Lügen lernen

von Shirin Sojitrawalla

21. November 2017. Der Regisseur Jan Bosse soll einmal gesagt haben, dass Joachim Meyerhoffs Theaterkunst letztendlich ein Dialog mit den Toten sei. Das könnte man auch seinen Büchern attestieren, die mit vielen Abschieden kämpfen und bei aller Komik immer auch davon sprechen, dass sich seelische Wunden nicht schließen. Dabei besitzt er ein genaues Gespür für die Kippmomente des Lebens, etwa wenn aus Liebe Rachsucht wird, Zuneigung in Hass springt und der dünne Firnis der Beziehungsherrlichkeit bröckelt.

Mit Hütchen hüpfen

Schon zum vierten Mal hilft Meyerhoff seinem Leben mittels der Fiktion auf die Sprünge, nach Amerika (2009), Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war (2013) und Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke (2015). Diesmal ankert er im Anschluss an sein Studium an der Münchner Falckenberg-Schule am Stadttheater Bielefeld, danach in Dortmund. Immer mal wieder schweifen seine Erinnerungen in die Kindheit, wo auch die Anfänge des Darstellers Meyerhoff nisten, wie überhaupt der neue Band eine Schauspielerwerdung umkreist. So schreibt er etwa über eine "Was Ihr wollt"-Inszenierung und sich als Bleichenwang: "Ich mochte die Inszenierung, da ich in einem Ganzkörperstrickanzug und einem kleinen Hütchen herumhüpfen durfte und mich drei Stunden lang blöd stellte. Eine dankbare Aufgabe, die mir zu liegen schien."

Meyerhoff Cover ZweisamkeitWomöglich ist Meyerhoff auf der Bühne auch deswegen am genau richtigen Ort, weil das im echten Leben nicht auszuleben wäre. Er hat ja seine autobiographischen Stoffe zuvor auch im Theater gezeigt, am Wiener Burgtheater und beim Berliner Theatertreffen 2009. Im neuen Buch durchsteht er erste Engagements und erste große Lieben. Der Erzähler beschränkt sich auf Hanna, eine hochintellektuelle und durchgeknallte Studentin, die ihn das Denken und den alltäglichen Wahnsinn lehrt, und Franka, eine Tänzerin, die beim Unterricht zwischen den Laken seine Ohren mit den Beinen streichelt. Zwei Frauen, ein Liebesleben, das den Kopf mit dem Körper versöhnt und dem Ich-Erzähler, da beide Frauen gleichzeitig am Start sind, allerhand logistisches Talent abverlangt.

Meyerhoff wäre nicht Meyerhoff, würde er daraus nicht reinstes Boulevardtheater inszenieren. Wer da nicht lacht, liegt falsch, wobei zuzugeben sei: Wie bei allen seinen Büchern fällt es auch diesmal schwer, im Kritikermodus zu bleiben. Einmal umschlungen vom autofiktionalen Anekdotengeschwader dieses Mannes, gibt es keinen Einwand mehr.

Wir müssen extremer werden!

Die katalanische Eingreiftruppe La Fura dels Baus beschert ihm dann sein Theater-Erweckungserlebnis: "So unkompliziert und direkt, so brutal und archaisch, so frei von Sprachballast und hehrem Kunstgenuss konnte Theater sein!" Der Totaltheaterabend schüttelt ihn wach und führt ihn zum Credo: "Wir müssen alle viel extremer werden." Er hat sich daran gehalten. Nach 2007 wurde er 2017 zum zweiten Mal zum Schauspieler des Jahres gekürt. Diesmal für seine bipolare Verkörperung des Erzählers aus Thomas Melles Buch "Die Welt im Rücken", dessen Auf- und Abstürze ihm auf den Körper geschrieben zu sein scheinen.

Als wäre das nicht schon Begabung genug, ist der vielfach bewunderte, ausgezeichnete und geliebte Schauspieler längst zum Bestsellerautor geworden, hat sich eine riesige Fangemeinde, keineswegs nur im Theaterpublikum, erschrieben, die sich von seinen Lebensbeichten bestens bewegt und unterhalten fühlt. Das passt irgendwie zum Menschen Joachim Meyerhoff, soweit man sich von ihm in seinen Büchern ein Bildnis machen darf.

Die Wallung der Behauptung

Denn der Joachim Meyerhoff aus den Büchern besitzt die Fähigkeit, mit unterschiedlichsten und eigenartigsten Menschen in Kontakt zu treten und dabei das nicht zu Vereinbarende lässig zu vereinbaren. Eben steckt er hochtrabend philosophierend mit Hanna unter einer Bettdecke, dann tischt ihm die unhandliche Bäckersfrau Ilse Schweineohren, Schlagermusik und Schnaps auf. Auch im neuen Buch fügt er dabei einen markanten Moment an den nächsten, immer sehr frei nach Roger Willemsens Devise, dass man das Leben nicht verlängern, aber doch verdichten könne. Diesmal gibt es herrliche Kollegenschelte, Hinterbühnendramen und Selbstzweifel à la "Dieser ganze Beruf wird sich für Dich als tödliche Sackgasse erweisen". Die unwahrscheinlichsten Pointen schreibt eh das Leben selbst.

Wenn nicht, muss nachgeholfen werden. Dass Lügen mutig sein müssen, hat Meyerhoff schon als Kind kapiert. "Wer zu spät kommt und betreten den Lehrer mit 'Mein Wecker hat nicht geklingelt' anmurmelt, der braucht sich über Ungnade nicht zu wundern. Wer aber zwei Mal das Treppenhaus hoch- und runterprescht, außer Atem das Klassenzimmer stürmt und brüllt 'Bei uns zu Hause gab es einen Rohrbruch. Der ganze Keller steht unter Wasser und unser Hund ist fast ertrunken' ist per se schon mal ganz anders abgesichert, durch die Wallung der Behauptung." Das ist das Prinzip Meyerhoff. Die Wallung der Behauptung, die jede Peinlichkeit mit Grandezza auszukosten versteht. Auf der Bühne wie im Buch. Einfach sagenhaft.

 

Die Zweisamkeit der Einzelgänger
von Joachim Meyerhoff
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017, 415 Seiten, 23 Euro

 

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