I feel you

von Christian Rakow

Berlin, 30. September 2017. Schöner, als Alaa Naser es an diesem Abend formuliert, lässt sich der Charakter dieser Theaterarbeit gar nicht fassen: "Ich weiß: ich bin keine gute Schauspielerin. Aber, ich will ehrlich mit euch sein, ich hab das Gefühl, dass dieses Projekt mir sehr wichtig ist gerade." Denn das Projekt biete ihr die Gelegenheit, "mich mit den Menschen zu verbinden".

Iphigenie1 560 GianmarcoBresadola uHinter der Kamera: Reham Al Kassar, auf der Bühne Baian Aljeratly, sitzend v.l.n.r.: Nour Bou
Ghawi, Hebatullah Alabdou, Diana Kadah, Layla Shandi, Zina Al Abdullah, Rahaf Salama, Alaa
Naser, Sajeda Altaia. © Gianmarco Bresadola

Naser tritt uns entgegen als eine von neun Laiendarstellerinnen aus Syrien, auf einem weißen Laufsteg im riesigen Hangar 5 der neuen Tempelhofer Spielstätte der Volksbühne Berlin. Unweit einer der größten Flüchtlingsunterkünfte Berlins. Aber was sie sagt, spricht nicht nur über die Arbeit an diesem Ort, sondern für viele Projekte, die an Bürgerbühnen und engagierten Stadttheatern im Zuge der #Refugeeswelcome-Bewegung seit 2015 entstanden sind: Theater "verbindet", es arbeitet gegen die Isolation an, gegen Missverstehen, gegen Fremdheitsgefühle. Es rückt die Kulturen näher zusammen – und ihre Sprachen, so wie an diesem Abend, wo praktisch alles auf Arabisch gesagt und auf Leinwänden Englisch und Deutsch übertitelt wird. Und dieser soziale Wert des Auftritts besteht ganz unabhängig von der Frage, ob jemand jetzt "eine gute Schauspielerin" ist oder wie sich das Projekt in den Kanon der künstlerischen Formen einfügt.

Castingshow

Dennoch sind kunstkritische Fragen natürlich zu stellen. "Iphigenie" von Mohammad Al Attar ist eine Reflexion über den von Euripides überlieferten Mythos der Königstochter, die sich für das griechische Heer opfern soll, damit die Götter wieder Winde wehen lassen und die Krieger nach Troja aufbrechen können (nur um dort noch mehr Frauen ins Unheil zu stürzen). Al Attar und sein Regisseur Omar Abusaada arrangieren dafür eine Castingshow: Die neun Spielerinnen treten je einzeln nach vorn, um sich für eine Rolle in ebendiesem "Iphigenie"-Theaterprojekt zu bewerben.

Iphigenie3 560 GianmarcoBresadola uDas Ensemble von "Iphigenie" im Hangar 5 in Tempelhof © Gianmarco Bresadola

Sie machen Angaben zu ihrer aktuellen Lebenssituation (Ausbildung, Jobcenter, Restkontakt in die Heimat), sprechen über ihre Vorstellung von Theater (wie viel Illusion und Lüge es braucht) und davon, wie sie sich im Mythos der "Iphigenie" wiederfinden (vor allem über die Vaterfigur). Die Befragung führt Reham Al Kassar als eine Art Produktionsassistentin durch, während sie zugleich die Bewerberinnen live mit der Kamera filmt. Die Szenen kulminieren jeweils in der Deklamation kurzer Passagen des Euripides-Dramas, mitunter auch in einer Gesangs- oder Tanzeinlage. In jedem Fall theatralisch.

