Rauchen, saufen, alles geht kaputt

von Jan Fischer

Hannover, 21. Oktober 2017. Die erste Regel in Martin Laberenz‘ Inszenierung von "Der Entertainer" lautet: Wer auf der Bühne steht, muss immer mindestens einen Drink oder eine brennende Zigarette in der Hand halten, am besten beides. Die zweite Regel in Martin Laberenz‘ Inszenierung von "Der Entertainer" lautet: Wer Text hat, muss mindestens ein Lied singen. Und im Prinzip ist damit die Inszenierung des Stoffes von John Osborne in Hannover hinreichend beschrieben.

Es ist die Familie Rice, die da trinkt und raucht: Archie Rice, der mit einem Programm voller schlechter Witze durch die Music Halls tourt, sein Vater, ein abgehalfterter, alternder Musik-Hall-Star, seine Frau, die bei Woolworth arbeiten muss, Jean Rice, seine Tochter, sein Bruder Bill, der irgendwie rebelliert, sein Sohn Mick, der eigentlich am Suezkanal die letzten Reste des englischen Empires verteidigt, aber trotzdem von Zeit zu Zeit auftaucht. Irgendwie findet sich diese dysfunktionale Familie zusammen, teilt Zigaretten, Gin und Whisky in einer ranzigen Wohnung, in der Bilder von Charles, Lady Di und der Queen hängen und die trotz ihrer Ranzigkeit rechts und links über Showtreppen verfügt, die sich zu einem Podest emporwinden, auf dem eine dreiköpfige Band steht und den Soundtrack zu der ganzen Hoffnungslosigkeit liefert.

"Alles ist übel"

Schon gleich zu Anfang liefert Archies Frau Phoebe das Motto zur Inszenierung: "Alles ist übel", sagt sie, Mick, der eigentlich nicht da ist, aber trotzdem da ist, ergänzt später: "Wir sterben und sind unglücklich", dazu spielt die Band ein paar traurige Töne, und die Familie streitet sich über im Grunde nichts, zwischendrin hat Archie ein oder zwei Auftritte, in denen er das Publikum mit Witzen wie: "Wie heißt der kleinste Dom? Kondom! Da hängen unten sogar die Glocken raus!" nur so halb amüsiert. Es herrscht Endzeitstimmung im Hause Rice.

entertainer 462 560 Katrin Ribbe uAchtzig Prozent aller Abstürze passieren im Haushalt. Bühnenbild von Volker Hintermeier
© Katrin Ribbe

John Osbornes Text ist ein Stück über den Niedergang der britischen Music Halls – eine Art Varieté- oder Vaudevilletheater in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Gleichzeitig koppelt das Stück diesen Niedergang – durch Mick –metaphorisch mit der britischen Militärschlappe in der Suezkrise 1956. Es erzählt damit auch etwas über den damaligen Zustand des britischen Empires. Und führt die Familie Rice – allen voran Archie – stellvertretend für die Bürger des Empires in die Auflösung. Interessant ist diese Lesart von John Osbornes Stück heutzutage allenfalls als historisches Kuriosum, weshalb Christoph Marthaler 2015 in seiner Inszenierung am Hamburger Schauspielhaus den Stoff auch etwas aktualisierte.

Ein sich selbst bewusstes Kunstgebilde

Genau das versucht Martin Laberenz in seiner Inszenierung auch. Zugute kommt ihm dabei, dass Osbornes Stück selbst schon als eine Art Nummernrevue abgefasst ist, also schon als stark künstliche Form daherkommt, die sich ihrer selbst immer bewusst ist. Ob jetzt Archie auf der Bühne steht und einen schlechten Witz nach dem anderen abfeuert, oder ob die Familie sich in einer ihrer zersetzenden Streitigkeiten verliert: In Laberenz‘ Inszenierung im Schauspiel Hannover sind die Figuren sich immer bewusst, dass sie spielen, sind immer auf der Bühne – auch wenn sie vielleicht in dem Augenblick nicht wissen, für wen.

