Die Bühne als Museum - Thomas Rothschild plädiert für ein geschichtsbewusstes Theater
Blut oder Ketchup
von Thomas Rothschild
29. November 2017. Wenn nicht alles täuscht, ist der Begriff des "Theatermuseums" zu einem der despektierlichsten unserer Zeit geworden, egal ob auf einzelne Inszenierungen gemünzt oder auf ganze Theaterhäuser (wie etwa auf das Berliner Ensemble unter Claus Peymann). Kaum ein Vorwurf trifft das Theater härter als der des Musealen. Die in ihm enthaltene negative Wertung scheint unwiderlegbar. Aber ist sie es tatsächlich? Bedarf es keiner zusätzlichen Differenzierungen?
Heftig gerügt und begeistert aufgenommen
Zum Beispiel: Mozarts in der Kindheit komponierte Opern "Apollo et Hyacinthus" und "Die Schuldigkeit des ersten Gebots" in der Regie von John Dew; Tschechows "Drei Schwestern" in der Regie von Peter Stein; Carlo Gozzis "Turandot" in der Regie von Ruben Simonov; Mikołaj z Wilkowieckas "Geschichte von der lobenswerten Auferstehung unseres Herrn" in der Regie von Kazimierz Dejmek; Carlo Goldonis "Diener zweier Herren" in der Regie von Giorgio Strehler. Die fünf Inszenierungen haben gemeinsam, dass sie schon zum Zeitpunkt ihrer Entstehung zwischen 1947 und 2006 "Museum" waren.
Simonovs "Turandot" unterscheidet von den anderen Inszenierungen, dass sie eine vierzig Jahre zuvor von Evgenij Vachtangov aufgeführte Arbeit, an der Simonov übrigens als Schauspieler mitgewirkt hat, rekonstruiert, während Strehler, Dejmek, Stein und Dew sich bemühen, den Stil eines Regisseurs – Stanislavskijs – oder eines Genres, einer Epoche – der Commedia dell'arte, des naiven Passions- oder Osterspiels, der Oper im 18. Jahrhundert – zum Leben zu erwecken. Peter Stein, der die durch seine vorangegangenen Inszenierungen produzierten Erwartungen düpiert hatte, wurde von einem Teil der Kritik heftig gerügt und als zum Konservatismus Bekehrter gescholten. Die anderen Genannten durften sich eher einer begeisterten Zustimmung erfreuen. Davon zeugt auch, dass sich die Ergebnisse ihrer Arbeit über Jahre und Jahrzehnte hinweg auf den Spielplänen halten konnten – "Turandot" im Vachtangow-Theater sogar mit derselben Schauspielerin Julija Borisova in der Titelrolle.
Im Modus der Rekonstruktion
Um einem Missverständnis vorzubeugen: wenn hier von "Museum" die Rede ist, hat das nichts mit "altmodisch", "veraltet" zu tun. Vachtangovs und Simonovs "Turandot" wirkte, wenn man sie noch sehen könnte, moderner als das meiste, was einem heute auf deutschen Bühnen begegnet. Theater als Museum, das soll hier heißen: ein Theater, das sich der Tradition seiner eigenen Formensprache bewusst ist und sie – im Modus der Rekonstruktion – anschaulich macht. Wobei, wie gesagt, ganz konkrete Vorlagen (wie bei Simonov) oder allgemeinere stilistische Traditionen (wie bei Peter Stein) rekonstruiert werden können.
Kein halbwegs vernünftiger Mensch spielt die Documenta gegen den Louvre aus, die zeitgenössische Galerie gegen das Museum of Modern Art. Kein Liebhaber der Literatur will die Bibliotheken und Buchhandlungen, die "Anna Karenina" verleihen oder verkaufen, gegen Lesungen zeitgenössischer Autoren austauschen. Sie können und sollen nebeneinander existieren wie Roman und Slam-Poetry als Varianten der Dichtung, wie Beethoven und Archie Shepp als Varianten der Musik, oder, um zum Theater zurückzukehren, wie Shakespeare und Marina Abramović, wie Tschechow und She She Pop. Es gibt kein überzeugendes Argument dafür, dass sie einander ausschließen, dass sie Alternativen darstellen, zwischen denen man sich entscheiden muss.
