Roulette an der Lebensdrehscheibe

von Simone Kaempf

Berlin, 9. November 2017. Fällt der Name des Dramatikers Tracy Letts, denkt man sofort an "Eine Familie", jenes Pulitzer-preisgekrönte Mittelstands-Familienstück irgendwo aus der amerikanischen Middle of Nowhere, in dem Oberhaupt Violet ihre Familie versammelt und sich mit den Verwandten verbale Schlagwechsel liefert. Jetzt heißt Letts' Nachfolgestück gleichsam reduziert "Eine Frau", genauer "Eine Frau – Mary Page Marlowe". Verwechslungen dennoch nicht ausgeschlossen.

Stationen im Leben einer amerikanischen Frau

Wieder steht eine Frau im Zentrum, wieder offenbaren sich Fremdgeh- und Drogen-Exzesse, Lebens- und Liebeskrisen anhand eines langsamen, aber detailreichen Aufblätterns der Vergangenheit. Elf Szenen erzählen punktuell vom Leben der Mary Page Marlowe, Schlüsselmomente, die über normalen Alltag hinausreichen: Da legt die selbstbewusste Teenagerin Tarotkarten mit ihren Freundinnen und zieht die Königinnenkarte, als gelangweilte Mutter beginnt sie mit ihrem Chef eine Affäre, man erlebt sie alkoholkrank beim Therapeuten, der bohrende Fragen stellt, oder gealtert im Krankenbett. Höhepunkte, Tiefpunkte, Risse, die Letts trotz ihrer auch willkürlichen Auswahl zu einem logischen Ganzen zusammenspinnt. Dialogstark unterfüttert mit Fragen und Motive, welche Kräfte, wieviel Zufall und wieviel Wille den Menschen lenken. Wie das alles Satz für Satz zusammenpasst, ist Schreibkunst erster Güte. Auch "Eine Frau" wird seinen Weg an den deutschen Theatern gehen.

Eine Frau3 560 Julian Roeder uTraumfabrik auf schäbig: Sascha Nathan und Carina Zichner im Bühnenbild von Patrick Bannwart
© Julian Röder

Für Oliver Reese sind Tracy Letts' Texte das wichtigste Argument bei der Verteidigung des well-made-Plays, die er zum Start seiner Intendant des Berliner Ensemble programmatisch ausgerufen hat. Mit David Bösch als Regisseur liegt es weitgehend risikofrei in den Händen von jemandem, der auf die Kraft der Schauspieler setzt und ihr Figuren-Schicksal gleichzeitig offensiv in Bühnenatmosphäre überträgt. Damit punktet – und prunkt – Bösch an diesem Abend. Und führt atmosphärisch in eine Illusions-Traumfabrik à la Las Vegas.

"Diner" leuchtet in großen Neonlettern über dem Bühnenraum. Innen auf dem Tisch aber stapeln sich billige Cola-Pappbecher, zu denen Mutter Mary greift, wenn das Schlimmste geschafft ist. Im Diner bringt sie ihren Kindern die bevorstehende Scheidung bei, mehr oder weniger schonend. Bettina Hoppe spielt diese mittelalte Mutter Mary in einer Mischung aus nüchterner Selbstkontrolle und leicht aufbrausenden Gefühlen. Und gleich die erste Szene findet stimmige Bilder für die Größe der Sehnsüchte und die Angestoßenheit und drohenden Abgründe des Lebens.

Ich werde ich sein

Auf vier Schauspielerinnen verteilt sich die Rolle insgesamt: Corinna Kirchhoff hat dabei die dankbarste Rolle als älter werdende Mary, die mit ihrem Ehemann (Martin Rentzsch) auf dem Sofa albert und Freudentränen vergießt. Vor dem Fernseher liest sie den Brief, der gekommen ist und das Ende ihrer zur Bewährung ausgesetzten Gefängnisstrafe mitteilt. Was damals geschehen war, erfährt man nur bruchstückhaft. Aber man sieht eine Frau, die nun befreit ist, von der Justiz, von Schuldgefühlen gegenüber den Kindern, von Dingen, die schief gelaufen sind.