Diskurs der Innerlichkeit

Al Attar ist sichtlich bestrebt, in den Texten gängige Erwartungen an einen dokumentarischen Abend mit Geflüchteten zu unterwandern. Schlaglichter auf die politische Situation in Syrien fallen aus, Nahansichten von Kriegsgräueln oder Erlebnisse auf Fluchtrouten ebenso. Allerdings erfährt man auch über die Vorkriegszeit oder das Leben jetzt in Berlin so gut wie nichts. Stattdessen setzt das Stück ganz auf einen Diskurs der Innerlichkeit. "Ich habe Angst meine Erinnerungen zu vergessen", sagt Hebatullah Alabdou einmal mit Bezug auf Aleppo. Aber Al Atta gönnt ihr keine Nachfrage, keine Vertiefung, keine eingehendere Erzählung, nichts Anekdotisches. Alles verbleibt bei der Bekundung einer Grundstimmung von Verlust, Angst, Einsamkeit, mitunter sogar Lebensmut und Lebenswitz.

Flankierend dazu thematisieren die Selbstreflexionen auf das Casting-Theater denn auch nur die Authentizität der Geste: Wie echt ist das, was Du hier machst? Einmal tippt Sajeda Altaia als Kopftuchträgerin einen schönen Widerspruch zwischen religiösen und ästhetischen Handlungsmaximen an: Kann man als Iphigenie mit Hidschab auf der Bühne einen Achilles küssen, ganz wie im wirklichen Leben? Und sogleich hört die Interviewerin auf, sich zu interessieren.

Zeugen ohne Zeugnis

Regisseur Omar Abusaada setzt dazu auf ungebremste Einfühlung. Die Stimmen hallen über Mikroports ins weite Rund, und die Kamera zoomt näher und näher, zeigt bebende Gesichter, feuchte Augen. Eine Verdoppelung des Gefühls in Ultra-Großaufnahme. Womit der Abend maximal beglaubigt wirkt, aber auch seltsam immunisiert.

Die radikale Subjektivität des "So geht es mir" entzieht sich der Kritik. Anders als etwa ein Dokumentartheater mit "Experten des Alltags", wie es Rimini Protokoll entwerfen, wo der Mensch mit einer Praxis auftritt und sich als Träger eines konkreten Wissens zur Disposition stellt. Das Theater von Mohammad Al Attar und Omar Abusaada bietet demgegenüber die reine Befindlichkeit, Zeugenschaft ohne Zeugnis. Man kann ihm nur mit Mitfühlen und Mitglauben begegnen. Oder wie der Brite sagt: "I feel you".

 

Iphigenie
von Mohammad Al Attar
Deutsche Übersetzung von Christopher Fares Köhler und Sandra Hetzl
Regie: Omar Abusaada, Dramaturgie: Mohammad Al Attar, Bühne & Kostüme: Bissan Al-Charif, Schauspieltraining: Reham Alkassarbanialmarjeh, Video: Reem Al Ghazi, Licht: Christian Maith, Kamera: Mohammad Samer Alzajat, Regieassistenz: Amer Okdeh, Produktionskoordination: Ameenah Sawwan.
Mit: Alaa Naser, Nour Bou Ghawi, Layla Shandi, Sajeda Altaia, Diana Kadah, Baian Aljeratly, Rahaf Salama, Hebatullah Alabdou, Zina Al Abdullah Alkafri.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.volksbuehne.berlin

 

Kritikenrundschau

Die Antworten der Frauen auf die Casting-Fragen seien "in der Verdichtung des Textes genau, reflektiert und persönlich, aber keinen Moment selbstentblößen", schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (1.10.2017). "Es scheint sogar, dass sie es genießen, wie sich jemand für sie interessiert − auf so andere Weise interessiert als zum Beispiel die deutschen Behörden und Medien." Einmal rolle auch eine Träne die Wange herab. "Dies aber, als eine Kandidatin ein paar Verse von Euripides spricht. Und der gestaltete tragische Konflikt, der jedes individuelle Leben in die Zange nimmt, seine Wucht entfaltet."

"Die Darstellerinnen machen ihre Sache toll. Die Probleme liegen auf Seiten von al Attar und Abusaada." Schon rein formal habe sich die Casting-Situation spätestens nach dem dritten Auftritt erschöpft, schreibt Patrick Wildermann im Tagesspiegel (1.10.2017). Was entgegen der Behauptung eben nicht stattfinde, und das wiege am Schwersten, sei der Bruch mit der Reduktion der Frauen auf Herkunft und Fluchtgeschichte.