Marina Abramović hat einmal geäußert: "When you perform it is a knife and your blood, when you act it is a fake knife and ketchup." Dieser Satz ist sachlich richtig, aber er enthält keine Wertung. Was spricht gegen ein falsches Messer und Ketchup? Nebenbei: Sind Messer und Blut wirklich näher an der Wirklichkeit als ein falsches Messer und Ketchup? Ähneln ein Trump, ein Erdoğan, ein Orbán nicht eher einem falschen Messer und Ketchup als einem scharfen Messer und echtem Blut? Ist nicht gerade die Täuschung, das Rollenspiel kennzeichnend für die (politische) Realität, die uns umgibt, und können wir aus dem "Fake" nicht lernen, dass nichts ist, was zu sein es vorgibt?
Illusion vs. Authentizität
Das Theater als Museum wird nicht zuletzt so leidenschaftlich abgelehnt, weil es einem aktuellen Trend widerspricht. Es steht im doppelten Gegensatz zum Kult der Authentizität. Schon das mimetische Theater des Als-ob erteilt der Authentizität eine Absage. Die Rekonstruktion wiederum bietet noch nicht einmal die Authentizität der Inszenierung an. Als Marina Abramović in Erwägung zog, zusammen mit einem "Zauberer" aufzutreten, riet ihr ihr Galerist entschieden davon ab: Das Handwerk des Magiers sei die Illusion. Ihr aber, der Performerin, sei nichts fremder als eben die Illusion.
Es läuft immer wieder auf Blut oder Ketchup hinaus. Das Ketchup lässt sich multiplizieren. Das echte Blut ist einmalig. Ironie der Performance-Geschichte: Das Museum of Modern Art in New York zeigte 2010 eine große Abramović-Retrospektive. Im Mittelpunkt der Ausstellung, die den Titel "The Artist is Present" trug, stand Marina Abramović leibhaftig mit einer spektakulären Aktion. In den anderen Räumen aber stellten junge Künstlerinnen und Künstler einige ihrer bekanntesten Acts nach: Reenactment, Museum eben.
Bedenklich wird das Museum, wenn es neuen Verfahren und Experimenten im Weg steht (wie es zum Beispiel im Musikbetrieb lange Zeit Bach und Mozart gegenüber Ligeti oder Cage taten). Zu diesem modernitätsfeindlichen Dogmatismus freilich bilden die radikalen Gegner des Museums das genaue Spiegelbild. Und wenn man sich von den doktrinären Gefilden herab begibt auf die profane materielle Ebene, geht es sehr oft lediglich um finanzielle Zuwendungen. Was man ins Museum stopft, fehlt – tatsächlich oder vermeintlich – bei der Förderung lebender Künstler. Dieses Argument muss man ernst nehmen, aber man sollte das Begehren benennen und nicht ideologisch verbrämen.
Objekt des Augenblicks
Es geht um die Herstellung und Bewahrung von Geschichtsbewusstsein, im hier diskutierten Fall: über die Bühnenkunst, das Voraussetzung ist für das Verständnis der Gegenwart. Nicht einmal einen Pollesch kapiert man, wenn einem Grotowski oder Louis Malle nichts sagen. Aber das ist noch nicht alles. Das Theater verliert seine Zukunft, wenn es seine Geschichte vergisst. Es wird zu einem Objekt des Augenblicks, ohne Zusammenhang, ohne Bezüge, ohne Vorgänger und Nachfolger. Indem es sich den Gesetzen des Marktes unterwirft – dem raschen Verbrauch zugunsten des ständigen Erwerbs neuer Angebote –, verleugnet es seine Vergangenheit und gibt preis, was Kunst von der bloßen Ware unterscheidet: Dauer. Den Kampf gegen den Verlust von Geschichte, gegen einen dem Prinzip der Profitmaximierung unterworfenen Aktualitätszwang haben die Enthusiasten des Theaters fast schon verloren.