Letts zielt auf die Veränderungen, die Haltungen, die mit den Lebensphasen kippeln: "Ich werde ich sein" sagt die junge Mary zu ihren Freundinnen, "Ich weiß nicht, wer ich bin" antwortet sie dagegen dem bohrenden Therapeuten. Auf solche Sätze ist "Eine Frau" hingeschrieben, und Letts formuliert das zu geschickt und glaubwürdig, als dass man es ihm als konstruiert ankreiden könnte. Sein Stück ist wahrhaftige Behauptung, dass man ein Leben lang nicht nur eine Figur sein kann.

Eine Frau1 560 Julian Roeder uIn wechselnden Lebensräumen auf der Drehbühne: Carina Zichner und Bettina Hoppe.
© Julian Röder

Und so wechseln auch in Böschs Inszenierung die Situationen und Schauspielerinnen, wechseln die auffälligen Kostüme, die Frisuren und Lichtpegel je nach Gefühlslage und emotionalem Zustand. Die Drehbühne kreist immer wieder wie ein Lebenskarussell, dreht sich untermalt von popschnulziger Musik, die einem an die Gefühle will. Und es auch schafft, wenn Corinna Kirchhoff als Mary wie eine Zuschauerin ihres Lebens in die kreisenden Zimmer guckt, dann das Krankenzimmer betritt und sich in ihr eigenes Sterbebett legt.

Man schaut in ein Schnellrestaurant, in ein schäbiges Hotel und ein Wohnzimmer als rotierende Spielorte. Atmosphärisch ist das aus einem Guss. Und doch beißt man sich irritiert an Details fest, an Familienbildern, die betont schief an den Wänden hängen, an Outfits, Röcken und Schuhen, die ausgesucht schlecht zusammenpassen. Im Wohnzimmer stehen in einer Szene nur noch ein Kühlschrank und ein kümmerlicher Plastikweihnachtsbaum vor scheckigen Wänden. Die Ausstattung betont das Lebens-Elend mit einer dick aufgetragenen Schäbigkeit, die immer einen Tick zu niedlich wirkt.

Mit Affenliebe zum Detail

Was die Akteure aber an feinstem Schauspielertheater bieten, geht weit über die Situation hinaus, ist immer suggestiv, spannt unterschiedliche Kräfte zusammen. Es sind Frauen, die in wechselnden Situationen versuchen, die Familie zusammenzuhalten. Da umgarnt Annika Meier als Mutter ihre noch junge Tochter Mary, hin- und hergerissen zwischen Fürsorge und Unwirschheit, will ihr erst Platten auflegen und gerät doch in Streit.

Oder Bettina Hoppe, immer auf einem schmalen Grat zwischen Zugewandtheit und herber Ernsthaftigkeit, eine, die Kontrolle bewahren will. Und doch zum überforderten Nervenbündel gerät angesichts ihres Autounfalls mit 3,2 Promille. Bösch führt diese vielen Gesichter der Mary Page Marlowe zu einem Ganzen zusammen, ohne falsche Gesetzesmäßigkeiten zu behaupten, mit Affenliebe zum Detail.

 

Eine Frau
von Tracy Letts
Aus dem Englischen von Anna Opel
Regie: David Bösch, Bühne: Patrick Bannwart, Kostüme: Meentje Nielsen, Musik: Karsten Riedel, Dramaturgie: Sibylle Baschung. 
Mit: Corinna Kirchhoff, Bettina Hoppe, Carina Zichner, Wilhelmina Mischorr / Elisabeth Moell, Annika Meier, Arsseni Bultmann / Barney Lubina, Luisa-Céline Gaffron, Bineta Hansen, Ruby Commey, Martin Rentzsch, Sascha Nathan.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.berliner-ensemble.de

 


Kritikenrundschau

"Wie in einem lückenhaften Diavortrag, bei dem die Bilder durcheinander geraten sind", präsentiere das Stück Schlüsselmomente einer Biographie, schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (10.11.2017). Der Kritiker bescheinigt dem Abend eine unangenehme Geschwätzigkeit. Auch das Spiel der Darsteller*innen sei auf überklare Verdeutlichung angelegt: "Mit teilweise stampfiger aber auch bewunderungswürdiger Kurzstrecken-Seelenathletik wie Tränenausbrüchen aus dem Stand. Spielideen gibt es wenig, stattdessen verliert man die Alltag simulierenden, dabei aber symbolisch aufgeladenen Worte und bedient die abgeschabt naturalistische Ausstattung."