"Lauter wunderschöne, starke, kluge Frauen. Und sie haben – fast alle sind Laiendarstellerinnen – eine erstaunliche Bühnenpräsenz", schreibt Mounia Meiborg in der Süddeutschen Zeitung (1.10.2017). Der Abend habe nur ein Problem: Seine antike Vorlage wolle einfach nicht passen. Denn: Die Frauen hätten sich eben – "zum Glück" – nicht wie Iphigenie geopfert. Und weiter: "Das Stück folgt einer Nummerndramaturgie, die an keiner Stelle aufgebrochen wird: die Nächste, bitte. Was dem Ganzen Tiefe verleihen könnte, wäre eine Figurenentwicklung. Doch die fehlt." Die Chorszenen blieben seltsam körperlos.

Bernhard Doppler vom Standard (1.10.2017) zweifelt "an der ausgestellten Authentizität der Auftritte, und grübelt, ob die Texte der Bewerberinnen nicht doch ziemlich stark von Mohammad al-Attar in poetische Bilder oder psychologische Selbstdeutungen gefasst und literarisiert frisiert worden sind". Ein Statement für eine neue Dramaturgie dieses Berliner Theaters sei diese Iphigenie hoffentlich nicht. "Denn mehr als nettes, gefälliges Bürgertheater sollte man sich schon von der neuen Volksbühne erwarten dürfen!"

"Wir sehen sehr jungen, sehr unterschiedlichen Frauen zu. Und sie lassen das Publikum angenehm im Ungewissen, welcher Schritt nun der größere sei: der 'raus aus dem Krieg oder jener 'rein in die Arena der Erwachsenen", beschreibt Tobi Müller den Abend auf Deutschlandfunk Kultur (1.10.2017). Mal blitze Kitsch auf und mal wirkten sie sehr ernst, aber auch wunderbar furchtlos. "Es ist ein Sprung ins Offene, privat wie politisch. Zerstörung und Krieg im Rücken erzwingen diesen Sprung tragisch, die Schwelle zum Erwachsenenalter ist derweil auch komödiantisch zu meistern, vielleicht weil dieser Sprung etwas Allgemeines darstellt und keinen besonderen Riss wie jeder Krieg."

Was sich in den anderthalb Stunden dieser Inszenierung "abspult, ist von wahrhaft niederschmetternder Schlichtheit", wettert Tilmann Krause in der Welt (2.10.2017). Wenn "diese weichgespülte Fassung einer Berliner Dramaturgie des erzählten Migrantenschicksals jetzt die Zukunft der Volksbühne sein soll, können wir auch gleich zum Meininger Naturalismus des 19. Jahrhunderts zurückkehren."

"Hat man mehr erwartet?", fragt Katrin Bettina Müller von der taz (1.10.2017) und antwortet: "Eigentlich ja." Es sei ja ein Ansatz von Mohammad Al Attar und Omar Abusaada gewesen, "gegen die reale Tragödie, in der sie sich als Syrer jetzt befinden, die antiken Tragödien-Texte als ein Instrument zu halten, das Sagbare auszuloten".  Letztendlich aber scheine die Figur des Opfers die falsche Frage, um dem jetzigen Drama dieser Frauen auf die Spur zu kommen.

Simon Strauß schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (4.10.2017): "Aufmüpfige Ehrlichkeit bei der Selbstbeschreibung, vorsichtige Konzentration beim Ausdruck" – diese Haltungen machten den Volksbühnen-Abend "besonders". Dass diese Frauen "Geflüchtete" seien, spiele nur von Ferne eine Rolle. Vor allem handele es sich um "junge Frauen mit quirligem Innenleben und großer Inszenierungslust". Sie spielten "mutig mit sich selbst", stellten nicht "vorwurfsvoll" etwas für andere dar. "Dokumentartheater im besten, weil unzweideutigen Sinne."

