Gierige Männer im Rock

von Leo Lippert

Wien, 22. Oktober 2017. Bunt gemusterte Tapeten, Zierleisten, Holzvertäfelung. Üppig gerahmte Bilder an der Wand (in etwa: Ahnen, Ikonen, Landschaften). Davor hübsch gruppiert: Chaiselongue, Pendeluhr, Klavier, Kommoden, Vitrinen, Kristallgläser, Teppichklopfer, Gitarre, und der unvermeidliche Samowar. Mit jeder Drehbühnendrehung wird der überbordende Materialvorrat neu angeordnet, Farbmuster neu kombiniert, und werden neue Zimmerfluchten freigelegt. Und Larissa Dmitrijewna (Marie-Luise Stockinger) trägt sowieso in jeder Szene einen anderen kunstvoll arrangierten Blumenstrauß auf dem Kopf.

Backenbärte, Gehröcke, ölig-glänzende Haare

Regisseur Alvis Hermanis hat am Wiener Burgtheater sichtlich Freude am schönen Objekt. Und um schöne Objekte geht es in Alexander Ostrowskijs "Schlechte Partie" schließlich auch. Denn das Stück von 1878 ist eine tragikomische Versuchsanordnung über das Leben als Tauschhandel, und über eine junge Frau als Tauschobjekt. Liebe, soziale Anerkennung, Geschlechterverhältnisse: In der Kleinstadt am Wolgastrand lässt sich jedes Problem in Rubel auflösen. Die drei Kaufmänner Knurow (Peter Simonischek), Woschewatow (Martin Reinke), und Paratow (Nicholas Ofczarek) wollen Larissa tanzen und singen sehen, also ziehen sie genüsslich große Geldscheine aus ihren Brieftaschen, schnuppern noch einmal zärtlich daran, und reichen sie Larissas umtriebiger Mutter (Dörte Lyssewski) zum Pfand.

Schlechte Partie II 005s 560 Reinhard M Werner uAufmarsch der Gehröcke: Alvis Hermanis' Bühne mit Marie-Luise Stockinger, Christoph Kohlbacher, Martin Reinke, Peter Simonischek, Michael Maertens und Dörte Lyssewski © Reinhard M. Werner

Die Herren, von Kostümbildnerin Kristīne Jurjāne mit langen (Backen-)Bärten und fettig-glänzenden Haaren versehen, starren unverblümt, ergötzen sich champagnerschlürfend und klopfen joviale Sprüche. "Großes Geld, große Geschäfte", ruft Knurow versonnen. "Wohl dem der's hat!" Larissa heiraten will allerdings keiner der drei, denn sie ist eine "schlechte Partie": hübsch anzusehen, aber nicht standesgemäß. Nur der schmierige kleine Postbeamte Karandyschew (Michael Maertens) bleibt als Bräutigam. Er erhofft sich durch Larissa ein wenig soziales Ansehen, sie ist sein Trumpf, mit dem er vor den reichen Kaufmännern prahlen will.

Reizvolle Ambivalenz

Das alles wirkt fast unheimlich aktuell, nicht nur in Zeiten von #metoo. Aber Aktualität ist Hermanis' Sache nicht, im Gegenteil. Sein zentraler Regiekniff besteht darin, dass er seinen Schauspieler*innen eine historisierende, gewissermaßen prä-Stanislawskische Spielweise abverlangt. Anstelle von Naturalismus und Figurenpsychologie setzt er auf das händeflatternd und atemringend ausgestellte Gefühl. Und so bricht Dörte Lyssewski ansatzlos in Heulkrämpfe aus, wirft sich Marie-Luise Stockinger theatralisch gegen die bunte Tapetenwand, überschlägt sich Martin Reinkes Stimme bei jeder noch so kleinen Aufregung, und grunzt und schnauft und rasselt sich Peter Simonischek von einer Textzeile zur nächsten. Dazu bieten Michael Maertens und Fabian Krüger (als das Faktotum Robinson) routinierten, stolpernd-polternden Säuferklamauk, der Spaß macht, aber jede Art der Einfühlung verunmöglicht.

Schlechte Partie II 113s 560 Reinhard M Werner u"Ich bin also ein Objekt, na fein!" Larissa und Paratow (Marie-Luise Stockinger und Nicholas Ofczarek)  © Reinhard M. Werner

Ostrowskijs zentraler Kontrast zwischen Liebe und Ökonomie wird durch die fehlende psychologische Dimension in reizvoller Ambivalenz gehalten: Die Künstlichkeit des Sprechens über Gefühle, über Begehren, Demütigung und Scham lässt offen, wie ernst es den Figuren mit ihren Anliegen wirklich ist, wie zynisch sie tatsächlich schon geworden sind. Die Künstlichkeit des Spiels lässt in der Schwebe, inwieweit die nachdrücklich beschworene Liebe Karandyschews ("Ich liebe Sie! Ich liebe Sie!") zu Larissa echt ist, und sie lässt ebenso in der Schwebe, ob jener Karandyschew, der sich so gerne mit den reichen Kaufleuten verbrüdern würde, von ihnen aber bei jeder Gelegenheit bloßgestellt wird, unser Mitleid verdient hat oder nicht.

