Das Chaos des Lebens

von Frank Starke

Cottbus, 4. November 2017. Am Ende ist die Aufführung für Momente ganz dicht an Anton Tschechows Original – wenn nämlich das Mädchen Sonja ihr finales "Wir wollen leben" mit dem dazugehörigen Enthusiasmus vorträgt. Doch dann gibt es einen Bruch und sie setzt die seltsame Bemerkung nach: "Wenn Sie ein schwarzes Kätzchen sehen, geben Sie es an der Pforte ab". Denn das ist die eigentliche, poetisch-skurrile Tonlage des Abends.

Im Irgendwo des Alten

Am Cottbuser Staatstheater wird "Onkel Wanja" in der Regie des neuen Schauspieldirektors Jo Fabian gespielt. Man klammert sich dabei nicht an den Text, sondern spielt vielmehr ein Nachdenken über das Stück, mit einer überaus vitalen, frischen, mal ironischen, mal witzigen Sicht auf die Vorlage und ihre Figuren. Und tut dabei sehr russisch. Nicht bloß, weil der Wodka in Strömen fließt. Fabian lässt sein Team durchgehend mit russischem Akzent im Stile der Petersburger und Moskauer Exilanten sprechen. Man prostet sich mit "Na sdorowje" zu, sagt zum Abschied "Doswindanja". Dabei findet Fabian beeindruckende Lösungen, um die Langeweile, den Leerlauf auf dem alten Gut irgendwo in den Weiten Russlands greifbar zu machen.

wanja 19 560 Marlies Kross u"Dann fange ich mal an!" Axel Strothmann ist Onkel Wanja © Marlies Kross

Die Akteure kommen schon auf die Bühne, während sich der Zuschauerraum füllt. Sie sitzen um eine große Tafel im Salon, im Vordergrund eine herrschaftlich-bröckelnde Wand, im Hintergrund eine echte Ziegenherde (Ausstattung Pascale Arndtz), dazu immer wieder eine in die Jahre gekommene Schwanensee-Ballerina. Auf einen furios-rockigen Einstieg folgt eine schier endlos lange Pause. Dazwischen immer mal eine Frauenstimme mit ihrem "Wulle Wulle", auf der Suche nach besagter vermisster Katze. Irgendwann der erlösende erste Satz: "Was für ein schöner Tag". Ein Mann greift zum Mikrofon, sagt: "Dann fang ich mal an". Es ist Wanja. Er beschreibt das Haus, seine derzeitige Situation. Der Schwager, ein Professor aus der Hauptstadt, ist zu Besuch mit seiner jungen Frau, und seit deren Ankunft ruhen alle Arbeiten auf dem Gut. Auch die anderen Mitspieler greifen immer mal zum Mirko. Nach einem Tut-Signal gibt es, einschlägige Fernsehsendungen persiflierend, Kommentierungen und Anweisungen für die Schauspieler aus dem Off.

Alles bekloppt!

Axel Strothmann zeigt den Titelhelden, der noch so viel tun will und doch immer nur die Wodkagläser nachfüllt, liebenswürdig-verschmitzt. Ihm zur Seite steht der Landarzt Astrow (Gunnar Golkowski), der da ist, um dem Professor bei dessen körperlichen Malaisen beizustehen, ein schnauzbärtig-resignierender Weltverbesserer. Sein Lieblingskommentar: Alles bekloppt. Eines der vielen Kabinettstückchen, die der Inszenierung von Anfang an ihren besonderen Rhythmus geben: Wenn Wanja seinem Freund Astrow im Angesicht des drückenden Wetters in Slapstick-Manier vergeblich beizubringen versucht, dass es "schwül" heißt und nicht "schwul".

wanja 3 560 Marlies Kross uWo ist die Katze? Der Wodka? Das Leben? Wo ist das alles hin?  Lisa Schützenberger als Jelena
© Marlies Kross

Und dann dieser Professor: Thomas Harms stattet ihn mit einer blasierter Selbstgefälligkeit aus, die selbst dann nicht bröckelt, als offensichtlich wird, dass er letztlich nur ein schmarotzender Schwindler und Schaumschläger ist.

