Zurück in die Zukunft

von Georg Kasch

Berlin, 10. November 2017. Los geht's! Schon im Foyer brausen die E-Gitarren, flackert das Licht über dem neuen, türkisfarbenen Teppichboden – 45 Minuten lang. Drinnen dann, im großen Saal, dröhnt der Hardrock ohrenbetäubend weiter, während abstrakte Lichtstreifen über die Wände blitzen, auf der leeren Bühne die Hubpodien rauf- und runterfahren und sich am Ende der große Glaslüster ins Parkett senkt.

Nach Wochen in der Tempelhofer Außenspielstätte haben Chris Dercon und Marietta Piekenbrock jetzt mit "Samuel Beckett / Tino Sehgal" das Große Haus der Berliner Volksbühne eröffnet. "(Ohne Titel)“, so heißt der Auftakt, mit dem es Tino Sehgal mit kindlicher Freude (und einem nackten Performer) so richtig krachen lässt. Dann kommen die Bühnenarbeiter und bringen die Stühle. Jetzt geht's also endlich los!

Tino Sehgals Performances versinken im Pausenhofrauschen

Naja, fast. Denn nach dem kraftmeiernden Auftakt, der Errungenschaften historischer Avantgarde als Gegenwart ausgibt, müssen alle wieder raus. Eine Stunde und 15 Minuten ist das Publikum angehalten, durch die Foyers und Gänge zu flanieren. Was wirkt wie eine überlange Pause, mit Schlangen am Buffet und Kultursmalltalk, ist Teil des Abends. Überall gibt’s Sehgal satt, allerdings ausschließlich ältere Werke. Der Künstler, der die wichtigsten Museen mit Performances füllt, recycelt sie oft, insofern ist das nichts Ungewöhnliches. Nur gab es gerade erst im Berliner Gropius-Bau eine große Sehgal-Retrospektive, wo konzentrierte Sprechwerke wie "Ann Lee" zu sehen waren – in stillen, abgeschiedenen Räumen.

 


Auftakt mit der Soundkulisse von Ari Benjamin Meyers

Hier aber stehen die kindlichen Performer in den Seitenfoyers, man versteht nur Wortfetzen, weil das große Pausenhofrauschen drumherum alles übertüncht. Das ist blöd für die Darsteller*innen, die vergeblich versuchen, sich gegen die lebendige Soundkulisse durchzusetzen. Hat niemand daran gedacht, dass sich Menschen in einem Foyer anders verhalten als in einem Museum? Und: Geht es bei diesen sich wie Avatare ihrer Selbst bewegenden Menschlein um Themen wie Arbeit, Gerechtigkeit und das Leben in einer Blase? Man ahnt das mehr, als dass man es erfährt.

Beckett-Gefolgschaft mit Walter Asmus

Nur unwesentlich besser funktionieren die zugehörigen Avatar-Videos von Philippe Parreno und Pierre Huyghe. Auch auf die Beckett-Filme Quad I, Quad II und "Geistertrio" kann man sich bei all dem Foyer-Gewusel nicht richtig einlassen. Ist vermutlich nicht schlimm, weil sie einen Abstraktionsgrad besitzen, der an Ödnis grenzt und ziemlich angestaubt wirkt. Sie sind das Scharnier zwischen den Sehgal-Performances und dem Beckett-Abend, der eineinhalb Stunden nach dem offiziellen Beginn im großen Saal anfängt. In 75 Minuten reihen sich hier nahezu pausenlos die drei Einakter "Nicht Ich", "Tritte" und "He, Joe" aneinander.

Beckett Tritte 560 DavidBaltzer xStreng notiert: Anne Tismer schreitet in "Tritte" eine Beckett-Partitur ab © David Baltzer

Walter Asmus hat sie inszeniert, ein Beckett-Getreuer seit Jahrzehnten. So sehen seine Arbeiten auch aus: In "Nicht Ich" leuchtet nur Anne Tismers Mund grell im völlig abgedunkelten Saal und quasselt sich um Kopf, Kragen und die Realität. In "Tritte" (in Berlin zuletzt 2014 von Katie Mitchell für die Staatsoper im Schillertheater inszeniert) schleppt sich Tismer im weißen Unschuldskleid getreu der Beckett'schen Schrittnotation von rechts nach links und wieder zurück, leicht in sich gekrümmt, während sie den Mutter-Tochter-Konflikt vorträgt – hell die Tochter-Sätze, dunkel die der Mutter.

