Die Sklaverei ist unter uns

von Sophie Diesselhorst

Berlin, 1. Dezember 2017. Je suis misérable. Denn was ist frustrierender, als am Ende eines siebeneinhalbstündigen Theaterabends in den Seilen zu hängen mit dem Gefühl: die letzten dreieinhalb Stunden sind doch vor allem dazu da gewesen, die Erinnerung an die ersten, vielversprechenden dreieinhalb zu pulverisieren? Vieles ist frustrierender, vieles ist schlimmer, als Lebenszeit im Theater zu verschwenden – natürlich. Und von diesem Vielen erzählt "Les Misérables" im Berliner Ensemble auch, solange der Abend (manchmal weit) über sich selbst hinausweist und bevor die Assoziationen sich zur epischen Selbstfeier verselbständigen, die länger dauert als Fidel Castros längste Rede (sieben Stunden zehn Minuten).

Kultfigur im Exil

Frank Castorf ist (wieder) eingezogen ins Berliner Ensemble, wo er zuletzt 1996 Heiner Müllers "Auftrag" inszenierte; da war er schon Intendant der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Jetzt ist er's nicht mehr, dafür nach einer großartig dekadenten Abschiedsspielzeit mehr Kultfigur denn je, deren erste Arbeit im Berliner Exil am Schiffbauerdamm sehnsüchtig erwartet (und bei der Premiere frenetisch gefeiert) wurde. Passend zur anbrechenden Adventszeit hat Castorf sich dafür einen Weihnachtsmärchenstoff ausgesucht, Victor Hugos "Les Misérables", als Musical und in zig Verfilmungen in die große weite Welt der Popkultur getragen, also perfekt geeignet für eine gründliche Entmythologisierung.

Les Miserables 560 Foto MatthiasHorn uIm Lichte von Havanna: Stefanie Reinsperger, Rocco Mylord, Aljoscha Stadelmann, Patrick Güldenberg. Im Dunkeln, rechts: Abdoul Kader Traoré, Valery Tscheplanowa © Matthias Horn

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Los geht es allerdings mit Guillermo Cabrera Infantes Roman "Drei traurige Tiger" (1967), der im vorrevolutionären Kuba der späten 1950er Jahre spielt und sprachgewaltig einer Gruppe durch Havanna Irrlichternder hinterherhastet. So wie Hugo "Les Misérables" hat Cabrera Infante "Drei traurige Tiger" im Exil geschrieben, hier wie dort könnte der Untertitel zu Heiner Müllers "Auftrag" – "Erinnerung an eine Revolution" – dabei stehen, hier wie dort liegt der Fokus aber auf der durchaus revolutionspositiven nachträglichen Suche nach den Vorzeichen.

Die Wahrheit der Kloaken

Cabrera Infantes Text dient zunächst vor allem dem Ensemble dazu, sich auf einer eher gemütlich rotierenden Drehbühne heißzuschwelgen – Aleksandar Denics Bretterbude bietet diesmal als Fassaden einen Gemüsestand, eine Zigarrenfabrik und einen Wachtturm. Als Gäste hat Castorf aus seinem Volksbühnen-Abschieds-Faust Valery Tscheplanowa, Thelma Buabeng und Abdoul Kader Traoré mitgebracht, außerdem Rocco Mylord. Sie treffen auf Spieler*innen des BE-Ensembles, die sich größtenteils erst einmal in Castorf-stereotypische Körperüberspannung und Gebrüll flüchten, bevor sie später doch noch zu eigene(re)n Spielweisen finden. Gleich zu Anfang behauptet seine Eigenheit Jürgen Holtz in einem im Sitzen vorgetragenen historischen Abriss über Kloaken. "Die Wahrheit der Kloaken gefällt uns, denn sie beruhigt unser Gemüt", denkt Holtz laut, mit sibyllinischem Blick, und legt damit schon die Untiefe des gütigen Bischofs an, der er später bei Hugo sein wird.

"Les Misérables" treten – nach vorbereitenden Einsprengeln – auf mit Andreas Döhler als Jean Valjean, Held der Geschichte, Straftäter, der vom Bischof zum Guten bekehrt wird und sich fortan der Wohltätigkeit verschreibt, das Schicksal der "Elenden" zu seiner Verantwortung macht und stets die andere Wange hinhält, auch als sein Widersacher Inspektor Javert (Wolfgang Michael) ihm auf die Schliche kommt und Valjeans noterlogene bürgerliche Existenz zunichte machen will. Döhler ist ein verhuschter, mauliger Valjean, der stets mehr von seiner Schuld als von ihrer Dostojewski'schen Überwindung zu moralischer Überzeugung getrieben scheint.

