Der einzige Unterschied

von Sabine Leucht

München, 12. Oktober 2017. In der Bildenden Kunst heißt es Appropriation Art; im Tanz ist die möglichst exakte Rekonstruktion ein Mittel zur Bewahrung des kulturellen Erbes und hat ihren Grund darin, dass das Original nicht mehr greifbar ist. Bei Anna-Sophie Mahlers Musiktheaterinszenierung nach Josef ("Sepp") Bierbichlers autobiografisch gefärbtem Roman "Mittelreich" ist das anders. Sie ist noch immer an den Münchner Kammerspielen zu sehen, wo Mahlers einstige Regieassistentin Anta Helena Recke nun eine Kopie davon hergestellt hat: genau bis ins Detail jedes scheinbar zufälligen Schnaufers oder Seitenblicks! Zur Ursprungsinszenierung gibt nur einen einzigen Unterschied: Alle Schauspieler, alle Musiker – ja überhaupt alle Beteiligten an der "neuen" Produktion sind schwarz.

Es geht um den weißen Blick

Erinnerungen an drei Generationen einer bayerischen Wirtshausfamilie, zwei Weltkriege und die dazugehörigen Flüchtlingswellen werden musikalisch getriggert; außerdem handelt die Geschichte von einer Handvoll ins eigene Leid verkapselten Seelen. Die Hautfarbe der Darsteller erfüllt hier keine authentische Repräsentationsaufgabe und soll auch nicht egal sein. Sie will irritieren, die Inszenierung will Geste sein. Denn Recke, selbst Afrodeutsche, hat bei ihrer Arbeit in den letzten Jahren immer nur Weiße auf der Bühne gesehen und will nun das Selbstverständnis der weißen Mehrheitsgesellschaft erschüttern, die sich für die Norm hält und "ihre" Themen für universal. Der Umkehrschluss: Schwarz ist die Abweichung und also defizitär.

mittelreich2017 3 560 c judith buss uv.l.n.r.: Isabelle Redfern, Ernest Allan Hausmann, Yosemeh Adjei, Jerry Hoffmann, Moses Leo
© Judith Buss

In einem aktuellen Beitrag in der Zeitschrift Theater heute schreibt die Münchnerin gar vom "Unvermögen der weißen Imagination, sich einen schwarzen Körper jenseits von Prekariat, Armut, Not, Exotik oder Flucht vorzustellen". Die längst nicht mehr zum Spiegel der Gesellschaft taugende relative Homogenität der meisten deutschen Stadt- und Staatstheaterensembles ist bekannt.

Doch schon im Ballett oder in der Oper sieht es ganz anders aus, ohne dass jemand automatisch Elend assoziiert. Und allein in München wird nur wenige Tage nach der Zweit- und zugleich letzten Vorstellung von "Mittelreich" 2 das Spielart-Festival wieder mit so vielen Hautfarben wie Vorstößen zur aktiven Gestaltung ästhetisch-politischer Realität aufwarten. Reckes in diversen Vorabinterviews geäußerten Sätze über die Hoffnung, die im Stück verhandelten Themen würden automatisch neue Assoziationsräume öffnen, wenn sie nur "durch schwarze Körper hindurchgingen", mutet vor diesem Hintergrund ein wenig naiv an. Wenn nicht gar alarmierend: schon klar, dass ihre Arbeit den weißen Blick thematisiert. Aber wie sehr hat sie ihn bereits selbst internalisiert und äußere Merkmale mit externen Zuschreibungen zu unauflöslichen Bündeln verschnürt?