Dieses Projekt "entwaffnet alle Kritik, indem es sich kaum als ästhetisches Projekt präsentiert, sondern viel eher als Akt der organisierten Anteilnahme", schreibt Peter Kümmel in der Zeit (online 4.10.2017). Der "dramaturgische Rahmen des Abends schnürt die Darstellerinnen ein, und so liegt die wahre Größe dieser arabisch gesprochenen 'Iphigenie' im Mangel, welchen sie erzeugt: Man möchte viel mehr wissen, als man erfährt. In den Gesichtern der Spielerinnen liegt große Würde, man ahnt, dass sie das Wesentliche nicht verraten können – und dass sie das Spiel brauchen, um uns teilhaben zu lassen."

 

Kommentare  
Iphigenie, Berlin: in Ansätzen stecken geblieben
"Keine Nachfrage, keine Vertiefung": Damit hat Christian Rakow die Schwäche dieses ansonsten sympathischen Abends auf den Punkt gebracht.

Das Konzept klang spannend, die Umsetzung haperte gewaltig. Das erste Problem ist schon, dass sich die neun Casting-Szenen ohne jede Auflockerung und nur durch die kurze Einblendung eines „Iphigenie“-Zitats unterbrochen in ihrem Grundmuster wiederholen. Das ist schon nach der ersten halben Stunde, die unglücklicherweise auch die schwächste ist, ziemlich ermüdend.

Noch schlimmer ist: Der Abend hat sich zwar vorgenommen, die großen Fragen zu stellen: Wo sehen die Frauen Anknüpfungspunkte der Iphigenie-Figur zu ihrem Leben? Die Themen „Vater-Tochter-Verhältnis“ und „Aufopferung“ werden angeschnitten, auch die Exil-Situation wird mehrfach angesprochen. Aber das bleibt alles zu bemüht und in Ansätzen stecken. Über weite Strecken sind die Casting-Interviews zu fad, erst kurz vor Schluss wird es langsam besser. Die Szenen treten meist so verkrampft auf der Stelle, dass sie gar keine Chance haben, bis zu den interessanten Aspekten vorzudringen.