Gleichzeitig arbeitet Laberenz mit Fallhöhe. Die Struktur der Nummernrevue erlaubt ihm klare Trennungen zwischen einzelnen Abschnitten und Stimmungen. Auf einen Familienstreit kann durchaus einmal ein – von der grandiosen Live-Band – begleitetes Lied folgen, "Let me entertain you" kommt dann direkt nach der Meldung über die Gefangennahme Micks, zum Beispiel. So wechselt sich Unterhaltung und überspielte Tragödie ab, bis "Der Entertainer" bei Laberenz ein eigenartiges, sich selbst bewusstes Kunstgebilde wird, das sich von seinem Inhalt lösen will.

entertainer 527 560 Katrin ribbe uEin schrecklich schreckliche Familie: Hannah Müller, Hagen Oechel, Sebastian Weiss, Henning Hartmann © Katrin Ribbe

Worum geht es in "Der Entertainer" in Hannover also? Es geht gar nicht so sehr darum, den Text zu aktualisieren – es geht eher darum, ihn einerseits als Bühnengeschehen zu zeigen. Dafür sorgt die Form der Nummernrevue, dass Archie in seinen Auftritten immer wieder das Publikum anspricht, die andauernd auftauchenden Frauen in hautengen Gold- und Silberhasenkostümen und das gut gelaunte Ensemble, das sichtlich Spaß daran hat, das Spiel in übertriebene Künstlichkeit zu überdrehen, allen voran Henning Hartmann als Archie.

Andererseits geht es darum, Verweise auf Zeitgeschehen möglichst gering zu halten, oder, wenn möglich, zu brechen. Archie singt, beispielsweise, von der Band unterstützt, Robbie Williams‘ "Let me entertain you", Bill gibt Billy Braggs "New England" und "God save the Queen" von den Sex Pistols zum Besten. Was bleibt, ist eine Inszenierung, die ein diffuses Gefühl von Auflösung transportiert, und die tunlichst vermeidet, dieses Gefühl der Auflösung auf etwas Bestimmtes anzuwenden. Es bleibt dem Zuschauer überlassen, sich zu fragen, ob es nun – angesichts diverser aktueller Wahlen – beispielsweise das alte Europa ist, das sich gerade auflöst, oder vielleicht irgendeine Idee von Demokratie oder Gesellschaft, die es mal hatte, oder vielleicht einfach die ganze Welt. Es löst sich eben nur alles auf, alles geht kaputt, und alle saufen und rauchen dazu, und tanzen, und singen hin und wieder ein Lied. Sonst kann man ja nicht viel tun.

 

Der Entertainer
von John Osborne
Regie: Martin Laberenz, Bühne: Volker Hintermeier, Kostüme: Aino Laberenz, Musikalische Leitung: Leo Schmidthals, Choreografie: Jana Ritzen, Dramaturgie: Johannes Kirsten.
Mit: Hagen Oechel, Katja Gaudard, Sebastian Weiss, Henning Hartmann, Maximilian Grünewald, Janko Kahle, Hannah Müller.
Live-Musik: Leo Schmidthals, Christoph Keding, Lars Ehrhardt.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.staatstheater-hannover.de/schauspiel

 

Kritikenrundschau

Ein Stück über Medienwandel und übers Theater hat Ronald Meyer-Arlt von der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (23.10.2017) gesehen: "Leute stehen auf einer Bühne und machen anderen Leuten, die in Sesseln sitzen, etwas vor. Hat das Zukunft? Eher nicht, scheint sich Regisseur Martin Laberenz gedacht zu haben". Einfühlendes Rollenspiel vermeide der Regisseur, statt dessen gebe es britischen Punk, eklige Witze, viel Zigarettenrauch und harten Alkohol. Auf den Kritiker wirkt das "wie eine Installation": Die Schauspieler kosteten quälende Momente aus, feierten die Leere. "Drei Stunden dauert die Inszenierung. Das ist lang. Und das fühlt sich auch lang an. Aber genau darum geht es ja", befindet Meyer-Arlt: "Es ist quälend, wenn etwas so zu Ende geht. Man muss es aushalten."

"Dem Affen Zucker und der Tragik Raum" gäben Regisseur Martin Laberenz und sein Bühnenbildner Volker Hintermeier, schreibt Stefan Gohlisch in der Neuen Presse (23.10.2017). "Man sieht Menschen, die sich um Kopf und Kragen geredet haben und sich nichts zu sagen haben", so Gohlisch: "eine Zweckgemeinschaft Verlorener". Aber eine "Wonne" sei es, wie Henning Hartmann den scheiternden Provinz- Zampano spiele: "bar jeder Gefallsucht und zum Fremdschämen hinreißend".

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