Angstvoll angepasst

von Dirk Pilz

17. Oktober 2017. Diesmal eine Frage: Kann es sein, dass diese Ost-West-Sache in Deutschland doch noch nicht durch ist? Dass die sogenannte Wiedervereinigung zwar in den Geschichtsbüchern steht, aber in den Köpfen und Gefühlen längst nicht vollzogen ist, und zwar hüben wie drüben nicht? Es scheint mir so.

Spinnen die Sachsen?

Es wird jetzt wieder viel von den vorgeblich verbitterten Ostdeutschen (vor allem Männer) und den angeblich Abgehängten geredet, es werden Unterschiede gesetzt, weil es Unterschiede gibt, zum Beispiel den, dass die rechtsradikale AfD bei der jüngsten Bundestagswahl drei Direktmandate im Osten gewann, allesamt in Sachsen.

kolumne 2p pilzWer einfache Antworten sucht, wird falsche Fragen finden: Spinnen die Sachsen? Das höre ich jetzt oft, denn ich wuchs in Sachsen auf. Seit 25 Jahren bin ich zwar fort, aber man wird seine Herkunft ja nicht los. Also glauben Nicht-Sachsen, dass ein Sachse vielleicht erklären kann, was mit den Sachsen los ist. Damit fangen die Probleme schon an: Dass einer über Sachsen Bescheid wissen soll, weil er aus Sachsen kommt – das ist Blut- und Bodendenken. Der AfD zum Beispiel gefällt dergleichen.

Ja, wenn es so einfach wäre. Aber die AfD zum Beispiel ist nicht die Partei der Spinner und Abgehängten. Der Rassismus, die Fremdenfeindlichkeit, das Ressentiment hockt in der Mitte der Gesellschaft, nicht bei "den anderen", nicht an den Rändern. Es ist auch keine Ost-Partei, wie sich der Rechtsradikalismus generell nicht geographisch einhegen lässt.

Späte Ankunft

Woher also dieses überall wachsende negative Grundgrollen im Land? Woher das Ressentiment allerorten? Ein Grund, ein wichtiger in Deutschland, ist – für alle Schnell- und Querleser zur Sicherheit noch einmal: ein Grund, nicht der alleinige –, dass die deutsch-deutsche Wiedervereinigung in mentaler Hinsicht jetzt stattfindet, jetzt erst. Es kommt bruchstückhaft, konfliktreich im Bewusstsein langsam an, was in der Geschichte geschehen ist, im Osten wie im Westen.

Gut ein Vierteljahrhundert nach der Wiedervereinigungsurkunde wäre es deshalb Zeit, nachzufragen. Bei den Ostdeutschen nach ihrer damaligen Einstellung zu SED, Stasi und Staat in 40 Jahren DDR. Nach der seltsamen Stabilität eines diktatorischen Regimes, das ohne schwierige oder billige Kompromisse, ohne wider- oder bereitwillige Loyalität, ohne kollektives Wegschauen und allseitiges Mitmachen nicht bestanden hätte. Die Erinnerung an die DDR wird jedoch von Helden- und Stasigeschichten dominiert; der gewöhnliche DDR-Mensch kommt darin nicht vor. In solchen Lücken hakt sich das Ressentiment fest.

Gut ein Vierteljahrhundert danach wäre es gleichermaßen Zeit, nach den gewöhnlichen Westdeutschen zu fragen, nach der sonderbaren Interesselosigkeit, der vorherrschenden Annahme, die Wiedervereinigung sei wesentlich eine ostdeutsche Angelegenheit und habe mit dem Leben in Freiburg oder München nichts zu schaffen.

Depression, Desinteresse, keine Fragen

Auffällig, dass im Osten jeder Hauch einer 68er-Stimmung fehlt, dass die Generation der Zwanzig- bis Fünfzigjährigen – meine Generation – von ihren DDR-Eltern nicht wissen will, wie es damals zu diesen oder diesen Entscheidungen kam. Wenn man durchs ostdeutsche Land fährt, erlebt man vornehmlich Depression oder Desinteresse. Ostalgie auf der einen und Ost-Verachtung auf der anderen Seite, das waren Phänomene der Neunziger. Die jetzt dominierende Kultur ist eine Kultur des Schweigens, entweder des schamhaften Wegsehens von der eigenen Vergangenheit oder der dumpfen, dunklen Gewalt der Feindseligkeit. Wer im Osten nach Damals fragt, erntet entsprechend verständnis- oder vorwurfsvolle Blicke – und hört die immer gleiche Antwort: "Das war eben so." Aber wie war es genau? Und wieso will das keiner genauer wissen?

Auffällig auch, dass solches Fragen von der westdeutschen Generation der Zwanzig- bis Fünfzigjährigen schon gar nicht verstanden wird, weil sie sich offenbar – siehe oben – von allen Wiedervereinigungswidersprüchen unbetroffen glaubt.

Revolution als Wunder

Die öffentliche Erinnerung an die DDR wird von ihrem Ende her erzählt – von der friedlichen Revolution, in der Helden über Staat und Stasi siegten. Das teilen, auf unterschiedliche Weise, Ost und West. Christian Wulff sprach als Bundespräsident in seiner Rede zum zwanzigjährigen Jahrestag der Wiedervereinigung von einem "Wunder", davon, dass "die Menschen" sich selbst "aus der Diktatur befreit haben", dass "erst wenige, dann immer mehr Mutige auf die Straßen" gingen, "überall in Ostdeutschland". Das ist die verstaatlichte Vergangenheitskonstruktion: die Revolution als Wunder.