Weine nicht, wenn der Regen fällt

Das eigentliche Ereignis dieser verlorenen ländlichen Gesellschaft: die junge Frau des Professors, Jelena Andrejewna. In ihrem weißen Kleid ist sie das, was man eine Erscheinung nennt. Kein Wunder, dass die Männer bei ihrem Anblick hin und weg sind und sich sogar ihretwegen prügeln. Lisa Schützenberger gibt sie dabei nicht abgehoben, sondern durchaus sympathisch nahbar. Und als das seit langem angekündigte Gewitter kommt, stellt auch sie sich ans Mikrofon, sagt, sie hätte da ein kleines Gedicht, um mit der Drafi-Deutscher-Schnulze Weine nicht wenn der Regen fällt auf skurrile Weise nicht bloß das Wetter zu kommentieren.

Es ist dies eine von vielen Facetten einer musikalischen Grundierung, die von der Rockballade bis zum Tschaikowski-Klavierkonzert reicht. Besondere Bonbons sind zwei Lieder aus Schuberts "Winterreise", die Sigrun Fischer als Dame des Hauses singt; sie wird dabei auf einer Art Stehrollator über die Bühne geschoben. Klar, ein Pianist gehört da auch dazu, dessen Instrument seinen Platz hat in einem Mauerdurchbruch zwischen Salon und Terrasse.

Die heranwachsende Sonja (Lucie Thiede), Wanjas Nichte, ist es, die versucht, in allem Chaos das Leben auf dem Gut doch irgendwie am Laufen zu halten. Und hat dabei auch eine stille Hoffnung, die sie schließlich ganz übermannt: Sie knutscht ihren Schwarm Astrow regelrecht zu Boden. Leider merkt er kaum etwas davon, weil er gerade sturzbetrunken ist. Am Ende viel Beifall für eine bemerkenswert-lustvolle Inszenierung mit einer Wundertüte voller szenischer Einfälle.

 

Onkel Wanja
von Anton Tschechow
Deutsch von Angela Schanelec nach einer Übersetzung von Arina Nestieva
Bearbeitung und Fassung von Jo Fabian
Regie: Jo Fabian, Bühne und Kostüme: Pascale Arndtz, Dramaturgie: Jan Kauenhowen, Pianist: Hans Petith.
Mit: Thomas Harms, Lisa Schützenberger, Lucie Thiede, Sigrun Fischer, Axel Strothmann, Gunnar Golkowski, Amadeus Gollner, Michaela Winterstein.
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause

www.staatstheater-cottbus.de

 

Kritikenrundschau

"Jo Fabian ist für seine Eigenwilligkeit bekannt, vermischt gern verschiedene Künste", so Peter Claus im kulturradio des rrb (5.11.2017). Doch Tschechow bleibe erkennbar. "Über weite Strecken ist wirklich eine Komödie zu erleben. Dabei hält sich die Inszenierung weithin an die Vorlage, inhaltlich und stilistisch." Höhepunkte seien die naturalistisch gespielten Szenen, wenn die durchweg exzellenten Schauspieler wirkliche Charaktere erschaffen. Aber: Es wird ein Füllhorn an Einfällen ausgeschüttet." Und das bringte viele Fragen: "Warum geht der Regisseur als stumme Figur über die Bühne? Oder warum echte Ziegen im Hintergrund, die man von vielen Plätzen aus gar nicht sehen kann?"

Fabian inszeniere "Onkel Wanja" tatsächlich als Komödie, so Renate Marschall in der Lausitzer Rundschau (6.11.2017). Für die Zuschauer sei das kurzweilig bis amüsant, auch wenn dabei etwa Tschechows gesellschaftskritischer Ansatz auf der Strecke bleibe. Theater wie Jo Fabian es macht, funktioniere nur mit Schauspielern, die ihr Handwerk meisterlich beherrschen. "Allen, die an diesem Abend auf der Bühne standen, ist das zu bescheinigen."

Fabian habe die philosophierenden oder Befindlichkeiten ausmalenden Passagen des Stücks größenteils durch deftige, handgreifliche, banal einleuchtende Szenen ersetzt, schreibt Thomas Petzold von den Dresdner Neuesten Nachrichten (10.11.2017). "Wir balancieren zwischen Realität und Fiktion, sentimentaler Illusion und Ernüchterung, kurzen, aber alles überstrahlenden Momenten eines unerklärlichen Glücksempfindens und einer tiefen, beinahe distanzierten Traurigkeit."

"Hier darf man eine große Show erleben", schreibt Stephanie Lubasch in der Märkischen Oderzeitung (16.11.2017). Die Langeweile der Figuren male Jo Fabian wie üblich mit kräftigen Farben und unter Zuhilfenahme unterschiedlichster künstlerischer Mittel auf die Bühne. "Hintersinnig ist das, sinnlich auch, ein bisschen melancholisch, überraschenderweise aber streckenweise auch zum Brüllen komisch."

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