Les Miserables 560a Foto MatthiasHorn uRevolution vom Balkon runter: Valery Tscheplanowa, Stefanie  Reinsperger und Aljoscha Stadelmann © Matthias Horn

Überhaupt wird nur den weiblichen Sympathieträgern aus Hugos Roman erlaubt, voll in ihrer Selbstgerechtigkeit aufzugehen, wobei Valery Tscheplanowa ihrer Fantine die Sentimentalität sogleich wieder austreibt, wenn sie – hier wieder auf Cabrera Infante zurückgreifend – davon berichtet, wie sie beobachtet hat, dass Menschen einen Hund verbrannten und ein zweiter Hund beim Versuch, seinen Artgenossen zu retten, auch Feuer fing; und ihn in ihrer Erzählung schließlich, selbst halb in Flammen, mit einem Brocken verkohlten Fleischs im Maul stehen lässt.

Fantine darf aber auch von außen angegriffen werden, und da konzentriert sich die Inszenierung. Nachdem sie ihre Arbeit verloren hat und auf der verzweifelten Suche nach Geld für den Unterhalt ihrer Tochter Cosette beginnt, ihren Körper zu verkaufen, trifft sie auf einen von Abdoul Kader Traoré gespielten "schwarzen Magier", der ihr Haare und Zähne abnimmt und mit einer Schüssel voller Kunstblut hantiert. Diese zur Voodoo-Karikatur stilisierten Rituale treffen sich in ihrer ausgestellten Falschheit mit Fantines exaltiert-altruistischer Mutterliebe ("Alles würde ich tun für meine Cosette!") – in einer Art Rassismus-Exorzismus, der die Bühne bereitet für einen aktivistischen Aufschrei von Abdoul Kader Traoré: "Die Sklaverei ist aus der EU-Zivilisation verschwunden? Das ist ein Irrtum!"

Im Pulverdunst der Revolution

Hier kommt also doch noch Heiner Müller ins Spiel mit dem "Theater der weißen Revolution", das im "Auftrag" von der "schwarzen Revolution" überkommen wird. Eher motivisch geistert das durch "Les Misérables", nur einmal fährt ganz konkret Müllers Debuisson in Stefanie Reinspergers Körper, die ihre Worte daraufhin – noch mehr als zuvor als von Not und Gier entstellte Parade-"Elende" Madame Thénardier – mehr kotzt und schwitzt als spricht.

Doch dann wird's wieder launig, der Abend, die Nacht verliert an Präzision. Der Konflikt zwischen Javert und Valjean wird als Räuberpistole erzählt, ausgiebig und umschweifend. Bei seinem ersten Auftritt hatte Valjean-Döhler noch momentweise zu einem Selbstvertrauen gefunden, als er Sina Martens erklärte, dass es einen Unterschied zwischen Zorn (der irren kann) und echter Empörung gibt. Aber worin dieser Unterschied bestehen könnte, das geht nach dem Höhepunkt der schwarz-weißen Konfrontation zunehmend unter im Theaternebel als Pulverdunst als Revolutionsbeschwörung – und in der darin sich wohlig ausbreitenden Selbstgerechtigkeit der Inszenierung, die sich so genau in dem verliert, wogegen sie antrat.

 

Les Misérables
nach Victor Hugo
Regie / Bearbeitung: Frank Castorf, Bühne: Aleksandar Denić, Kostüme: Adriana Braga Peretzki, Licht: Ulrich Eh, Videokonzeption: Jens Crull, Andreas Deinert, Dramaturgie: Frank Raddatz, Künstlerische Produktionsleitung: Sebastian Klink.
Mit: Thelma Buabeng, Andreas Döhler, Patrick Güldenberg, Jürgen Holtz, Oliver Kraushaar, Sina Martens, Wolfgang Michael, Rocco Mylord, Stefanie Reinsperger, Aljoscha Stadelmann, Valery Tscheplanowa, Abdoul Kader Traoré.
Dauer: 7 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.berliner-ensemble.de

