Den Himmel gibt es auch ohne Gott

von Michael Wolf

Berlin, 30. November 2017. Langsam und stockend, wie Avatare, schleichen sie über die Bühne. Eine Erzählstimme kündigt an, wenn sie gleich lachen. Mit Verzögerung folgen die Figuren ihren Anweisungen. Sprechen sie selbst, bewegen die Menschmaschinen nur die Lippen und imitieren die Tonaufnahmen aus dem Off. Die Wände ihrer Welt: pink, grün, gelb, Tropfenmuster, klinisch sauber, in jedem Raum mindestens ein großer Flachbildschirm. Nicht nur die Bühne in Susanne Kennedys Inszenierung "Women in Trouble" ist radikal künstlich.

Spiegelspiel

Ihre Hauptfigur Angelina Dreem ist Krebspatientin, zugleich aber auch Figur in einer Seifenoper, aus der sie rausgeschrieben wird, indem man sie an Krebs sterben lässt. Wobei: Hauptfigur kann man sie nicht nennen. Denn es gibt viele Angelinas. Mit Masken im Gesicht, in Blue Jeans und weißen T-Shirts sind die Schauspielerinnen kaum auseinanderzuhalten.

"Weißt du noch, wie es geht?", fragt eine ältere Version ihre junge Doppelgängerin. "Klar", antwortet die, und sie treten an die gegenüberliegenden Seiten eines transparenten Raumtrenners und synchronisieren ihre Bewegungen. "Spiegelspiel" nennen sie das, obwohl die Wand doch aus Glas besteht. Als Spiegelstadium bezeichnete der Psychoanalytiker Jacques Lacan die Phase, in der ein Kind sein Konterfei als zu ihm gehörend entdeckt. Ab diesem Moment entwickelt es Selbstbewusstsein, was in erster Linie bedeutet: Es lernt, wo es selbst aufhört und andere anfangen.

Women in Trouble1 560 Julian Roder uAus dem Leben der Avatare: Marie Groothof im Bühnenbild von Lena Newton © Julian Röder

In Susanne Kennedys erster Arbeit an der Berliner Volksbühne ist die Menschheit darüber hinweg, das eine vom anderen abzugrenzen. Alle Spitzen sind hier gekappt, alles Trennende und Dringliche kassiert. Nichts scheint den Gestalten auf der Bühne wichtig, vor nichts haben sie Angst. Das Lachen der Todkranken klingt fast genau wie ein gequältes Husten und umgekehrt. Diese Menschen kennen keine Unterschiede mehr. Anders gesagt: Das sind keine Menschen mehr. Nicht mal sterben müssen sie. Die Darsteller lassen sich immer wieder in ein Gehäuse schieben, das einem Computertomographen ähnelt. An der anderen Seite der Röhre treten sie kurz darauf durch eine Tür und weiter geht's.

"I seem to have lost the reality of the reality"

Kennedy hat Passagen aus Sachbüchern und Dialogfetzen aus Filmen arrangiert. Darunter John Cassavetes' Film "Opening Night", in dem Gina Rowlands eine Schauspielerin am Rande des Nervenzusammenbruchs spielt. In einer Szene wird sie von ihrem Spielpartner geschlagen. Rowlands fällt auf den Bühnenboden und bleibt liegen. Der Regisseur schreit sie an. Was ist bloß los mit ihr? "I seem to have lost the reality of the reality", stammelt sie verzweifelt. 1977 kam der Film raus. 40 Jahre später tauscht Susanne Kennedy die Vorzeichen. Sie vermisst die Realität nicht, sie treibt sie der Welt aus. Stimmen, Bewegung, Mimik – alles an ihrer Inszenierung ist vermittelt. Kein Pudel hat hier einen Kern. Alles fließt, alles dreht sich wie die Bühne unablässig um sich selbst. Nichts läuft auf etwas hinaus, es gibt keinen Endpunkt, kein Ziel, keine Letztbegründung, keine Grenze. "Hoffentlich kommen wir auch in den Himmel", heißt es an einer Stelle. Und selbst das schaffen sie am Ende. Das Paradies gibt es auch ohne Gott.