Dann kam auch noch Pech für die syrischen Frauen und das Dercon-Team hinzu, das an der Volksbühne massivem Gegenwind ausgesetzt sind: Zwanzig Minuten vor dem Ende fielen zunächst die englischen und deutschen Untertitel der arabischen Dialoge aus. Kaum war das behoben, musste ein Mitarbeiter auf die Bühne rennen, um Tonprobleme zu regulieren.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/09/30/iphigenie-in-tempelhof-holpriges-casting-mit-syrischen-frauen-zum-start-der-volksbuehne/
Iphigenie, Berlin: der Ort und die Menschen
vielen DANK für die nüchterne und treffende Kritik. Der Abend war ein träges Speed-Dating mit Menschen und der Innerlichkeit. Eine banale und verletzende Art dem Gegenüber etwas vormachend, Authentizität simulierend, Sehnsucht danach benutzend. Verstimmung produzierend. Ein Gebrauch für Kunst am Rande von Benutzbarkeit, also eher das menschliche gebrauchend und benutzend um das Publikum zu sentimentalisieren. aber warum an diesem Ort? Auf kleineren Bühnen, im 3. stock oder einem Salon der VB, oder als Installation in den Kunstwerken hätte damit vielleicht ein Diskursraum eröffnet werden können. so blieb alles beim Repräsentativen und stellt sich in seinem repräsentativen Wunsch über das Menschliche und die vielen vergleichbaren, verwandten und oft viel mehr eröffnenden Projekte zu gleichen Themen und Sachveralten aus den letzten 3 Jahren in Berlin.
Iphigenie, Berlin: anhalten und zulassen
Ich radelte zum Tempelhofer Feld und hoffte auf einen guten Theaterabend, schließlich hatte ich von der neuen Volksbühne diese Karte geschenkt bekommen, um mir nach aller Kritik, ein gutes Bild zu machen.
Ich ging in meinem Volksbühnen Rad T-Shirt in den Raum. Es fand gerade die Einführung statt.
Es geht um den Grundstein einer Utopie, die hier an diesem Ort nach der Idee von Piscators Totaltheater geschaffen werden sollte. Die Dame meinte, diese Idee sei von Francis Kéré hier am Ort umgesetzt worden. Und spricht dann von Augusto Boal und seinem Theater der Unterdrückten und seinen sozialen Ideologien. Es soll ein Theater der Experten des Alltag und der Experten der Krise entstehen. Soweit zu den Wünschen. Doch gerade hier entsteht der Widerspruch, weil er unglaubwürdig den wahren Geschehnissen gegenübersteht. Da reflektieren junge Menschen gerade in dieser Stadt über soziale Belange, besetzen einen Ort und werden von den Machern dieses Theaters mit diesem Anspruch nicht ernst genommen. Ist damit nur eine Chance vertan oder gilt wie überall, es ist doch scheiß egal, wer da etwas zu melden hat. Wir sind es, die Theater machen und vorgeben, was soziales Reflektieren ist. Wer uns dazwischen redet, ist unerwünscht. Experten des Alltags werden vom Theater bestimmt. Sie kommen nicht von außen.
Das kann und muss wichtig sein, gerade an solch einem Abend wie diesem. Den möchte jedoch keiner stören.
Aber nach einer Atempause sollte es tiefer gehen. Anhalten und zulassen, zumindest dann, wenn die Ideale des beschriebenen Wollens des Theaters mit denen der Besetzer eigentlich übereinstimmen. Oder habe ich mich da verhört?
Ganz wohl war der Dame, die die Einführung sprach, nicht. Hat sie vielleicht ein wenig diesen Widerspruch der letzten Tage gespürt?
Nun zu diesem gut gewollten Abend. Neun Frauen, syrische Herkunft bewerben sich auf die Rolle der Iphigenie, der mythischen Iphigenie? Diese Frauen leben seit Jahren in Berlin und werden getragen von der Idee, Theater zu spielen. Sie werden auch danach befragt.
