Ansitzen gegen die Schwerkraft

von Reinhard Kriechbaum

Graz, 6. Oktober 2017. Es fällt einmal sogar ein ganzer Satz auf Deutsch: "Wohl hat Gott den Menschen erschaffen, auf dass er Trompete spiele." Wohl, wohl, das könnte man beinahe so glauben. In der Gruppe von Marlene Monteiro Freitas sind nämlich auch fünf Trompeter, und die spielen nun wirklich so göttlich frivol, als seien sie Ursache und Ziel der Schöpfung zugleich. Und Selbstzweck. Aber sie sind nur ein Teil in diesem performativen Orchester. Die anderen acht halten gar nicht zimperlich dagegen, und sei's mit Gartenschläuchen. Ein Trichter auf der einen Seite, ein Trompetenmundstück auf der anderen. Das kann ein Blasinstrument sein, ein Gymnastikgerät, ein Modeaccessoire oder, das größere Stück ans Herz und das kleinere an ein Mikrophon gehalten, ein Stethoskop. Eines, das uns das Pulsieren hören und fühlen lässt in diesen dreizehn Menschen. Sie haben karibische Rhythmen im Leib und (möglicherweise) Euripides im Kopf. Für "Bacchae – Prelude to a Purge" holen sie mächtig aus beim "steirischen herbst" in Graz.

Notenständerwelten

Aber bevor wir von Euripides reden oder davon, dass in der Lesart der Marlene Monteiro Freitas von dessen Bakchen ohnedies rein gar nichts übrig bleibt, nicht mal in Spurenelementen, müssen wir von Notenständern berichten. In der Dingwelt scheint Gott diese nämlich geschaffen zu haben als Allzweck-Surrogat, als allzeit dienstbare Geister für jede Art von Betätigung und subversivem Tun. Nicht von stabilen Holzpulten reden wir, sondern von diesen zusammenlegbaren sperrigen Metalldingern, an denen weniger Begabte zerren und herumschieben und sich die Finger einzwängen. Was kann man im Verlauf von zweieinviertel Stunden nicht alles anstellen damit! Sie stolz als Zepter vor sich hertragen oder es als angedeutete Phallen mit ihnen treiben. In entsprechende Form gebracht sind sie Regenschirme, Schutzschilder, Hieb-, Stich- und Schusswaffen, Staubsauger und andere Kehrgeräte. Musikalisches Schlagwerk sowieso und sogar imaginierte Schreibmaschinen.

Bacchae1 560 FilipeFereira uBlind und ausgeliefert sitzen in einer Welt von magersüchtigen Säulen  © Filipe Fereira
So wie in "Bacchae – Prelude to a Purge" ein jeder und eine jede in der Kompagnie beständig individuell ausbricht aus den kollektiven Tätigkeiten, scheinen auch die Notenständer ein sinnliches, ein übersinnliches Eigenleben zu führen. Als ernsthaft eigenwillige Mit- und Gegenspieler bestimmen sie nicht zuletzt das Bühnenbild, müssen höchstens noch mit einigen Mikrophonständern konkurrieren. Auf der niedrigen, stark querformatigen Spielfläche zeichnen sie sich sperrig ab vor dem leuchtend weißen Hintergrund, stehen da wie Stelen, wie magersüchtige Säulen griechischer Tempel.

Im dickleibigen Buch mit Hintergrundgeschichten zum "steirischen herbst" in Graz steht eine nette Geschichte. Marlene Monteiro Freitas sei zwecks Euripides-Einstimmung nach Griechenland gereist und mit der Erkenntnis heimgekehrt, dass die Menschen dort am liebsten herumsitzen. Und so hat sie ihre Tänzer/Performer auf Hocker mit ganz dünnen Metallbeinen gebannt. Weite Strecken dieses Bacchanals passieren also im Sitzen. Trotzdem bricht sich sagenhafte Bewegungsenergie Bahn.