Women in Trouble3 560 Julian Roder uWiedergeburt ist möglich: Thomas Wodianka am Computertomographen © Julian Röder

Die Presse-Abteilungen ihrer Theater streuen gerne das Gerücht, Susanne Kennedy wolle das Theater zerstören. Purer PR-Blödsinn scheint das nicht zu sein. "Women in Trouble" ist auch deswegen so bemerkenswert, weil es fremdartiges Gedankengut auf die Bühne bringt: amerikanischen Optimismus, entschlossene Naivität, schamfreie Abkehr von Ironie. Das wird nicht allen gefallen.

Jenseits des Materialismus

Deutschsprachiges Theater geriert sich lieber ideologisch als offen für Neues. Noch immer geprägt vom linken Materialismus, fühlt es sich als Bedeutungsmaschine bedroht von der Vorstellung, dass Zeichen nicht mehr zuverlässig auf etwas verweisen könnten, was es wirklich gibt. Der Avantgarde fällt oft nichts Besseres ein, als die mediale Übermacht mit den Waffen des Ereignisses zu bekämpfen: Dem Virtuellen wird der Körper entgegengestellt, der echten Schweiß ausstößt und Erschöpfung nicht mehr spielen darf, sondern vor dem Publikum erleben muss.

Nichts liegt Susanne Kennedy ferner. Sie feiert eine Messe der Oberflächlichkeit und bejaht ihr schwereloses Bühnengeschehen als positive Utopie einer nahen Zukunft. Man muss dem inhaltlich nicht zustimmen, um die Stärke der Botschaft zu goutieren: "Kill dirty things!" Körper, Materie, Tod, Liebe – alles gehört abgeschafft, gerne auch das Theater. Denn dieser Abend deutet an: Eine Wiedergeburt ist möglich.

 

Women in Trouble
Englisch mit deutschen Übertiteln
Regie & Text: Susanne Kennedy, Bühne: Lena Newton, Kostüme: Lotte Goos, Licht: Rainer Casper, Video: Rodrik Biersteker, Sound Design: Richard Janssen.
Mit: Suzan Boogaerdt, Marie Groothof, Niels Kuiters, Julie Solberg, Anna Maria Sturm, Bianca van der Schoot, Thomas Wodianka.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, keine Pause

www.volksbuehne.berlin

 

 
Kritikenrundschau

"Ist 'Women in Trouble' schon das erste Produkt des posthumanen Stadttheaters?“, fragt sich Peter Kümmel in der Zeit (7.12.2017). Kennedys Werk mute an wie ein Fertiggericht, in einer hitzefesten Backform angeliefert und mit Folie versiegelt, welches die Regisseurin kurz vor Beginn der Vorstellung geöffnet habe. "Das Ganze hat was vom linkischen, unbehaglichen Vorspielverhalten, von dem Scheinhandeln, mit dem sich in Pornofilmen die Orgien ankündigen – jedoch, die Lustzusammenstöße finden dann nicht statt. Dazu sind die Figuren zu fahl." 'Women in Trouble' sei eine Klage über die Inhaltslosigkeit des Lebens. "Aber es gibt Formen der Klage, die überborden vor Vitalität. Kennedys Klage ist selber leer."

Von der überwältigenden Drehbühne mit ihrer künstlichen Welt und überhaupt von einer "Überwältigungsästhetik" berichtet Barbara Behrendt im Gespräch auf Deutschlandfunk Kultur (30.11.2017). Die Idee von dem "aufgespaltenen Charakter" der Angelina Dreem sei "wirklich nichts Neues". Ästhetisch beindrucke der Abend, transportiere allerdings auch "mehr Hülle als Inhalt". Das sei "kein Menschtheater, das ist ein Kunsttheater". Die Kritikerin fühlt sich vom teils esoterischen Diskurs und vom Sound des Abends "narkotisiert".