Verfremdungseffekt wird neutralisiert

Macht man also irgendetwas falsch, wenn man in "Mittelreich" keine "schwarzen Körper", sondern einfach Menschen sieht? Man spürt sie zwar, die Stellen, an denen man zusammenzucken sollte. Gleich beim Brahms-Requiem zu Beginn ("Selig sind, die da Leid tragen..."), wenn Isabelle Redfern als Seewirts-Mutter sagt: "Das sind doch ganz andere Leute, diese Flüchtlinge. Die passen doch nicht hierher!" – oder als Semi, der jüngste Familienspross, sich zum Sauschlachten mit Kalk bestäubt oder bei der Schilderung des Missbrauchs durch einen Priester dessen "fettes weißes Fleisch" benennt (wie es beides auch Steven Scharf im Original schon tat). Selbst wenn man da wirklich einmal zusammenzuckt, öffnet sich auf Dauer keine "andere Ebene darunter" zu Sklaverei, Kolonisation und rassistischen Gräueltaten. Bierbichlers Geschichte, gespickt mit Vergewaltigungen, verzweifelter Liebe zur Mutter, väterlicher Verantwortungsdesertion und einer ganzen Kindergruppe im Gas hat ja an sich schon sehr viele Untiefen. Und ist – auch weil Mahler schon viel Bayerisch-Saftiges dem suggestiv Artifiziellen geopfert hat – auch universell genug, um den beabsichtigten Verfremdungseffekt zu neutralisieren.

Als Kopie ist der Abend teils verblüffend gut: Moses Leo sieht man mit Steven Scharfs Handbewegungen den Sturm beschwören und (genau auf dieselbe Weise wie er) den Kopf neigen. Victor Asamoah trifft haargenau den Ton und das Idiom, das Jochen Noch dem Ostpreußenflüchtling Victor gegeben hat. Und Yosemeh Adjei imitiert die spöttisch-divenhafte Haltung wie den starken Akzent des Australiers Damian Rebgetz. Das musikalische Können ist in dieser "Schwarzkopie" (Recke) heterogener als im Original – Adjei und Redfern sind ausgebildete Sänger – das schauspielerische kann insgesamt nicht ganz mithalten. Es ist aber auch schwierig, sich zu zeigen, wenn die einzige Aufgabe in der Piraterie der schöpferischen Leistung eines anderen besteht. Der Atmosphäre des Abends ist abträglich, dass der Chorgesang aus dem Off kommt und auf der Bühne nur Chor-Statisten stehen, weil es offenbar keinen rein schwarzen Chor in Deutschland gibt, der sich mit dem europäischen Kunstlied befasst. Dafür war das Publikum divers wie selten.

Mittelreich
nach dem gleichnamigen Roman von Josef Bierbichler
Kopie der Inszenierung von Anna-Sophie Mahler
Regie: Anta Helena Recke nach Anna-Sophie Maler, Bühne: Duri Bischoff, Kostüme: Pascale Martin, Musikalische Leitung "Mittelreich" 1: Bendix Dethleffsen, "Mittelreich" 2: Prisca Mbawala-Dernbach, Dramaturgie "Mittelreich" 1: Johanna Höhmann, "Mittelreich" 2: Julian Warner.
Mit: Ernest Allan Hausmann, Isabelle Redfern, Jerry Hoffmann, Moses Leo, Victor Asamoah, Yosemeh Adjei; am Flügel: Miriel Cutino Torres, Romy Camerun, Pauke: Jan Burkamp, Choraufnahme: Junges Vokalensemble München, Chorleitung: Julia Selina Blank.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de

 

Mehr zu Anta Helena Recke und ihrem Prinzip SchwarzkopiePresseschau vom 13. Oktober 2017 – Der Freitag interviewt die Münchner Regisseurin Anta Helena Recke zu ihrem Remake von Anna-Sophie Mahlers "Mittelreich" an den Kammerspielen

 

Kritikenrundschau

"Für das Bühnengeschehen völlig irrelevant" sei die Hautfarbe der Darsteller*innen, schreibt Eva-Elisabeth Fischer in der Süddeutschen Zeitung (14.10.2017). "Denn eine ähnliche Familiensaga um Schuld, Verdrängung, Missbrauch, Flüchtlingsproblematik und Erbstreitigkeiten wäre (…) wohl überall vorstellbar." Vor allem aber kranke Reckes Re-Inszenierung an den Akteuren, "weshalb sich eigentlich jede weitere Diskussion erübrigt", so Fischer: "Auf der ganzen Linie schlechtes Laientheater zu inszenieren, das nun aber ist wirklich diskriminierend."

