksbühne überzeugt? Wieso versteht er nicht, dass er hier ein Publikum vor sich hatte, das für sich zu gewinnen zumindest seiner street credibility im immer noch linken und seiner Weltkunst gegenüber misstrauischen Berlin aufgeholfen hätte?

Deeskalation gescheitert

Und die Politik? Ach, die Politik. Der Kultursenator der Linken ist mit seiner Deeskalations-Strategie an seinem Koalitionspartner Michael Müller und der auf dem Vormarsch befindlichen Rechten gescheitert. Sie verlangten eine sofortige Räumung. Sie haben sie bekommen. Zum Glück für alle, aber besonders für Dercon und Lederer, sahen die Besetzer*innen von massivem Widerstand ab. Eine Wiederauflage des Erfolgs der Hausbesetzerbewegung in Berlin hat nicht stattgefunden. Man könnte also sagen: Das "Kasperletheater", das der Boulevard gesehen hatte, ist aus. Aber richtig muss man sagen: Eine Niederlage auf ganzer Linie. Für alle Beteiligten.


Presseschau

"Die Politik, das Theater, die Besetzer, sie nehmen sich gegenseitig nicht ernst. So endet dieser Streit um ein Haus fürs Erste nicht im Eklat, nicht im Skandal, sondern als Riesen-Kindergarten." So schätzen Christiane Peitz, Ronja Ringelstein und Hannes Soltau im Tagesspiegel (29.9.2017) die Ereignisse ein. Der Kultursenator sei im Parlament unter Druck geraten; die Besetzer hätten kein rechtes Programm geboten, und Chris Dercons Team sei "Kuschelkurs" gefahren. Zum Verharren der Aktivist*innen angesichts des Angebots, fürderhin den Grünen Salon zu nutzen, heißt es: "Bleiben oder gehen? Besser nicht entscheiden – wie Dercon, wie Lederer. Und auch nicht zwischen Kunst und Realität: Jedes Plenum, jede Diskussion heißt jetzt Performance. Staub zu Glitzer, Glitzer zu Staub: So untergraben die Aktivisten den Kunstbegriff des Theaters zugunsten eines Events."

"Wer hat jetzt noch Lust, sich über die Volksbühne zu streiten?", fragt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (29.9.2017). Die Aktivist*innen, die sich für die Volksbühne allenfalls symbolisch interessiert hätten, hätten Chris Dercon und Klaus Lederer "gezwungen, gemeinsam aufzutreten − woran diese sich nach anfänglicher Ziererei auch hielten. Der Konflikt, den die beiden miteinander haben und der die Zukunft des Theaters als ein Ensemble- und Repertoirebetrieb oder als ein Gastspiel- und Koproduktionshaus betrifft, ist nun erst einmal vom Tisch gewischt." Die Aktion hätten Lederer und Dercon "so souverän und schadensfrei wie möglich beendet".

Mit den Worten "Berlins Theaterszene ist gerupft bis auf die Knochen: Die Besetzer haben den mauen Premieren zur Saisoneröffnung die Schau und ihren Machern obendrein den Performance-Begriff gestohlen", beschließt die Frankfurter Allgemeine Zeitung (29.9.2017) eine winzige Meldung unter dem Kürzel igl. Noch vor der Räumung hatte Simon Strauss in der FAZ die "Gewissensfrage" gestellt: "Es geht jetzt nur noch darum, ob man wirklich hinnehmen will, dass die politische Gebärde so brachial von außen in den geschützten Raum der Kunst einbrechen darf, wie es hier gerade geschieht." Und Ex-Volksbühnendramaturg Carl Hegemann hatte in einem FAZ-Gastbeitrag die Besetzung als "Glücksfall" für die mit vielen Schließtagen startende Intendanz Dercon charakterisiert.

In der Zeit (online 28.9.2017) nimmt Robin Detje die "Volksbühnenbesetzung" als Zeichen für eine Berlin-Mentalität, für einen "quasi von oben verordneten Nostalgiezusammenhang". Niemand wolle in der Stadt auch entscheidungsfreudig Macht ausüben. Die Volksbühnenbesetzung passe "gut in diese Stadt, in ihrem Bestreben, den größtmöglichen Effekt zu erzielen, ohne je fassbar zu werden: Wir wollen nur spielen!"

"Was für eine Farce. Und was für ein Verlust für Berlin", klagt Gereon Asmuth in der taz (online 28.9.2017) angesichts des Aufmarschs von Polizei vor der Volksbühne, der eine "soziale Plastik" beendet habe. "Denn das, was die Besetzer in wenigen Tagen auf die Beine gestellt haben, war ohne Zweifel das Theater­event des Jahres. Gemessen an den klassischen Maßstäben des Feuilletons war der kulturelle Output gering. Doch der Hauptact war das Plenum, bei dem täglich Hunderte mit aller Leidenschaft um die Zukunft dieses Theater gerungen haben."