Vorspiel zur Seelenreinigung

Temperamentvoll-athletisches Ansitzen gegen die Schwerkraft, die in dieser Bakchen-Paraphrase vielleicht für die alte Weltordnung steht, für das männliche Establishment. Gegen dieses ziehen (bei Euripides) die Frauen als Anhängerinnen des Dionysos los. Das Narrative ist aber weder Sache noch Ziel der Performerin von den Kapverdischen Inseln. Und mit Gender-Festschreibungen hält sie es schon gar nicht. So bleibt Marlene Monteiro Freitas, die dem alten Europa keine Spiegel, sondern eher (Über)Lebensmodelle aus insulanischer Perspektive vorhält, natürlich nicht bei Euripides hängen. Wenn es eine Geschichte hinter der Erzählung von der Zügellosigkeit gibt, dann jene, wohin das Entgrenzen, das Hinter-sich-Lassen von Schranken und Einengungen führen könnte.

Macht ein Bacchanal wirklich frei? Kann es ein "Prelude to a Purge" sein, wie es dieses Schau-, Hör- und Sinnspiel im Titel ankündigt – also das Vorspiel zu einem Befreiungsschlag, einer Seelenreinigung? Marlene Monteiro Freitas führt es erst zurück aufs Ursprüngliche, Archaische. Eine Geburtsszene aus einem japanischen Experimentalfilm der 1970er Jahre ist ein Ruhepol in der Turbulenz. Musikspuren führen aus der Welt der Barockoper zu Debussy (Prélude à l'après-midi d'un faune) und zum Concierto de Aranjuez.

Zügellos in der Begrenzung

Fürs Finale hat die Performerin Ravels "Bolero" in voller Länge ausgebreitet. Die pure Zügellosigkeit findet sich wieder im Regulativ eines einzigen Rhythmus und einer stereotypen Melodie. Was für ein Widerspruch! Vom befreienden Bacchanal bleiben Relikte wie Zwangshandlungen. Wie traurig schauen die beiden Männer mit ihren Clowns-Mündern, von denen der eine mit dem Mut der Verzweiflung den Bolero-Rhythmus aus dem Holzblock schlägt und der andere mit seinen Kastagnetten, dem Musiksymbol des Befreienden schlechthin, am Musik-Stereotyp scheitert.

Die Hör-Bilder der Frau Freitas sind keine Schulbuch-Illustrationen. Die Schlüsse muss schon jeder im Publikum selbst und für sich ziehen. Eben das ist das An- und Aufregende an diesem performativen Theater, das im Grazer Schauspielhaus geradezu enthusiastisch aufgenommen wurde.

 

Bacchae – Prelude to a Purge
Performance von Marlene Monteiro Freitas
Choreographie: Marlene Monteiro Freitas, Licht und Bühne: Yannick Fouassier, Ton: Tiago Cerqueira.
Mit: Marlene Monteiro Freitas, Cookie, Flora Détraz, Miguel Filipe, Johannes Krieger, Patrick Lander, Gonçalo Marques, Andreas Merk, Tomás Moital, Cláudio Silva, Guillaume Gardey de Soos, Betty Tchomanga, Yaw Tembe.
Dauer: 2 Stunden und 15 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus-graz.com
www.steirischerherbst.at
www.hebbel-am-ufer.de

 


Kritikenrundschau

"Tolldreistes, bilderreiches Tanz- und Musiktheater", das "alle Sinne" fordere, hat Norbert Mayer von der Presse (online 7.10.2017) in Graz erlebt. "Es wurde mit surrealen Masken, Symmetrien und Reflexionen gearbeitet. Im Hintergrund wies ein großer Spiegel deutlich darauf hin, dass Schein und Sein zuweilen schwer zu unterscheiden sind."

"Alle dreizehn Tänzerinnen und Performer, Musiker und Mänaden werden bei Freitas zu Teilen eines detailreichen Spiels über die Allüren, Listen und Lüste des hellenischen Wein-Weib-Gesang- und Theatergottes", schreibt Helmut Ploebst in Der Standard (8.10.2017). Wie auch in früheren Arbeiten trage Freitas hier kein Bedeutungsgerüst vor sich her. "Soll heißen: In dem penibel konstruierten, scheinbaren Chaos auf der Bühne bleibt dem Publikum die Freiheit der Lektüre voll erhalten", so Ploebst. "'Bacchae – Prelude to a Purge' gehört in seiner Anlage und überwältigenden Umsetzung auf der Bühne zu den brillantesten Werken der Gegenwartschoreografie."