Anne Tismer als Gewissensstichelei

In "He, Joe" ist sie nur noch zu hören: als Gewissensstichelei im Kopf eines alten Mannes. Morten Grunwald sitzt fahl leuchtend auf der dunklen Bühne, während sein Gesicht auf dem Gazevorhang am Bühnenportal immer größer wird. Wie er die Schlinge, die die Frauenstimme zieht (der Mann ist Schuld am Selbstmord einer Frau), nicht kommentiert, eher eine unwillkürliche Gesichtschoreografie zulässt, das hat was. Gegen Ende aber verhärtet sich sein Gesicht doch noch in Eindeutigkeiten. Wenn Grunwald schließlich pathossatt die Hände hebt, ist diese Kunstanstrengung endgültig im Kitsch gelandet.

Beckett HeJoe 560 DavidBaltzer uIn Großaufnahme: Morton Grunwald hört die Stimme des Gewissens in "He, Joe" © David Baltzer

Immerhin: Leinwände, entmenschlichte Menschen, Reenactments, da gibt's eine Klammer. Man mag ja nach all der Vorab-Kritik an Dercon und Piekenbrock eigentlich nicht mehr meckern, das wirkt so wohlfeil. Also: Konzentration auf die positiven Seiten! Zum Beispiel auf die vielen Sehgal-Performer*innen, die jetzt im Saal wieder die Stühle und die Bühne demontieren, dabei summen und singen vom "technischen Zeitalter" zwischen christlicher Gregorianik und Lagerfeuer. Später flitzen sie durch den Saal, erzählen kurze Anekdoten, die sich im weitesten Sinne ums Heimischwerden drehen, ums Nicht-mehr-fremd-Fühlen. Auch diese Sehgal-Arbeit ist älter, uraufgeführt 2012 in der Londoner Tate Modern. Deren Leiter damals: Chris Dercon.

Außerdem locken sie einen auf die nun wieder völlig leere Bühne mit seinem weißen, elegant geschwungenen Rundhorizont unter der abschließenden Halbkuppel. Was für ein Ort! Nach so viel Gestern zum Auftakt allerdings muss die Zukunft hier erst noch beginnen.

 

Samuel Beckett / Tino Sehgal

Nicht Ich / Tritte / He, Joe
von Samuel Becket
Regie: Walter Asmus, Bühne und Kostüme: Alex Eales, Licht: Frank Novak, Ton: Hannes Fritsch, Jörg Wilkendorf, Video: Konstantin Hapke, Kamera: Nicolas Keil.
Mit: Anne Tismer, Morten Grunwald.
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

Tino Sehgal
(Ohne Titel), 2017

Komposition: Ari Benjamin Meyers, Nico Van Wersch, Andreas Karperyd, Tom Lynn, Licht-Operator: Frank Willens, Musik: Thomsen Merkel, Carsten Brocker, Samuel Halscheidt, Nico Van Wersch, Christian Vinne

Ann Lee, 2011
Mit: Nikita Broadbent

Anywhere out of the world, 2000
Von: Philippe Parreno

Ann Lee & Marcel, 2016
Mit: Simone Kanda, Wiley Joy

Two Minutes out of Time, 2000
Von: Pierre Huyghe

This is exchange, 2003
Mit: Fiona Bewely, Dominic Bonfiglio, Franziska Dörig, Matthias Ecker-Ehrhardt, Cora Gianolla, Charlotte Gneuss, Benjamin Hermsdorf, Louise Höjer, Anne Jung, Felix Koch, Wenzel Mehnert, Daniel Mufson, Timothy Murray, Gabriele Nagel, Gregor Schmidt, Ulrich Volz, Peter Wilhelm, Frank Willens, Philipp Wüschner.