"Man kann einen modernen farbigen Film mittels Fernbedienung in einen schwarz-weissen verwandeln; dass man dadurch auch die Zeit und die Atmosphäre des Films und um einen selber herum ändert, bleibt eine Illusion", schreibt Bernd Noack in der Neuen Zürcher Zeitung (14.10.2017). "Wenn man nun im Theater aus Weiss Schwarz macht, erzielt man einen ähnlichen Effekt: die Umkehrung der Wirklichkeit – ohne wirkliche Wirkung." Das zweite "Mittelreich" bleibe eine gedanklich überanstrengte Spielerei mit nicht einleuchtendem Rollentausch, "deren kulturpolitischer Anspruch und Protest als aufgepfropft engagierte Behauptung über der bekannten Szene schwebt und tatsächlich zum eher zweifelhaften Vergleich zwischen der weissen und schwarzen Truppe herausfordert", so Noack: "Wäre da nicht dieses Ensemble, das völlig abgesehen von der Hautfarbe ein hervorragendes ist. Dessen Leistung wurde ärgerlich verschenkt!"

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (14.10.2017) fragt Teresa Grenzmann:  Wer eigentlich genau am Ende dieses "kuriosen Theaterabends" so "lautstark gefeiert" worden sei: Der Autor Bierbichler, die Regisseurin Mahler oder die "Theatermacherin" Anta Helena Recke für ihr "legales 'Appropriation'-Plagiat"? In München werde eine "vollkommen überflüssige Disziplin" zelebriert: "die Schauspielkunst der minutiösen Imitation einer Momentaufnahme". Die "erklärte Radikalität", mit der Recke "durch die (beinahe) detailgetreue Übernahme fertiger Inszenierungen unter Auswechslung aller 'weißen' Darsteller und Musiker" auf Rassismus und fehlende Integration aufmerksam machen wolle, rücke dabei in den Hintergrund. Weil ein Publikum gar nicht so "selbstreflexiv" sein könne, dass es sich selbst dabei zuschaue, wie "Schauspieler Y die Rolle des Z interpretiert, indem er Schauspieler X imitiert, während dieser die Rolle des Z interpretiert".

Auf Spiegel online (24.10.2017) kritisiert Matthias Dell, dass die Kritiker den Abend gar nicht verstanden haben, "nicht verstehen wollten, nicht verstehen konnten." Denn die Kritiken haben "ihr eigenes Unverständnis umgehend Reckes Inszenierung in Rechnung gestellt. Etwa: dass die Menschen auf der Bühne 'so schwarz' ja gar nicht seien". Ein anderer Lapsus "war die automatische Assoziation, dass schwarze Schauspieler auf der Bühne nur als 'Flüchtlinge' gedacht werden können, dass da also 'Fremde' einen 'deutschen', 'bayrischen' Stoff darbieten." Dass die in München zur Welt gekommene und aufgewachsene Regisseurin mit dieser bayerischen "Seewirt"-Welt aus Bierbichlers Roman vertraut ist, verschwinde völlig in der Blindheit, mit der die Kritik nur auf Reckes Hautfarbe starre. "Schwarz allein reicht nicht", hieß es in einer Kritik, Und Dell fragt: "Wie kann man so einen Unsinn schreiben und dann auch noch davon ausgehen, man wüsste irgendwas über Rassismus?" Weiter heißt es: "Es ist eine spannende Frage, was in den Rezensionen gestanden hätte, wären die Redaktionen auf die Idee gekommen, Kunstkritikerinnen in Reckes avanciertes Projekt zu schicken. Die hätten vermutlich nicht wie der Ochs vorm Scheunentor gestanden, weil Konzeptkunst in ihrem Fach eine Geschichte hat, weil Reckes Idee in der Linie von Arbeiten der 'Appropriation Art' steht, von Elaine Sturtevant oder Sherrie Levine."

 

 

 

 

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