In der Neuen Zürcher Zeitung (online 28.9.2017) nimmt Daniele Muscionico die Volksbühnenbesetzung noch einmal als Anlass, eine "Kampagne" gegen Chris Dercon zu diagnostizieren, "die in einer europäischen Kulturmetropole ihresgleichen sucht". Der Neu-Intendant "sieht sich seit seiner Amtseinsetzung mit einer Stadtregierung, einer Presse und einem Kulturestablishment konfrontiert, die gegen ihn arbeiten." Der Appell der Kritikerin: "Chris Dercon hat eine Chance verdient. Und vielleicht, wie andere in der Kunst auch, sogar mehr als eine."

"Teilhabe, Verteidigung öffentlicher Räume, Auflösung der Grenzen zwischen Kunst und Leben. War das nicht genau der Überbau, den auch die drei Eröffnungsstücke der Volksbühne, von Boris Charmatz am Flughafen Tempelhof inszeniert, für sich beanspruchten? Doch, das war es", schreibt Katrin Bettina Müller in der taz (30.9.2017). Doch wenig genützt habe diese Nähe theoretischer Anliegen und eines weit gedehnten Kunstbegriffes, "sie blieb eher unbeachtet". Die Besetzer waren nicht unbedingt identisch mit den Leuten, die zuvor Chris Dercon und der Programmdirektorin vor die Tür gekackt hätten, auch nicht mit der Initiative, die 40.000 Unterschriften sammelte. "Aber sie haben in der Geschichte der Dercon-Gegnerschaft ein weiteres Kapitel aufgeschlagen. Und sie werden nach der Räumung nicht einfach wieder verschwinden.

Die Besetzer haben nicht einfach kooperiert mit dem Theater, sondern es zu ihrer Sache gemacht, so die sympathisierende Silke Müller im Stern (online 30.9.207). "Jeder war hier zur Höchstform aufgelaufen (...), innerhalb kürzester Zeit hatten sich Menschen eingefunden, die ihre Rolle im basisdemokratischen sozialen Gefüge selbst definiert und mit Inbrunst ausgefüllt hatten." Fazit: "Vielleicht hätte Dercon gut daran getan, den Besetzern nicht den Grünen Salon, sondern für einen Monat lang das ganze Haus anzubieten. Im November will die neue Intendanz das traditionsreiche Theater am Rosa-Luxemburg-Platz eröffnen – mit einer dreitägigen Inszenierung auf allen Gängen und Rängen. Das lang geplante Neue: Noch nie war es so alt wie jetzt."

"Die Besetzung könnte der Gentrifizierung einen weiteren kleinen Schub bescheren", überlegt Gerrit Bartels im Tagesspiegel (1.10.2017), was nicht einer gewissen Ironie entbehre. Denn wo findet man es schon, "dass man ein Theater für fast eine Woche einfach mal so besetzen und mit politisch-künstlerischen Aktivitäten bespielen kann – und dafür so einiges an Verständnis bei der Intendanz des Hauses wie bei der lokalen Politik findet, bis hin zu dem Angebot, randständige Teile des Hauses nutzen zu dürfen?" "Doch so diffus mitunter die Gentrifzierungsdebatte verläuft, so diffus war letztendlich die gesamte Besetzungsinszenierung. Fragt sich halt: War die vergangene Woche an der Volksbühne wirklich mehr als nur ein interessantes, spannendes, Berlin noch attraktiver machendes Spektakel?"

In der Zeit (online 4.10.2017) schildert Peter Kümmel das (Medien-)Spektakel der Besetzung samt Räumung als Theaterspiel mit zwei janusköpfigen Protagonisten Lederer und Dercon. "Die beiden Dercons und die beiden Lederers kamen sich im Lauf der Besetzung vermutlich näher, als sie es sich je träumen ließen, sie waren plötzlich zur Partnerschaft verdammt, zum Buddy-Auftritt in einem wichtigen Dramolett der deutschen Theatergeschichte (...)."

In der Zitty (online am 10.10.2017) schreibt Martin Schwarzbeck eine lange detailreiche Reportage über die Besetzungstage und schließt mit dem Post-Räumungs-Fazit: "Der Vorhang fällt, ihre Inszenierung in der Volksbühne ist beendet. Und die Chance, Berlins Zukunft ganz neu zu denken, vertan."

 

igl

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