These associations, 2012
Mit: Ulrike Aurig Böttcher, Lisa Bedogni, Johanna Bender, Fiona Bewley, Nathalia Cury, Anja Dellner, Descha Daemgen, Jula Eberth, Hamoud Eshtay, Mohammad Ezzouini, Roana Salome Falkenberg, Ulrike Feibig, Claudia Garbe, Charlotte Wiebke Gneuss, Martina Hefter, Verena Hehl, Ben Hermsdorf, Olga Hohmann, Anne Jung, Jana Jess, Jana Maria Köder, Gregor Legeland, Chiara Marcassa, Elisabeth Markert, Michelangelo Miccolis, Wagner Lúcio Moreira, Gabriele Nagel, Susi Rosenbohm, Ralf Ruhnau, Arne Schirmel, Joyce Schmiedel, Gregor Schmitt, Sabine Schrem, Amelie Scupin, Isaac Spencer, Anne Tismer, Heidemarie Wagner, Angelika Waniek, Magdalena Weniger, Ingo Wesenack, Frank Willens, Maria Winkler, Udo Zickwol.

Dramaturgie: Marietta Piekenbrock, Künstlerische Produktionsleitung: Philip Decker.
Dauer des Gesamtevents: ca. 4 Stunden 20 Minuten, zahlreiche Pausenmöglichkeiten

www.volksbuehne.berlin

 

Kritikenrundschau

Als "insgesamt misslungen", "verkrampft" und "merkwürdig theaterfern" schätzt André Mumot diese Eröffnung in der Sendung "Fazit" auf Deutschlandfunk Kultur (10.11.2017) ein. Tino Sehgals kleine Arbeiten in den Foyers seien akustisch nicht zu verstehen gewesen. Es war wie eine "Ausstellungseröffnung" in einem Raum, der dafür nicht geeignet gewesen sei. Die Beckett-Arbeiten ("esoterische kleine Stücke, die nichts mit unserer Welt zu tun haben") seien auf Reduktion angelegt gewesen, wobei in "Nicht ich" ob der Größe des Hauses der für das Stück ikonische Mund der Darstellerin für Zuschauer in den hinteren Reihen nicht erkennbar gewesen sei. Auch die ist ein Indiz für die verfehlte Beschäftigung mit dem Raum der Volksbühne, die der Kritiker diagnostiziert.

Ein "gehöriges Maß an Vergangenheitsseligkeit" attestiert Felix Müller von der Berliner Morgenpost (11.11.2017) diesem Abend. Tino Sehgals Arbeit sei "im Publikumsverkehr" untergegangen. "Es herrscht die Atmosphäre einer überfüllten Vernissage, auf der die Kunst die Neben- und die Frage nach dem nächsten Glas Weißwein die Hauptsache ist.“ Lob erntet vor allem Anne Tismer für ihre Beckett-Darbietung und "die ergreifenden Momente, die sich aus den Sprachkaskaden Becketts speisen". Fürs Ganze aber sagt der Kritiker: "Ein ästhetisches Profil bleibt unsichtbar (…). Wer die Volksbühne einmal als Garant für Überraschungen, Subversion und neue Ideen schätzen gelernt hat, kann das nur traurig finden."

Echt "geil" findet Dirk Peitz von der Zeit (11.11.2017) den Metal-Auftakt dieses Abends, dessen Zusammenhang er im Museumsgedanken findet: Es gehe "um nichts weniger als eine Neubetrachtung des Theaters an sich nämlich", und zwar "durch die Rekonstruktion des Alten". Mit Beckett öffne Dercon "das Archiv" und verschaffe dem Theater also ein Gedächtnis über YouTube-Mitschnitte hinaus. Die Verbindung Beckett-Sehgal erschließe sich zwar nicht unmittelbar und eine "wirkliche Antwort darauf, was die Dercon-Volksbühne sein wird, außer eben nicht die Castorf-Volksbühne, gab es selbstverständlich nicht am Eröffnungsabend. Der Archivgedanke, der in den Beckett-Inszenierungen aufschien, macht dieses Theater aber unmittelbar unterscheidbar von allen anderen mindestens in Berlin."