Wunder aber gibt es in der Geschichte nicht. Es sind auch nicht erst wenige und dann immer mehr Mutige überall in Ostdeutschland auf die Straße gegangen. Es waren wenige. Die meisten waren es, gemessen an der Einwohnerzahl, am 7. Oktober 1989 im sächsischen Plauen: über zwanzig Prozent. In Leipzig, zwei Tage später, waren es 13 Prozent. Das ist viel, aber es ist nicht das Volk. Und es war, mit Blick auf die Entwicklungen in den letzten Jahren der DDR, auch kein Wunder.

Zur Wahrheit gehört auch, dass 2,32 Millionen zuletzt Mitglieder in der SED waren, rechnet man die Blockparteien hinzu, kommt man auf 2,8 Millionen. Jeder fünfte Erwachsene war in der DDR parteilich gebunden; über 90 Prozent der 6 bis 16-jährigen gehörten zu den Pionier- und FDJ-Organisationen.

Es gibt, wie immer, viele Gründe, warum sich so viele in den Staatsapparat integrierten. Die Aussicht auf Karriere und die Angst vor Repressionen mögen die wichtigsten gewesen sein, auch echte Überzeugungen hat manche bewogen. Aber wie war es genau? Und warum will das heute kaum jemand so genau wissen?

Andrew I. Port, ein amerikanischer Historiker, hat in seinem Buch "Die rätselhafte Stabilität der DDR" behauptet, es habe in der DDR mehr widerständlerischen Eigensinn in der Bevölkerung gegeben als gemeinhin unterstellt. "Auffallend geschickt" aber waren die meisten vor allem "bei der Einnahme einer defensiven Haltung". Politischer Widerstand blieb die Ausnahme. Die Regel war in der Mecker- und Mängelgesellschaft DDR Protest aus materiellen, rein privaten Gründen. Die große Mehrheit, sagt Port, hat sich "irgendwie mit dem Regime arrangiert".

Von dieser Mehrheit ist heute kaum die Rede. Fast könnte man den Eindruck gewinnen, als hätte es zwischen Helden und Stasi kein Volk gegeben. Als wäre es erst 1989 als Schar der Mutigen wundersam auferstanden.

Wiedervereinigung heilt Auschwitz? 

Die seltsame Stabilität dieser Weise des DDR-Erinnerns hat damit zu tun, dass die friedliche Revolution von 1989 für Gesamtdeutschland die Rolle einer historischen Positiv-Folie spielen soll. Gegen die negative Erfahrung aus und mit der NS-Zeit wird das Leuchtbild geglückter deutscher Geschichte gehalten. Die beiderseitigen Schatten der damaligen Verbrechen (und ihrer über Jahrzehnte missglückten "Aufarbeitung") sollen durch die Strahlen von 1989 aufgehellt werden. Der Rest wird in Museen, Erinnerungsnischen oder der Wissenschaft entsorgt.

In bemerkenswerter Einmütigkeit arbeiten die Medien, die Politik und die Menschen damit an einer Erinnerungsenteignung zum Zwecke gelingender Wiedervereinigungsgeschichte: Differenziertes Erinnern, ungemütliches Nachfragen ist dabei weder vorgesehen noch erwünscht. Das ist eine Arbeit an der Geschichte, die nicht von dem Wunsch getragen wird, heilsames Vergessen und widerspruchsförderndes Erinnern zu stiften, sondern die Widersprüche sowohl der DDR- als auch der gesamtdeutschen Geschichte zu verwischen, wenn nicht zu leugnen.

Was auf diesem Boden gedeiht, ist ein Wunderglaube, der von den wahren Verhältnissen hüben wie drüben nichts wissen will – und aus dem es nur ein schreckliches Erwachen geben kann. Der Schrecken kündigt sich in den mentalen Landschaften als Bewusstseinsgeste an: Selbstmitleid oder Selbsthass, Trotz und Grimm hier (vornehmlich im Osten), Selbstgerechtigkeit oder Saturiertheit dort – und überall jener dunkle Groll über "die Verhältnisse", die so schlecht oder gut nie sind, wie es das Ressentiment will.

Und immer noch: den Muff bewirtschaften

Die wirklichen DDR-Menschen waren, wie es die meisten Menschen überwiegend sind, gewöhnliche Mitmacher, mutlos, angstvoll, angepasst; ich war das auch, obwohl ich keiner FDJ und keiner SED angehörte, dafür aber der DSF, der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetisch-Freundschaft. Bis heute habe ich nicht in Erfahrung bringen können, wie es zu dieser Entscheidung (meiner Eltern) kam: keine FDJ, aber DSF. Aber in solchen Details ist die Geschichte zu Hause, um solche Fragen ginge es, beispielsweise.

Danach nicht zu fragen (im Osten) und davon nichts wissen zu wollen (im Westen), von der Geschichte also allenfalls in Allgemeinplätzen zu handeln und als Lieferant für Abziehbilder zu nehmen, heißt den "Muff" bewirtschaften, der die Gesellschaft "buchstäblich irre" macht, nämlich den Nährboden des Ressentiments bereitet. "Mehr denn je lebt man mit ihm" – Ernst Bloch 1934 – denn "auch wer nicht mitatmet, den grüßt die enge verbrauchte Luft."

 

Dirk Pilz ist Redakteur und Mitgründer von nachtkritik.de. In seiner Kolumne "Experte des Monats" schreibt er über alles, wofür es Experten braucht.


Zuletzt stellte Dirk Pilz an dieser Stelle Fragen an die Kritik.

 

 

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