Unsere kleine Stadt

von Thomas Rothschild

Ulm, 5. Oktober 2017. Die Bewohner von Dogville sitzen fast unbewegt in Gruppen auf schlichten Stühlen, die von Scheinwerferkegeln aus dem Halbdunkel der leicht nach hinten ansteigenden Bühne herausgehoben werden. Dann öffnet sich die wie aus rostigen Platten bestehende halbhohe Wand, die die Spielfläche begrenzt, an der Rückseite, und Grace betritt den Raum.

Das Verfahren hat sich im Drama, aber auch im Film und im Roman bewährt: Eine Frau oder ein Mann dringt von außen in ein Kollektiv ein. Ob das nun Luka im Nachtasyl ist oder Claire Zachanassian in Güllen – sie bringen die Verhältnisse durcheinander und die Zustände zum Vorschein. Der Gegensatz ist in Andreas von Studnitz' Inszenierung von Beginn an deutlich markiert. Grace (Sidonie von Krosigk) trägt ein helles, rot-weiß gemustertes Kleid, das Kollektiv der Einheimischen, das der Fremden zunehmend feindselig begegnet, ist gekennzeichnet durch gedeckte, trübe Farben. "Dogville" stellt den Menschen kein gutes Zeugnis aus, und in den vierzehn Jahren, die seit der Premiere des gleichnamigen Films vergangen sind, ist seine Diagnose eher plausibler als widerlegt worden.

Like Thornton Wilder

Bühnenbearbeitungen von (erfolgreichen) Filmen gehören mittlerweile zum Theateralltag. Unter ihnen nehmen die Filme Lars von Triers eine prominente Stellung ein, und unter diesen wiederum hat es insbesondere "Dogville" den Dramaturgien und den Regisseuren angetan. Es wäre wohl zu kurz gegriffen, wenn man dies auf die Tatsache zurückführte, dass sich gerade dieser Film seinerseits – insbesondere im Bühnenbild (!) – bühnenspezifischer Mittel bedient. Der unvermindert aktuelle Stoff und die geschickte Dramaturgie tragen wohl ihren Teil zur Popularität bei, die vergessen lässt, dass Lars von Trier zunächst vor allem durch die exzessive Verwendung der Handkamera, also einer durch und durch filmischen Technik, und als Mitinitiator von Dogma 95 berühmt wurde.

dogville3 560 Jean Marc Turmes uDogville, ein Schlaglicht © Jean Marc Turmes

Die Blickführung durch die Kamera ersetzt in Ulm zu einem guten Teil die Lichtregie, die kluge Nutzung von Spots und von farbiger Beleuchtung, die an die Viragierung im Stummfilm denken lässt. Der Regisseur Andreas von Studnitz hält das durchweg bestechende Ensemble konsequent zu stilisiertem Spiel an. Die Inszenierung findet auf kleiner Flamme statt, ohne Druck und Pathos. Kurze Musiken dienen als Interpunktion. Ein Erzähler verleiht schon von Triers Film einen epischen Charakter. In Christian Lollikes Dramatisierung sind es vor allem Grace und Tom, die Figur, die zwischen Grace und der Bevölkerung von Dogville vermittelt, die frontal zum Publikum sprechen und in der dritten Person erzählen. Genau besehen befindet sich das Bühnen-"Dogville" näher an Thornton Wilders Version des epischen Theaters als am Kino. Aus der Filmvorlage hat die Aufführung an die Rückwand projizierte Kurztexte übernommen, die den epischen Duktus verstärken und sogar zum Lyrischen hin ausweiten.

Keine (einfachen) Antworten

Die Diskretion der Regie, die auf äußerliche Effekte verzichtet, setzt sich in den heiklen Szenen des Stücks fort. Die Vergewaltigungen werden in starren Bildern angedeutet, nicht ausgespielt. Für Voyeurismus ist da kein Platz. Das geht aber nicht auf Kosten der Eindringlichkeit. Gegen Ende liefert der Regisseur höchstpersönlich als "Der große Mann" eine köstliche Studie eines Gentleman-Mafioso. Und wenn Grace dann ihre Peiniger nach dem Vorbild von Brechts Seeräuber-Jenny hinrichten lässt ("Und an diesem Mittag wird es still sein am Hafen / Wenn man fragt, wer wohl sterben muss. / Und dann werden Sie mich sagen hören: Alle! / Und wenn dann der Kopf fällt, sag ich: Hoppla!"), und wenn sie Tom eigenhändig erschießt, hört man keinen Knall, sieht man keine sich windenden Opfer. Den Rest erledigt die Vorstellungskraft der Zuschauer.