Für Spiegel Online (11.11.2017) ließ sich Anke Dürr durch die Stationen dieses Abends treiben: "Das ist alles schön und gut, weltbewegend ist es nicht. Die Verbindungen, die der Abend herzustellen versucht zwischen Beckett und Sehgal, indem er den einen musealisiert und den anderen theatralisiert, bleiben vage." Beckett als Haupt-Act auf der großen Bühne werde "in einer Ernsthaftigkeit zelebriert, die etwas verdammt Lebloses hat: Beckett, in einen Museumsschaukasten verbannt."

"Nach all den Hasstiraden, Grabenkämpfen, Rückzugsgefechten und kulturpolitischen Arrogantheiten von Tim Renner bis Klaus Lederer erlebt die Volksbühne an diesem Freitagabend eine Implosion. Als sei alle Energie im Volksbühnenkampf verpufft, bevor es überhaupt losgeht." So berichtet Rüdiger Schaper im Tagesspiegel (11.11.2017) von der Eröffnung. Sehgals "Exerzitien" wirken auf den Kritiker im Theaterraum "anämisch", wie "ein mittelgroßer Bluff". Becketts Einakter seien zwar "nicht unbedingt gedacht für die Einladung in ein neues Haus", bildeten aber doch das, "was im Gedächtnis bleibt von dieser sonderbaren Veranstaltung in einem leeren Theater". Fazit: "Das ist zu wenig, zu defensiv als Gesamtauftritt. Eher eine Late Modern als eine Tate Modern."

Für Tobi Müller in der Frühkritik auf Deutschlandfunk (11.11.2017) stellte der wuchtige musikalische Auftakt des Abends eine "Teufelsaustreibung" nach zweijährigem Volksbühnenstreit dar. Anne Tismer sei in ihrem Beckett-Auftritt mit der Rolle als "Neue beim Neuen" "total cool, super souverän" umgegangen. Becketts Poesie falle hier als "späthuman" auf, "der Mensch in den letzten Zügen". Sehgals Arbeiten seien zwar schwer verständlich gewesen und in der Präsentation eigentlich "danebengegangen", leuchten dem Kritiker aber "auf dem Nach-Hause-Weg" als Korrespondenz zu Beckett ein: Die "Cyborgs", die etwa die Performance "Ann Lee" präsentiere, sind "Beckett-Figuren", d.h.: "Beckett ist der Mensch im Spätstadium, Sehgal hat das bereits überwunden" und ist "im Posthumanismus".

"Ein Haus vergewissert sich seiner Mittel, poliert sein Besteck, stellt die Frage, was es eigentlich ist und was es kann. Eine alte Technik der Avantgarden seit dem 20. Jahrhunderts, in der Kunst perfektioniert durch die Institutionskritik. Hat man so etwas in einem deutschen Stadttheater in dieser Konsequenz schon mal gesehen?" So würdigt Elke Buhr in der Zeitschrift Monopol (online 12.11.2017) diesen Auftakt. Bei den Performances von Tino Sehgal merke man noch "die Fremdheit, mit der Kunst- und Theaterpublikum aufeinander trafen. Anders als im Museum, antwortet niemand Sehgals Ann Lee, als sie ihre Fragen ans Publikum stellt. Und nicht jeder schaltet entspannt um vom stummen Betrachter auf die Dialogperspektive. Aber vielleicht gelingt es ja in der neuen Volksbühne, ein Publikum zu generieren, das sich gern in verschiedenen Rollen ausprobiert".