Zentrum der Idee ist die Frage: Würdest du dich für deinen Vater, für deine Familie opfern? Meist folgt ein klares Ja. Nur einmal ein klares Nein!
Es bleiben aber die Wünsche jeder einzelnen Frau. Sie haben unterschiedliche Vorstellungen. Die eine würde niemals Achill küssen, weil es so im Mythos nicht vorkommt. Die andere verwechselt Antigone mit Iphigenie, will aber einfach nur spielen. Eine andere hatte Iphigenie drei Mal gelesen. Passend zu ihren Äußerungen rezitierten die Frauen Monologe. Eine erzählt bei einem gespielten Suizid von dem Messer, welches sie blitzschnell aus der Tasche holte.
Doch ich hätte mir an dieser Stelle mehr Erfahrungen, die diese Frauen machen mussten, gewünscht.
Ein entscheidender Monolog entfiel leider, weil die Technik versagte. Arabisch verstand bestimmt kaum einer der Zuschauer. Ich hätte mir dann, als die Technik funktionierte, diesen Teil wiederholt gewünscht.
Am Ende steht ein beeindruckender Abend, an dem man nicht über die Volksbühne diskutieren möchte. Auch, wenn man es müsste.
Richtig war die Bemerkung von Ostermeier. Er würde sich freuen, wenn Dercon den Hamburger Bahnhof übernommen hätte. Keiner würde es als gut empfinden, wenn er, Ostermeier, im München das Kunsthaus übernehmen würde.
Zumindest nach Kinder- und Selbstverwirklichungstheater der Möchtegernmimen, gab es hier einen ernstzunehmenden Abend.
Sehr freue ich mich auf Anne Tismer im großen Haus dann im November.
Ein Name erscheint mir aber viel zu wenig für eine Spielzeit, wenn ich an die vielen großen Namen im BE denke. Und da ging es dann auch wirklich groß zur Sache. Selten habe ich solch einen großartigen Abend wie beim Caligula erlebt, aber das war eine andere Geschichte.
Iphigenie, Berlin: Authentizität
Diese Iphigenie unterläuft Erwartungen. Der Zuschauer wartet auf Horrorgeschichten von Flucht und Krieg und bekommt – Befindlichkeiten. Persönliche Gefühle statt Betroffenheitsromantik, unmittelbare Blicke auf unter uns lebende Individuen statt universeller medialer Opfernarrative. Al Attar und Abusaada zwingen den Zuschauer, in diese Gesichter zu blicken und mehr zu sehen als bemitleidenswerte Bewohnerinnen der Schublade „Geflüchtete“, sind auszusetzen ihrem Blick, ihrer Individualität, ihrem Menschsein, das uns nicht gibt, was wir erwarten, uns verdient zu haben glauben mit all unserer Flüchtlingshilfe. Der Abend spielt mit unserer Sucht nach Authentizität. Ganz real, ganz nah erscheinen diese Frauen und sich doch – und hier greift dann doch das Casting-Format – Rollen, Spielende, bei denen man nie weiß, wo die Wahrhaftigkeit des „Realen“ endet und die nicht minder wirkliche des Theaters endet. Ein Abend auch über das Theater – als Schutz-, Fantasie, Möglichkeitsraum – aber auch als Ort der Begegnung mit der Wirklichkeit. Eine ambivalente Zwischenwelt, bevölkert von Menschen, die im Dazwischen eine Heimat suchen. Es ist ein Abend voller Schwächen, naiv, zuweilen sehr plakativ, zu starr in seiner Erzählweise und Klischees nicht abgeneigt, mit einem ärgerlich naheliegenden Schluss. Und doch einer, der andere Geschichten erzählt, als jene, die wir erwarten, der jenen, die sie erzählen, die Macht geben, sich die ihrige zu erkämpfen und mit ihr die Kontrolle über uns, die wir zuhören, dem, was sie uns hören lassen wollen. Und das ist es, was den Abend nachklingen lässt, auch wenn er kein großes Theater sein mag. Er ist Theater, das sich nicht schämt zu scheitern. Und gerade dadurch gelingt.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/10/02/die-wahrhaftigkeit-des-scheiterns/
Iphigenie, Berlin: Wir?
zu #4 - sascha krieger