 

Kommentare  
Bacchae, Graz: Reise ins Irrationale
Wer sich auf diesen Abend einlässt, der wird begeistert sein. Fantasievolles intelligentes Tanztheater. Glanzpunkte des abends sind die karnevalesken Momente, die Geburt eines Kindes und der Bolero von Ravel. Das Stück ist eine Reise ins Irrationale mit faszinierenden Bildern, die mit sparsamen Requisiten (Notenständer) erzeugt werden. Gönnen Sie sich diesen lebendigen Abend voller Lebensfreude.(Kampnagel Sommerfestival; Hamburg August 2017)
Bacchae, Berlin: formal brillant, dramaturgisch gescheitert
Formal brillanter, dramaturgisch allerdings vollkommen gescheiterter Abend. Nach einer Stunde hätte man den Vorhang senken sollen und nicht weiter über die Bakchen nachdenken müssen. Dann hätte man einen Theaterabend in Erinnerung behalten, der im Moment wirklich seines Gleichen sucht.
Bacchae, Berlin: leider nur 2 Vorstellungen
Berlin war schon lange vor dem Beginn der Ära Dercon/Charmatz, die an der Volksbühne einen Schwerpunkt auf Tanz legen, mit modernen Choreographien und Performances verwöhnt.

Marlene Monteiro Freitas, die auf den Kapverdischen Inseln geboren ist und seit 2012 mit kleineren Arbeiten regelmäßig am HAU gastiert, setzt mit ihrem bisher größten Projekt „Bacchae – Prelude to a Purge“ ein Ausrufezeichen. Ihr Stil ist ein spannender Mix, der sich aus ganz unterschiedlichen Quellen speist: Zunächst fällt die mitreißende Musik ihrer Compagnie auf. Stampfend und überschäumend zelebrieren sie das dionysische Prinzip, das in der antiken griechischen Mythologie der rauschhafte Gegenpol zum vernunftgeleiteten Appolinischen war. Dies ist die einzig offenkundige Anleihe aus der „Bacchen“-Tragödie des Euripides, deren Handlungsgerüst und Figuren in dieser überbordenden Performance, anders als der Titel vermuten ließe, ansonsten keine Rolle spielen.

Die zweite Quelle, aus der sich dieser Abend speist, sind klassische Clownsnummern. Die fünf Trompeter sind fast noch stärker geschminkt als Monteiro Freitas und die sieben anderen Tänzerinnen und Tänzer. Augen und Münder sind durch dicke Farbschichten überbetont und werden vor allem von den drei Frauen oft voller Entsetzen weit aufgerissen. Auch die Bewegungen greifen tief auf den Fundus des Slapsticks zurück. Das Interessante des Abends ist, dass aus der Kombination dieser z.T. sehr deutlichen Anleihen bei der berühmten Schreibmaschinen-Nummer des im August verstorbenen Jerry Lewis oder bei Charlie Chaplin mit karibischer, portugiesichen und brasilianischen Musikstilen und klassischer griechischer Mythologie eine eigenständige neue Mischung entsteht, die ein bunter Farbtupfer in der Tanzszene ist.

Vor allem in der zweiten Hälfte schlägt die mehr als zweistündige schweißtreibende „Bacchae“-Performance den einen oder anderen Haken zu viel.

Eine Woche nach der Premiere beim Steirischen Herbst in Graz ließ die internationale „Bacchae“-Koproduktion das HAU 1 bei vorerst leider nur zwei Vorstellungen vibrieren. Mit ihrer Power hätten sie keine Probleme, auch wesentlich größere Bühnen wie das Haus der Berliner Festspiele oder die Volksbühne zu bespielen und die ganze Wucht ihrer Performance zur Geltung zu bringen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/10/14/bacchae-prelude-to-a-purge-lassen-das-hau-vibrieren/
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