Ein Stück, das "ganz gewaltig auf Oberflächen surft", hat Christine Wahl vom Tagespiegel (11.11.2017) am Berliner Ensemble erlebt. David Böschs Inszenierung zeichne "ein bekennender Hang zur Plakativität" aus. Die Hauptfigur Mary Page Marlowe reproduziere im Wesentlichen etwas "tiefenschärfenarm" den literarisch bestens gepflegten Stereotyp der "starken (und dennoch bindungswilligen) Frau mit den sympathischen Schwächen und den Schicksalstiefschlägen, die nach jedem Sturz wacker wieder aufsteht".

An den großen Erfolg von "Eine Familie" werde "Eine Frau" wohl nicht anschließen können, fasst Deutschlandfunk Kultur (9.10.2017) die Einschätzung seiner Kritikerin Barbara Behrend aus dem Gespräch für die Sendung "Fazit" zusammen. Die Sprache des neuen Stücks sei "weniger scharf", auch wenn man sich als Zuschauer in die "Geschichte fallen lassen" könne. Die Inszenierung hält Behrend für sehr "emotional, sehr effektgeladen, manchmal etwas zu sentimental."

Die Ge­schichte von Mary Page Marlowe ist für Irene Bazinger von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (13.11.2017) "überaus durchschnittlich (drei Ehen, zwei Kinder, ein schwerer Unfall, viel Alkohol, wenig Erfüllung) und wird durch Letts’ betuliche Schilderung nicht interessanter". Das falle am BE besonders deutlich auf, "weil sich der Regisseur David Bösch völlig hinter seinen Schauspielern versteckt, die meist brav herumstehen und sich anreden, anschreien, anquengeln".

"Eine Frau" sei reduzierter als Letts Erfolg "Eine Familie", so Mounia Meiborg in der Süddeutschen Zeitung (14.11.2017). Der Witz weiche der Nachdenklichkeit. Dem Regisseur David Bösch allerdings falle nicht viel zu den Figuren ein, das nicht genau so im Text stünde. "Die größte Setzung ist die Bühne von Patrick Bannwart. Sie gibt den Blick auf andere Stationen des Lebens frei und illustriert so, wie die Vergangenheit die Gegenwart prägt." Fazit: "Es ist eine ziemlich wilde Geschichte. Die hier zu einem braven Theaterabend wird."

Bösch setze auf Gefühl und Atmosphäre, auf die starken Dialoge des Stücks – und auf seine Schauspieler, konstatiert Barbara Behrendt in der tageszeitung (14.11.2017). Dennoch sei "es eine Wohltat, sich im Theater (selten genug!) in Menschen und deren Lebensfragen vertiefen zu dürfen – und nicht nur in blutleere Regiekonzepte".

 

Kommentare  
Eine Frau, Berlin: Tiefe fehlt
„It´s a wonderful, wonderful life?“ Nein, „ein relativ normal verkorkstes Leben“, wie es Dramaturgin Sibylle Baschung in einem Programmheft-Interview so schön zusammenfasst.

Wurde daraus „a wonderful theatre play?“ Auch das nicht. Aber doch immerhin ein solider Theaterabend, bei dem ein „well-made play“ sehr routiniert abschnurrt, der bei Regisseur David Bösch auch zu einem Streifzug durch die Pop-Geschichte wird. Zu einem großen Theaterabend fehlte es den Figuren an Tiefe. Zu oft hatte man auch das Gefühl, all das so ähnlich schon unzählige Male gesehen zu haben.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/11/09/eine-frau-mary-page-marlowe-sozialdrama-eines-verkorksten-lebens-am-berliner-ensemble/
Eine Frau, Berlin: Mut fehlt
Vier Darstellerinnen teilen sich in David Böschs deutscher Erstaufführung die Rolle und legen sie durchaus unterschiedlich an. Wilhelmina Mischorr (die sich die Rolle mit Elisabeth Moell teilt) ist das unsichere Mädchen mit eigenem Willen, Carina Zichner die zwischen Selbstsicherheit und einsetzender Panik schwankende junge selbstbewusste Frau, Bettina Hoppe die trockene Kämpferin und rau Resignierte, Corinna Kirchhoff die gern ins Infantile kippende spät Liebende. Schwankende Gestalten allesamt, miteinander und in sich selbst nicht zusammenpassend. Der Abend bricht die Zersplitterung des Ichs auf die Darstellerinnen herunter und zeigt doch auch: ja, das ist eine Frau, die sich durchwurstelt, durchkämpft, scheitert, aufgibt, weitermacht. Und am Ende ganz nah an dem ist, was der Küchenpsychologe „bei sich selbst“ nennen würde.