Gar nicht angetan von dieser "Installationen mit Menschenbeteiligung" und ihrem "spirituellen Einerlei" zeigt sich Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (online 1.12.2017). Bei dem "schleppenden Tempo, mit dem die menschenpuppenbestückte Innenarchitektur vor sich hinkreiselt, bei dem Singsang der vorproduzierten Einsprecher, bei den meditativen Bildschirmschoner-Videobildern, bei der Entspannungsmusik“ will beim Kritiker an diesem neuen Kennedy-Abend keine rechte Freude aufkommen. Zu Protokoll gibt er auch die Publikumsreaktion: "Wenig entschlossene Buhrufer, mehr entschlossene Jubler, viel Gleichgültigkeit, Ratlosigkeit und Müdigkeit."

Daniele Muscionico von der Neuen Zürcher Zeitung (1.12.2017) sah einen Sieg nach Punkten für die neue Volksbühne. Kennedy schiebe das Theater in die Röhre und stelle seine tödliche Krankheit fest – die Lust an der Identifikation. "Ihr Theater ist das absolut Andere in Bezug auf die Vergangenheit der Volksbühne und das zeitgenössische Theater überhaupt." Die Presse habe den Abend ihn im Vorfeld als Antwort auch auf die 'Me-too-Debatte' verstehen wollen, "auch das kann, wer will". Und das sei das große Problem. "'Women in Trouble' ist vieles und will vieles, vielleicht zu viel, es will vor allem den Anspruch einer Theaterutopie einlösen ähnlich dem totalen Theater von Antonin Artaud." Und weiter: "Kennedy verfolgt die Utopie eines neuen Imagismus, einer neuen metaphorischen Theatersprache, die die Dialogsprache ablösen soll. Wo Handlung war, sollen Bilder werden."

"Es war eine zweieinhalbstündige Publikumsquälerei. Und zugleich der schrille, lustige, quietschbunte Triumph eines Theaters der Zukunft, das womöglich keine Schauspieler und keine Zuschauer aus Fleisch und Blut mehr braucht", schreibt Wolfgang Höbel auf Spiegel Online (1.12.2017). Es möge sein, dass Kennedys vollautomatisches Theater eher eine hübsche Sackgasse der Theatergeschichte markiere als eine für andere Regisseure freigelegte Schneise in eine strahlende Theaterzukunft. "Und doch: An diesem Abend in der Volksbühne durften die Zuschauer die Eleganz, die Komik und die Intelligenz einer nahezu perfekt ausgeklügelten Bühnenschöpfung bewundern, die eine Gegenwelt herbeihalluziniert, in der Krankheit und Tod und Gott ihre Schrecken verloren haben."

Die Welt, die hier behauptet werde, sei fad, glatt und nicht besonders hoffnungsvoll. "Alles in allem ziemlich krebserregend", schreibt Tobias Haberkorn auf Zeit Online (1.12.2017). Kennedys extreme Reduktion der theatralischen Mittel mache es dem Zuschauer nicht einfach, aber sie mache 'Women in Trouble' auch auf eine quälend interessante Weise subtil. "Sicherlich hat das Stück Längen und bei vielen Mikrodialogen, die sich gleichförmig aneinanderreihen, kann man sich fragen, ob sie einen tieferen Zusammenhang nur simulieren. Aber allein, weil man das Stück mit solchen Fragen beladen kann, allein für die feine Wahrnehmung, die es dem Zuschauer abverlangt, lohnt sich der Besuch."