"Wenig ist neu an diesem ersten Abend in der neuen Volksbühne. Aber das ist Teil der Pointe. Es geht um das Theater als Museum, Darstellung als Performance, Beginnen als Schon-begonnen-Haben, Interaktion als Aneinander-Vorbei. Also Zwischenzustände. Diese Zwischenzustände macht der Abend begehbar." So berichtet Ekkehard Knörer für die Onlineseite des Merkur (12.11.2017) über einen "faszinierenden wie beunruhigenden Anfang“ der neuen Volksbühne. Der Kritiker würdigt die Beschäftigung mit abgelebter Avantgarde in Walter Asmus' Beckett, die gleichwohl nicht "Historismus" bedeutetem und schätzt die "Intelligenz und Stringenz" dieses ganzen Events, die mit einer durchgehenden "Humorlosigkeit" einhergehe.

Ein "aufreizend läppischer Auftakt" mit Maschinenspielen auf der Bühne hat Dirk Pilz von der Berliner Zeitung (online 12.11.2017) nicht gerade in diese Eröffnung reingezogen. Bald erscheint sie ihm als "Kunstkommunikationskatastrophe". Die Tino Sehgal-Performances wirkten "wie in den falschen Rahmen kopiert, in die Hände einer wahlweise überforderten oder dilettantischen Dramaturgie geraten". In Walter Asmus' Umsetzung von "Nicht ich" erkennt der Kritiker eine "schöne Beckett-Verschärfung", "das Theater als herz- und sinnstürzende Interaktions-Plastik". Die folgenden Beckett-Stücke verlören sich in "museal verpacktes Reproduktionstheater". Im Ganzen könne man sich Bezüge zwischen den "Metakunst-Figuren" bei Sehgal und den "Nicht-Figuren" bei Beckett denken. "Aber das transdisziplinäre Gespräch bleibt hier kunsttheoretische Behauptung, kuratorische Absichtserklärung. Das prägt den gesamten, papiernen, konzeptlastigen Abend: große Gesten, wenig Gehalt."

"Mit einem programmatischen und etwas dürren Ansatz, Theatermagerkost der strengen Sorte" hat die Volksbühne in den Augen von Katrin Bettina Müller von der taz (13.11.2017) eröffnet. "Nie hat man an diesem Abend das Gefühl, dass das Haus seine gewohnte Betriebstemperatur erreicht, dass es hinter den Kulissen, auf der Bühne und in den Köpfen der Zuschauer brummt vor Anstrengung." Tino Sehgal habe eine neue Arbeit für die Volksbühne hergestellt, die "ein wenig wie ein Fake, eine großspurige Behauptung" wirke. Walter Asmus zeige eine Treue zu Becketts Intentionen, "die auch befremdlich ist und visuell eher altbacken daherkommt". Der konzeptionelle Bezug zwischen Beckett und Sehgal sei gleichwohl deutlich, "bewegen sich doch beide durch posthumanistische Landschaften, Räume jenseits des Sozialen, das eine Mal befeuert von der Erfahrung der Vernichtung des Menschen in den Kriegen des 20. Jahrhunderts, das andere Mal vom Blick auf die Möglichkeiten der Technologie".

"Das ist öde, aus der Zeit gefallen, in seiner Egalheit anstrengend und frappierend humorlos. Immerhin ist das Prinzip zu erkennen: der Triumph des Kurators über die Regie." So berichtet Jan Küveler für die Welt (online 12.11.2017). Er sah Tino Sehgal "mit seinen großspurig 'Interventionen' genannten Miniperformances" und eine sklavische Beckett-Befolgung von Walter Asmus. "Das war wohl der Gedanke der Dramaturgie: der hippe Schmallippenpoet des digitalen White Cube, Tino Sehgal, prallt auf einen unwahrscheinlichen Vater im Geiste, der ebenfalls kontextlose Räume schafft, in denen es irgendwie um Kommunikation beziehungsweise ihr Scheitern geht. Das ist gar nicht so dumm, nur: sehr, sehr langweilig."