Böschs Inszenierung ist behutsam. Patrick Bannwart hat ihm identische Pressplattenwände auf die Drehbühne gebaut, die unterschiedlichste Räume andeuten, semi-private, vor allem aber solche des Durchgangs, der Flüchtigkeit: ein Diner, ein Motelzimmer, eine Reinigung. Die Bühne dreht sich von einer Szene, einem Jahr, einem Leben ins nächste, während sie das tut, passiert der Zuschauer*innen-Blick die anderen, meist bewohnten. Ein Ritt durch die Zeiten, eine Betrachtung des Ungleichzeitigen als Gleichzeitiges. Denn die vergangenen wie die zukünftigen Ichs sind stets angelegt im jeweils gegenwärtigen, sind stets mit dabei. Gegen Ende bleibt die jeweilige Darstellerin zuweilen außerhalb der Drehbühne stehen, betrachtet ihre anderen Welten, tritt gar in eine von ihnen ein. Ein stilles, unaufdringliches, starkes Bild.

Und doch wirkt der Text ein wenig stärker, als es der Abend in seiner Gesamtheit tut. Das liegt nicht an den Darsteller*innen, die bis in die Nebenrollen Leben atmen, allen voran Martin Rentzsch, der gleich zwei von Marys Ehemännern spielt. Nein, der Grund liegt eher darin, dass David Bösch etwas tut, was Mary Page Marlowe fremd ist: Er geht auf Nummer sicher. Er lässt die Szenen naturalistisch spielen, dreht aber vor allem die zerbrochenen Charaktere gern ein wenig ins Karikatureske und erzwingt so Lacher, welche die Intensität wiederholt ein wenig herausnehmen. Er tritt gern ein wenig auf die Bremse – immer wieder ein Problem in Böschs Inszenierungen – erlaubt seinen Figuren nur genau dosierte und dramaturgisch gut ausgewählte Ausbrüche, deren Timing stark ans Boulevardtheater erinnern – die Szenen sind mitunter so konstruiert, dass sie ein wenig zu eindeutig auf den Effekt schielen. Er neigt zur Illustration, etwa in der Musikauswahl, die zur Einleitung der Szenen dient und immer sowohl Zeitkolorit als auch thematischen Kommentar injiziert. So beginnt der Abend mit Blacks „Wonderful Life“. Die Botschaft: Wir sind in den 1980ern und hier sehen wir ein, wie es Dramaturgin Sibylle Baschung im Programmheft ausdrückt, „normal verkorkstes Leben“. Ganz am Ende verlässt Kirchhoff ihre letzte Szene, geht zu ihrem Krankenbett und setzt sich drauf, dort, wo Mary Page sterben wird. Dazu noch einmal „Wonderful Life“. Das ist zu plakativ und harmlos für diesen zerrissen lebenssatten Text, das ambivalente Spiel und die innerhalb der Szenen oft feinfühlig zurückhaltende Regie. So bleiben intensive, bewegende Bruchstücke voll der Widersprüchlichkeit, die Leben heißt und Identität will, die sich leider nicht zu einem spannungsreichen Ganzen zusammen setzen, weil dem Regisseur ein wenig der Mut fehlt. Den kann er sich bei Mary Page abschauen.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/11/10/nur-mut/
Eine Frau, Berlin: der Mensch als Ganzes
Das find ich ja auch schon immer so interessant bei den Well-Made-Play-Texten der Männer dieser Generation (unabhängig von der Muttersprache), die von den Männern dieser Generation inszeniert werden: den Frauen-Figuren fehlt immer die Tiefe, ihren Regisseuren der Mut- man weiß nicht welcher wozu, aber Mut muss es wohl sein - und den Frauen, die man beglotzen kann, fehlt so irgendwie der weibliche Mensch als Ganzes... Jedenfalls solange sie leben! - Voll Tradition Brechts BE!
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