" Der Abend spielt mit unserer Sucht nach Authentizität.

Und doch einer, der andere Geschichten erzählt, als jene, die wir erwarten ..."


herr krieger, wer sind sie - und wenn ja wie viele?

es wäre angemessen, wenn sie in der ICH-form ihre befindlichkeiten formulieren könnten ... (und nicht daraus "UNSERE" machen)

keine ahnung, was SIE erwartet haben (für mich klingt es nach allgemein veröffentlichten mainstream-sprech - welches ich LEIDER bei ihnen immer wieder etwas unreflektiert und einseitig entdecke)


ich kenne sehr viele - sehrsehr unterschiedliche - syrische flüchtlinge (und geschichten über deren familien, die nicht in europa leben)

und ja, ich begrüße es, wenn sie zeit und raum dafür hier in deutschland bekommen - und ja, es liegt auch nicht sehr fern einen castingsteg = gntm für flüchtlinge mit iphigenie zu verbinden ... denn genau DIESE widerstrebende kombination ist ein ANFANG für die kulturelle auseinandersetzung in der gegenwart aller beteiligten selbst ... ob es KUNST oder therapie für die syrischen akteure ist, das sollten diese selbst beantworten (wenn es denn nicht nur ein erster anfang bleiben sollte ...)


" Eigentlich möchte gar nicht in Deutschland sein, entschuldigt er sich fast, ein Satz, den man von fast allen Geflüchteten hört. Man möchte nicht undankbar wirken, aber man wäre halt lieber zu Hause...