Laszives Herumgehopse

Hermanis' ambivalenter Retro-Zugriff stößt aber dort an seine Grenzen, wo Ostrowskijs Stück die – höchst problematische – Geschichte einer Frau erzählt, deren einziger Moment der Selbstermächtigung dann kommt, als ihr Verlobter sie am Ende erschießt, und sie diesen Mord noch eilig zu einem "erlösenden" Selbstmord umzudeuten versucht. Denn bei allem "Ausstellen" der Figur Larissa ist es eben doch auch ein weiblicher Körper, der hier wieder mal als bloßes Material für allerlei laszives Herumgehopse verbraucht wird. Und als Stockinger in der letzten Szene triumphierend ruft: "Ein Objekt! Endlich ist das passende Wort für mich gefunden!" weiß man nicht so recht, ob Hermanis' Inszenierung mit diesem schönen Objekt nicht doch auch ein wenig Tauschhandel betreibt.

 

Schlechte Partie
von Alexander Ostrowskij
Übersetzung von Alexander Nitzberg
Regie und Bühne: Alvis Hermanis, Mitarbeit Bühne: Sarah Sassen, Kostüme: Kristīne Jurjāne, Choreographie: Alla Sigalova, Licht: Friedrich Rom, Dramaturgie: Klaus Missbach.
Mit: Christoph Kohlbacher, Hans Dieter Knebel, Fabian Krüger, Dörte Lyssewski, Michael Maertens, Nicholas Ofczarek, Martin Reinke, Hermann Scheidleder, Peter Simonischek, Marie-Luise Stockinger.
Dauer: 3 Stunden 20 Minuten, eine Pause

www.burgtheater.at

 

Kritikenrundschau

"Eine glanzvolle, umjubelte Inszenierung in Wien und zum Geschlechterverhältnis nicht nur im zaristischen Russland", sah Hubert Spiegel von der FAZ (23.10.2017). "Während der Übersetzer Alexander Nitzberg Ostrowskij sprachlich behutsam modernisiert hat, setzt Regisseur Hermanis theaterästhetisch auf Mittel und Formensprache des neunzehnten Jahrhunderts." Bis zur Pause wirke das noch etwas angestaubt, danach werde die Inszenierung "böser, kälter, dynamischer und: brillant".

Lang wie langatmig, fand Thomas Trenkler vom Kurier (23.10.2017) den Abend. Hermanis habe die Handlung vom öffentlichen Raums ins Private verlegt. "Das hat Charme. Mit seiner bewusst altmodischen Inszenierung, die das russische Lebensgefühl – 'Trübsal!' – episch ausbreitet, greift er aber auch massiv (und nicht nachvollziehbar) ein."

"Man wird kein überzähliges Barthaar in der Suppe dieser Aufführung finden. Und doch bemächtigt sich des Betrachters unweigerlich ein Gefühl der Lähmung. Indem Hermanis (auch als Ausstatter) die wenigen Aussagen seiner Aufführung doppelt und dreifach trifft, verliert jeder einzelne Schauwert sukzessive an Überzeugungskraft", schreibt Ronald Pohl im Standard (23.10.2017). "Liest sich Nitzbergs Stückfund als Manuskript wie eine etwas geschwollene Novelle mit verteilten Sprechrollen, so kommt der träge Fluss der Aufführung während mancher Szene vollends zum Erliegen."

Man tauche für zeitweilig sehr lange drei Stunden ein in eine alkoholgeschwängerte Männerwelt, in der Frauen am Scheideweg von Duldsamkeit, Gerissenheit oder Hysterie nur verlieren könnten, schreibt Bernadette Lietzow in der Tiroler Tageszeitung (23.10.2017). Ihr Resümee: "All das, bestens ausgeführt von einem außergewöhnlichen Ensemble, hebt den Abend jedoch nicht wirklich in erwartete Höhen. Der Schauwert, für den nicht zuletzt Blumengewänder und Kopfschmuck sorgen, mit denen Kristine Jurjane die in ihr Unglück tanzende Larissa ausstattet, ist ungleich höher."

Die Inszenierung gleiche einem Theater im Einmachglas. "Luftdicht verschlossen übersteht es jede tagesaktuelle Debatte", schreibt Eva Biringer in der Welt (23.10.2017). Dabei liefere Ostrowskijs tragische Vorlage genug Anknüpfungspunkte an die Gegenwart: Den Sexismusskandal um den amerikanischen Filmproduzenten Weinstein zum Beispiel. "Würde sich Larissa unter dem Hashtag #metoo zu sexueller Belästigung äußern, wie viele Frauen das gerade tun, wäre ihre Liste sehr lang. Von allen begehrt, von allen benutzt, dann fallen gelassen – was für ein schlechter Herrenwitz." Das fehlende Mitgefühl für seine Figuren mache Hermanis’ Inszenierung zum Ärgernis.

Das Stück habe Charakter einer Typenkomödie, und als solche zeigt Hermanis sie auch, findet Wolfgang Kralicek in der Süddeutschen Zeitung (26.10.2017): "Die Herren Burgtheaterstars dürfen schmieren, was das Zeug hält." Komisch werde es trotzdem selten. "Hermanis fügt dem recht geschwätzigen Stück noch einen Prolog hinzu und versucht es am Ende gar, zum Liebesdrama zu stilisieren - mit einer bitteren, aber wenig plausiblen Pointe. Schlechte Partie."

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