"Alles kein Drama. Nirgends Peripetie. Katharsis: wäre gelacht", summiert Ekkehard Knörer im Merkur (1.12.2017) die Leerstelle des Abends. Und sucht nach Begriffen, die sie füllen: "Ein Theater der Affektvernichtung. Wobei man zweieinhalb Stunden lang fast vergisst, dass es so etwas wie Affekt, sagen wir hier im Theater, sagen wir überhaupt jemals gab. Postaffektives Theater vielleicht." Am Ende gibt er auf: "Oder einfach egal."

"Dercons erbitterte Kritiker wird die Inszenierung kaum besänftigen. Man muss sie lesen, fühlen und ja, auch aushalten wollen. Dann aber entfaltet sie einen Sog, dem man sich schwer entziehen kann", schreibt Mounia Meiborg in der Süddeutschen Zeitung (2.12.2017). Das angeschnittene Gender-Thema verfolge Kennedy nicht konsequent. Überzeugender sei ihr gesamtgesellschaftlicher Blick in eine dystopische Zukunft. Eine "erbärmlich leere Welt aus glatten Oberflächen" sei das, "die ihr Sinnversprechen nie einlösen". Ob beim Arzt oder beim Lebensberater, beim Yoga oder Shoppen, in der Kunst oder in der Kirche: "Es gibt keine Erlösung." Und weil das so ist, kann man schon auf den Gedanken kommen, ob künstliche Menschen nicht die glücklicheren Menschen sind." In diesem "Tempel der Künstlichkeit" treffe einen diese menschliche Frage unerwartet heftig.

Verglichen mit dem "unfassbar misslungenen Auftakt im Volksbühnen-Haupthaus" sei Kennedys Abend "nun immerhin eine (handwerklich absolut beanstandungsfreie) Setzung" gelungen, die man aber beileibe nicht mögen müsse, schreibt Christine Wahl vom Tagesspiegel (2.12.2017). Man sehe ihren Arbeiten an, dass Kennedy stark von den Künstlern der Castorf-Volksbühne geprägt sei. "'Zeige deine Wunde" lauten die letzten Worte der Aufführung: ein Zitat, das sich schon Christoph Schlingensief für seine Arbeiten – namentlich für die Auseinandersetzungen mit seiner Krebserkrankung – von Joseph Beuys geborgt hatte. Kennedy zeigt indes die dezidierte Oberfläche." Gegen den Diskurs der Castorf- Volksbühne setze sie die bewusste Sinnfreiheit oder zumindest Sinnkontingenz.

"Das Ganze wirkt genauso glatt, stromlinienförmig, austauschbar und heimatlos, wie es Kritiker von Dercons Abspielplattform der Künste stets befürchtet haben", poltert Manuel Brug in der Welt (2.12.2017). "Immerhin: Susanne Kennedy am Rosa-Luxemburg-Platz, das ist die beste Theateralternative, seit es Schlaftabletten gibt." Ihr Theater sei tot und tödlich, sanft säuselnd, vorhersehbar bedeutungsschwanger wie bedeutungslos. "Es könnte so sein, aber auch ganz anders."

"Das Gan­ze spielt auf ei­ner per­ma­nent ro­tie­ren­den Dreh­büh­ne, die ver­schie­de­ne Räu­me oder bes­ser: 'En­vi­ron­ments' ei­ner Schön­heits­kli­nik zeigt. Be­lebt wird die­ser krei­sen­de Lim­bo von post­hu­ma­nen Cha­rak­te­ren im Zu­stand 'aus­ge­setz­ter Iden­ti­tät', de­ren Ge­sich­ter un­ter ei­ner La­tex-Mas­ke ein­ge­zwängt sind und de­ren Stim­men vom Band kom­men", schreibt Simon Strauss in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (4.12.2017). Das gan­ze Set­ting durch­zieht ei­ne At­mo­sphä­re von Käl­te und Künst­lich­keit. Fazit: Sieht in­ter­es­sant aus, gibt sich aber dra­ma­tur­gisch kei­ne Mü­he.

 

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