dogville4 560 Jean Marc Turmes uGrace (=Gnade), gespielt von Sidonie von Krosigk, in Gefahr © Jean Marc Turmes

Ganz am Anfang hört man einen kurzen Ausschnitt aus einer Radioansprache Franklin D. Roosevelts. Das Programmheft weist darauf hin, das Lars von Triers Film in den USA der dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts spielt. Diese historische Lokalisierung wird, über Roosevelts Rede hinaus, in der Ulmer Inszenierung nicht forciert. Es wird aber auch nicht nachdrücklich Bezug genommen auf die gegenwärtige Situation von Flüchtlingen, was sich durchaus anböte: Grace kommt ja als solche nach Dogville, wenn die wahren Umstände ihrer Flucht auch bis zum Schluss unklar bleiben. Auch hier bleibt es dem Publikum überlassen, das Besondere aus dem Allgemeingültigen zu destillieren. "Dogville" ist in Ulm politisches Theater, das Raum lässt für individuelle Stellungnahmen. Zum Beispiel über die Berechtigung von Gewalt, wo Gewalt herrscht. Eine Antwort gibt dieses Stück nicht. Darin unterscheidet es sich von der "Heiligen Johanna der Schlachthöfe". Grace ist keine Heilige. Immerhin: Das deutsche Wort für Grace ist Gnade.

Dogville
nach dem gleichnamigen Film von Lars von Trier, für die Bühne adaptiert von Christian Lollike, deutsch von Maja Zade
Regie: Andreas von Studnitz, Bühne: Mona Hapke, Kostüme: Gabriele Frauendorf, Dramaturgie: Nilufar K. Münzing.
Mit: Jakob Egger, Sidonie von Krosigk, Peter Reinhard, Fabian Gröver, Margarete Lamprecht, Anna Schlothauer, Barbara Schmidt, Julia Baukus, Christian Streit, Franziska Maria Pößl, Gunther Nickles, Christel Mayr, Götz Burger, Timo Ben Schöfer, Michaela Miller-Englbrecht, Andreas von Studnitz, Benedikt Paulun.
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, eine Pause

www.theater-ulm.de

 

Kritikenrundschau

Von Studnitz setzt auf Reduktion der Mittel, schreibt Magdi Aboul-Kheir in der Südwest Presse (7.10.2017). "Und weniger ist manchmal tatsächlich nur weniger." Wenn aber in einer "so skelettierten Versuchsanordnung" Lügen und Egoismus, Heuchelei und Opportunismus, Verrat und Gewalt verhandelt werden, müssten Sprache  und Figuren das Drama tragen. "Doch dafür ist 'Dogville' zu spannungsarm und statisch inszeniert", so Aboul-Kheir. Zudem habe von Studnitz bei der Besetzung nicht durchgehend ein glückliches Händchen. "Das schließt seinen eigenen ungenauen Auftritt als Gangster-Boss mit ein." Es bleibe "eine maue mis­anthrope Menschenbetrachtung, in der von Triers paradoxe Dialektik für ein paar zynische Lacher oder Augenblicke des Abgestoßenseins gut ist, aber nicht für zwei bannende Theaterstunden".

"Ganz ohne Theaterblut und Waffengeräusch, sichtbar nur durch Bewegung und Emotion: Gerade in der sublimen Darstellung liegt die große Stärke von Andreas von Studnitz' überraschender und unter die Haut gehender Inszenierung von 'Dogville' am Theater Ulm", schreibt Dagmar Hub in der Augsburger Allgemeinen (7.10.2017). "Sidonie von Krosigk als Grace, einst Kinderstar der Bibi Blocksberg-Filme, zeigt in ihrer letzten Rolle am Theater Ulm psychologisch vielschichtige Facetten einer Charakterdarstellerin, zu der sie sich inzwischen entwickelt hat." Und am Ende stehe die Frage: "Ist es falsch, Fehlverhalten grundsätzlich entschuldigen zu wollen, oder siegt am Ende die Barbarei?" Eine Antwort gebe "Dogville" nicht. "Aber viel Stoff zum Nachdenken."

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