Wo das Geschichtsbewusstsein abhandenkommt, verschwindet auch das Bewusstsein von der Veränderbarkeit der bestehenden Zustände. Deshalb ist Geschichtsvergessenheit nicht eine Option von vielen, sondern eminent politisch. Sie spielt dem Status quo in die Hände. Auch und gerade im Theater. Das Theater hat die Möglichkeit – und ich sage nicht "die Aufgabe", weil ich jeden Versuch, den Künsten eine Aufgabe zu oktroyieren, für verhängnisvoll halte –, es hat die Mittel, Geschichtsbewusstsein zu stärken, und es hat selbst eine Geschichte, deren Kenntnis diese Stärkung begünstigt.
Schicker Trend oder Geschichtsbewusstsein?
Auf den ersten Blick könnte man auf die Idee kommen, dass Überlegungen dieser Art bei einer Debatte eine Rolle spielen, die zurzeit die Gemüter erregt, der Debatte über das erahnbare Konzept des neuen Intendanten der Berliner Volksbühne Chris Dercon. Seine programmatischen Erklärungen zur Kunst der Rekonstruktion theatergeschichtlich bedeutender Werke sind so dürftig und verwaschen, dass ein fundiertes Urteil (noch) nicht möglich ist. Es hat eher den Anschein, als orientiere sich der umstrittene Castorf-Nachfolger an schicken Trends als an einer systematischen Erschaffung von Geschichtsbewusstsein. Diesen Verdacht untermauert auch seine Haltung zur Frage eines festen Ensembles. Alle am Anfang dieses Beitrags genannten Theaterleute (außer Dew) – also Strehler, Dejmek, Simonov und Stein – arbeiteten über Jahre hinweg mit festen Ensembles, die deren Ansätze teilten.
Es hat schon gute Gründe, dass sich die Cinémathèquen in Deutschland und Österreich Filmmuseen nennen. Zum geringeren Teil sind sie Museen im traditionellen Verständnis, die Kostüme, Bühnenbildmodelle, Requisiten ausstellen. Ihre Hauptaufgabe ist es, die Filmgeschichte am Leben zu erhalten, auch einem jüngeren Publikum buchstäblich vor Augen zu führen, dass die Filmkunst nicht mit "Highlander" begonnen hat. Hier kann man erleben, wie jene Werke aussehen, die bis heute immer wieder zitiert werden: "Panzerkreuzer Potemkin", "Die Passion der Jeanne d'Arc", "Citizen Kane". Umgekehrt lässt sich behaupten, dass einem zahlreiche Anspielungen in Filmen der Gegenwart entgehen, wenn man diese Meisterwerke der Vergangenheit nicht kennt. Es ist, als läse man Ulrich Plenzdorfs "Neue Leiden des jungen W.", ohne Goethes "Werther" zu kennen. Kann man wohl tun. Aber es ist das halbe Vergnügen.
Das Flüchtige erfahren
Das Theater hat gegenüber dem Film den Nachteil, dass es – abgesehen von Videoaufzeichnungen in neuerer Zeit – nicht auf einem Materialträger fixiert ist, der Reproduktionen erlaubt. Will man das Flüchtige, das verloren Geglaubte sinnlich erfahrbar machen, bleibt nur die Möglichkeit der "musealen" Rekonstruktion, wie Dew und Stein, Simonov, Dejmek und Strehler sie unternommen haben. Solche Rekonstruktionen ermöglichen zweierlei: die Wahrnehmung von Differenzen (wer an eine teleologische Entwicklung der Künste glaubt, mag von Fortschritten sprechen) und die realistische Beurteilung von vorgeblichen Innovationen und Entdeckungen. Das Rad ist auch in den Künsten eine nützliche Einrichtung. Aber man muss es nicht immer wieder neu erfinden und sich im Schutz der Ahnungslosigkeit schmeicheln, man stünde an der vordersten Front des Kulturkampfes.