Was hält Al Attar, der aus den Erfahrungen und Worten von Geflüchteten Stücke macht, von dem deutschen Trend, Geflüchtete auf die Bühne zu holen? Er habe nicht viele gesehen, gibt er sich diplomatisch, und oft steckten hehre Absichten hinter solchen Aktionen. Manchmal jedoch folge man bloß der aktuellen politischen Korrektheit. Leider gingen solche Stücke selten über die Ebene der Gefühle hinaus, und sie reduzierten Geflüchtete auf diese eine enge Kategorie. Zum wirklichen Denken regten diese Stücke kaum an ...

Der Text ist in Workshops mit elf syrischen Frauen entstanden, nicht bloß, um ihre Geschichten mit dem Text von Euripides zu verschmelzen, ihnen eine Stimme zu geben, sondern auch, um einen kathartischen Effekt für die Frauen selbst zu erzielen. Das ist eine Technik, die der brasilianische Regisseur Augusto Boal mit seinem "Theater der Unterdrückten" entwickelt hat. Eine spielerische Methode der Befreiung. "

http://www.zeit.de/2017/39/mohammad-al-attar-kunst-theater-der-unterdrueckten/seite-2
Iphigenie, Berlin: Befürchtung
Lieber Olaf,

ich würde mich ja gerne zu ihrem Kommentar äußern, aber ich fürchte mich vor dem Algorithmus von nk. Am Ende landet die Inszenierung noch in den hiesigen Charts.
Iphigenie, Berlin: partizipativ?
Es sollte ja das Satellitentheater aka Zuschauertribüne unter Einbeziehung von Flüchtlingen erstellt werden. Spielte aber irgendwie keine Rolle mehr.
Sind denn Flüchtlinge zu den Theatervorstellungen eingeladen worden? Gibt es dazu Erkenntnisse?
Iphigenie, Berlin: instrumentalisieren?
in wie weit nutzt unser kulturbetrieb die flüchtlingskrise und in wie weit ist es notwendige und relevante künstlerische auseinandersetzung, frage ich mich. instrumentalisieren wir geflüchtete? mit einer inszenierung wie IPHIGENIE und ist sie über jede ästhetische kritik erhaben, weil geflüchtete frauen dabei sind? ist es kunst oder sozialpädagogik? und, wenn wir diese inszenierung kritisieren, werden wir dann sofort in die rechte ecke geschoben? für mich war die inszenierung redundant und künstlerisch nicht aufregend. der authentizitätsaspekt interessiert mich überhaupt nicht in der kunst. wird es dann geschmacksache? kunst ist nicht die wirklichkeit, weil kunst kunst ist.
Iphigenie, Berlin: großartig, ungebrüllt
Eine wunderbare Inszenierung. Weder rührselig wie behauptet noch altbacken wie behauptet, sondern ein verblüffend untheatralischer Umgang mit der Figur der "Iphigenie". Neun Frauen, die keine der hochgeschätzten Schauspielschulen absolviert haben, spielen professionell Laiendarstellerinnen, ohne das für Amateure typische Pathos zu verkünden. Somit ist es auch kein "performatives" Theater, sondern großartiges, ungebrülltes Sprechtheater in einer räumlichen Dimension, vor der jeder Profi Respekt hätte. Schade, daß das Stück nur dreimal lief. Als Stück im Repertoire könnte es viel berechtigte Kritik am Große-Löcher-Spielplan enthärten, weil es so gut ist, und sowohl die arabische Stadtbevölkerung also auch die deutschsprachigen usw. Berliner abholen. Diese gelungene Inszenierung nicht öfter zu zeigen, füttert nur den Groll der Volksbühnenputschisten.
Iphigenie, Berlin: andere Vorzeichen
Das erste Modell von Kéré war ein gelungener Entwurf, eine bewegliche Keimzelle gegen die faschistische Ästhetik von Ernst Sagebiel, dem eigentlichen Architekten des Flughafen Tempelhof, und schloss im weitesten Sinne bei dem Entwurf von Gropius für Piscator an. Nun, in einem der Hangar in dem auch deutsche Jagdflugzeuge im dritten Reich von Zwangsarbeitern montiert wurden, so ein Rumpf einer architektonischen Idee zu präsentieren, ist ein „XXXL No GO“, angesichts der Tatsache das Gropius zeitig das Land verlassen musste, während Sagebiel nach dem Krieg als Mitläufer eingestuft wurde und alsbald in München, ausgerechnet München, weiter arbeiten konnte. Man darf einen afrikanischen Architekten wie Kéré in so einem Spannungsfeld, zwischen einer Vision eines Totaltheaters und einer Ästhetik einer Diktatur, nicht so scheitern lassen, und dann auch noch in den Rumpf seiner Idee syrische Laiendarstellerinnen installieren, die sich an einer Dramaturgie abarbeiten, die seit dem Film „Chorus Line“ von 1985 hinlänglich bekannt ist, und immer dann wieder gerne aufgegriffen wird, wenn es darum geht Abenden einen vereinfachten theatralen Rahmen zu stiften. In diesem trivialen Film kommt der Choreograph auf die unrühmliche Idee, da er nach professionellen Gesichtspunkten nicht weiter sieben kann, die Tänzer und Tänzerinnen von ihrem privaten Leben erzählen zu lassen, um auf Grundlage dieser Äußerungen seine Casting-Entscheidung zu fällen, und noch heute bauen die verschiedenen Casting-Shows Schicksalsgeschichten (auch aus dem Syrien-Krieg) in ihre Abläufe ein. Ein simpler Trick. Aber keine Grundlage für ein komplexes Stück, denn für die Tragödie der „Iphigenie“ gibt es mehr als die Rolle einer jungen Frau zu besetzen. Ob der Stoff wirklich Regietheatertechnisch tragfähig für den aktuellen Konflikt ist, nun, diese Frage bleibt wohl ohne Antwort. Und welches Laientheater vollzieht überhaupt derartige Vorsprechen? Kommen solche Gruppen nicht unter ganz anderen Vorzeichen zusammen? Eben wie so eine Gruppe, die das Haus besetzte, schwellenfrei. (Wobei es ein Irrtum ist, bei den Besetzern von ungelernten Kräften zu sprechen. Dort finden sich durchaus Biographien mit abgeschlossenem Studium und Lehr- und Berufserfahrung.) Was ist da bei Attar wirklich gemeint?! Das man eine Laiendarstellerin in der Hauptrolle sucht für eine ansonsten professionelle Truppe? Oder krampft sich da in seinem Stück eine Laienspielschar professionell ein? Warum beschreibt keiner der Kritiker genauer das eigentliche Stück? Wieso kann ich den Text nirgendwo nachlesen? Da eilte wohl die Idee dem Kunstwerk voraus und am Ende blieb nur ein schlichtes dramaturgisches Gerüst in einem nicht mal halbfertigen Theater über, so wie ja eigentlich alles unausgegoren ist, sowohl die neue Volksbühne, wie auch die Idee der „kollektiven Intendanz“ der Besetzer. Auch hierin, in diesem Punkt treffen sich die Lager wieder. Vielleicht sollten sie doch einmal miteinander reden, bevor der Konflikt in die nächste Runde geht, und weiterhin dieser „schnöde scharfe Winterwind“ des Streites unsere Gemüter vergiftet. Eventuell gibt es ja mehr Gemeinsamkeiten als es allen Beteiligten lieb ist. Und vielleicht finden man im gemeinsamen Gespräch den eigentlichen Grund der scheinbaren tiefen Entzweiung. Wie dem auch immer sei, der Begriff „Volk“ hat endgültig ausgedient, und eine Nation im Sinne von Freiligrath, so hofft man, wollen wir ja auch nicht mehr sein. Was soll also dieses „Trotz alledem Volksbühne“ noch?!
Kommentar schreiben