Die Volksbühne atme jetzt "tatsächlich mehr den Geist eines Museums als den eines Theaters", schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (online 12.11.2017). "Das ist schon alles sehr minimalistisch, installativ und spröde, irgendwie auch asketisch-esoterisch. Und wahnsinnig konzeptlastig. Wo bleibt die Sinnenfreude? Wo die Leidenschaft, die Lust?" Sehgals Werke gingen im Getümmel unter. Mit Beckett gebe es die "Auflösung von Theater, oder dessen strenge Rückführung auf Elementares: Raum, Stimme, Sprache, Körper, Licht. Die absolute Reduktion.“ Doch sei der "minimalistische Beckett" hier "viel zu groß dimensioniert“. Die Sehgal-Gruppenchoreographie nach der "Beckett-Beschwörung" habe etwas "Erweckungskirchliches" gehabt. Fazit zu Sehgal: "Was im Londoner Museum ein Hit war, wirkt im Theaterzusammenhang schal und bemüht."

"Eine Beleidigung der Zuschauer und Darsteller" erlebte Simon Strauß von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (13.11.2017) in diesem "Nullprogramm ohne Anfang und Ende" an der neuen Volksbühne. Der Abend wirke wie ein "jetzt erst recht" Chris Dercons. Als wolle er sagen: "Wenn ihr mich für mein avantgardistisches Kunstverständnis kritisiert, mir eure hergebrachten Erwartungen an ein Theater zumutet, dann lasse ich euch zur Strafe umso länger in der Performancehölle braten. Nur, dass es gar keine Hölle, nicht mal ein Fegefeuerchen ist, in dem man hier herumsteht. Sondern nur ein sterbenslangweiliger Limbo." Die "durchaus eindrückliche Vorführung" des Beckett-Teils sei "unter falsche Vorzeichen gesetzt, nämlich wie ein museales Ausstellungsstück behandelt, um neben den zeitgenössischen Übungen auch die klassische Moderne zu zeigen. Nichts als klischeehaftes Kuratorendenken steckt hinter dem Ganzen."

"Die Eröffnungsparty der Volksbühne zeigt die Bilder seiner Ausstellung, jener von Chris Dercon. Es ist ein Gang zu seinen Theatervätern", schreibt Daniele Muscionico in der Neuen Zürcher Zeitung (15.11.2017). Um Gemeinschaft solle es wohl gehen, um Sprachfindung und um das Wesen von Gesellschaft und Theater, "doch es ist ein bisschen wie im Museum, (…) am Ende nimmt jeder ein andere Ausstellung mit nach Hause. Oder eine enttäuschte Erwartung." Anne Tismer sei "das Beckett-Mädchen, das zwar lebt, aber nicht wirklich geboren wurde", so Muscionico: "Es passt zur schweren Auspressung eines Theaters, das an diesem Abend noch nicht zur Welt kommt. Nicht auf unsere zumal, die der Zuschauer."

Dercon zeige an seinem ersten Volksbühnen-Abend, "was sein Theater nicht sein wird: ein Haus, worin ein stabiles Ensemble ein Repertoire entwickelt, eine Zentralstelle erkennbarer künstlerischer Handschriften und Köpfe". Als einen "Rummel der Reprisen" bezeichnet Peter Kümmel in der Zeit (16.11.2017) diesen Auftakt. Becketts "Nicht Ich", geschrieben "für ein Theater von der Größe und Stille eines Beichtstuhls", werde "von Dercon ins maximale Format gezwungen". Sehgals "These Associations" wirkt auf ihn wiederum "wie der eingekaufte Versuch einer Neubeseelung des Tempels – durch eine durchreisende Miettruppe." Der Kritiker "erkennt kein überwölbendes Programm, keinen eigensinnigen Kunstwillen. Nichts, was hier gezeigt wird, wirkt, als sei es für diesen Abend, diese Räume gemacht. Das Wenigste an diesem Auftakt funktioniert." Es stimmten weder "Programm-Proportionen" noch "Rhythmus", es fehle der "Inhalt (von Beckett abgesehen)" – "eine Theaterwiederöffnung ohne menschliche Geste, stattdessen werden die Scharniere und Gelenke des Apparates bewegt". Man müsse die Volksbühne schützen, "vor der Besetzung durch Theater-Inkompetenz, die zum Normalfall zu werden droht".

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