Die bereits zitierte Galionsfigur der Performance Marina Abramović weiß nicht nur über Ketchup Bescheid, sie sagte auch: "If you're alternative when you're young, when you're 18, and 19, and 20, and you're still alternative with 29 and you're alternative with 30, and you're alternative with 40, and you're alternative with 50, but excuse me... I'm 63. I don't want to be alternative anymore." Die Avantgarde ist, über kurz oder lang, Teil desselben Korpus wie "Ödipus", "Der andalusische Hund", "Guernica" oder die "Ursonate". Nur ein Schelm würde das "Museum" nennen.
Thomas Rothschild, geboren 1942 in Glasgow, Studium der Slavistik und Germanistik in Wien, Moskau und Prag, 1968-1971 Linguist, 1971-2007 Literaturwissenschaftler an der Universität Stuttgart. Publikationen u.a. zum politischen Lied, zur Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts, zu Medienfragen. Journalistische Tätigkeit für diverse Medien.
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Geschichtsvergessenheit ist keine Flucht vor dem Museum als Ausdruck der Un-Moderne, sondern eher Feier der Dummheit.
Alles was man nicht oder nicht ganz versteht, kann man durchaus auch als Kunst genießen.
Man genießt lediglich sich selbst mehr, wenn man mehr von dem versteht, was man sieht, weil man Anknüpfungen und Rückbindungen an vergangene Kunst in der gegenwärtigen wahrnimmt, erkennt und einordnen kann- Voraussetzung für Kunstgenuss ist das aber nicht.
Ich plädiere deshalb dafür, dass sich Künstler nicht um Plazierung von Anspielungen als Wesentliches in ihren Werken bemühen, ja sogar diese eher als rückbindende Spuren verwischen, um das Vergnügen des allgemeinen Publikums so groß wie möglich das Vergnügen eben des Publikums sein zu lassen.
Was in in den Künstlern an Wissen von vergangenen Künsten und Künstlern und von Geschichte wie gegenwart ist, wird sich ohnehin auch unbewusst in ihrer gegenwärtigen Kunst mitteilen.
Und wenn das Kritikern zu wenig ist, haben die eben Pech gehabt, weil sie sich als Publikumsteil um ihr eigenes Vergnügen gebracht haben.
Man sollte nicht explizit Kritiker mit Extra-Portionen Anspielungsreichtum verwöhnen, das macht sie nur lebensuntüchtig- Aber man kann natürlich auch das, wenn einem an der Dauerbewunderung durch Kritiker irgendwie mehr liegt als am künstlerischen Arbeiten selbst...
Leider konnte ich die Performance nicht vor Ort sehen -ein toller Aspekt von ihr ist ja, daß sie nicht nur live funktioniert, sondern auch über Fotos ihre Wirkkraft entfaltet. Den Titel fand ich treffend und fantastisch:
Der Raum ist gefüllt mit diesen apathischen Wesen. Sie funktionieren nur, sie sind nicht, sie wollen nicht. Vielleicht können sie nicht, aber wir wissen gar nicht worin ihre Begrenzung liegt- haben sie überhaupt eine? Wer hindert sie daran aus der Tür zu spazieren? Da sind diese Glasplatten, aber es herrscht kein Zwang sich dahinter zu begeben. Dieses Zwischenstadium ist unerträglich. Warum macht keiner was?
Es fehlt Leidenschaft, ein Funke, Aktion. Von den Akteuren, oder vom Publikum, das "total betroffen" zusieht oder sogar noch Fotos nimmt. Die Situation macht aggresiv. Es ist ein Warten, warten auf eine Revolte vielleicht.
Es ist nicht DER Faust, es ist DIE.
Die Faust als Aktion die das Glas zerschmettern kann. Die Faust als universelles Symbol der Solidarität des Arbeiterklasse, der Frauenbewegung, diverser Freiheitskämpfe.
Die Dopplung mit Goethe ist nur ein zusätzliches Schmankerl. Da ist der ideologisch hochbelastete deutsche Pavillon zu dem sich jeder Künstler irgendwie verhalten muss.
Die von Imhof ausgedrückte Realität im Gegensatz zur (von wem und warum) erwarteten klassischen Hochkultur. Faust! Im deutschen Pavillon! Muss ja Goethe sein.
Der Titel ist schon sehr fantastisch und treffend.