 

Kritikenrundschau

"In den ersten dreieinhalb Stunden erstaunlich klar und abschweifungsfrei, auch wenn Castorf beim Mix der besten Romanpassagen mit der Erzählchronologie eher locker umgeht", schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (4.12.2017). Castorf globalisiere und weitete Hugos Blick auf die "soziale Verdammnis", und "nicht nur das Flackern der Revolution und die offenbar unter jedem System amüsierwilligen Nachtleben-Boheme-Figuren der ewigen Castorf-Kaschemmen-Szenen verbinden die Zeiten und Romanwelten". Jürgen Holtz auf der Bühne nehme sehr lakonisch "sein nahendes Ende zur Kenntnis, ebenso klar und unabweisbar verteidigt er den Akt der Revolution". Castorf baut diese Szenen in ihrer leisen Eindringlichkeit liebevoll und konzentriert. "Der große Zyniker und Dekonstruktions-Wüstling ist hier der Verehrer eines Ausnahmeschauspielers." Ähnlich klar gebaut sind die großen Szenen anderer Protagonisten. Fazit: "Ist Castorfs Kunst der Abschied vom vertrauten Ensemble also gut bekommen? Ehrliche Antwort: Jein. Auf der nach oben  offenen Castorf-Skala handelt es sich bei 'Les Misérables' um ein Erdbeben im mittleren Bereich. Immerhin ist es in den ersten vier Stunden eine umwerfende, oft verblüffende Aufführung."

"Am En­de war­tet man, wie im­mer bei Cas­torf, nur noch dar­auf, dass es end­lich vor­bei ist. Aber der An­fang ist schön und be­rüh­rend", so Simon Strauss in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (4.12.2017). Der al­te Jür­gen Holtz tritt auf und mo­no­lo­gi­siert aus­führ­lich, und "schon in den ers­ten Mi­nu­ten ist der Abend da­mit dort an­ge­kom­men, wo er hin­will: im Dreck, in der Gos­se, bei den 'Elen­den'." Im­mer werde im ers­ten Teil des Abends "durch­aus ernst­haft dar­ge­stellt, ge­lin­gen groß­ar­ti­ge Schau­spiel-Sze­nen". Die dras­ti­sche, we­nig sen­si­ble Art der weib­li­chen Kör­per­füh­rung zeuge da­von, dass sich hier ei­ner von ta­ges­ak­tu­el­len De­bat­ten um Se­xis­mus nicht ver­un­si­chern lässt. "Über­haupt will der Abend mög­lichst oft 'Trotz­dem' sa­gen: Es ist von 'Ras­se' und 'Ne­gern' die Re­de. "Im Ge­gen­satz zu Susanne Ken­ne­dy", schreibt Strauss in der Doppelkritik mit "Women in Trouble", "kann man hier ne­ben al­lem Stoff und Mit­ge­teil­tem im­mer­hin groß­ar­ti­gen Schau­spie­lern bei ih­rem Ver­wand­lungs­spiel zu­se­hen". Fazit: Castorf wolle mit den al­ten Mit­teln der ge­bro­che­nen Dar­stel­lung auf­rüt­teln, lasse sich aber von der ei­ge­nen Lust an der Grenz­über­schrei­tung zu leicht zu­frie­den­stel­len.

Michael Laages schreibt auf der Website von Deutschlandfunk Kultur (1.12.2017): Mit "Nützlichkeitserwägungen" sei Frank Castorfs "voluminöser Ästhetik" nie beizukommen gewesen. Auch der aktuelle Abend wirke so, als habe der "Theatermacher all sein Handwerkszeug und ganz viel technisches Personal in eine große Kiste gepackt" und ins neue "Berliner Ensemble" schleppen lassen, - "alles wie immer".
Castorf erzähle von "Aufruhr und Aufstand über zwei Jahrhunderte" - mit "praktischer Nutzanwendung für die Gegenwart". Er "will, dass wir 'Les Misérables' weiter denken: von Paris bis Havanna" und bis zu Heiner Müllers "Der Auftrag". Dabei seien die ersten anderthalb Stunden, in denen er den Roman "Drei traurige Tiger" von Guillermo Cabrera Infante einbaue, "völlig rätselhaft und ziemlich unzugänglich". Langsam nur gewöhne man sich an die "Spiel-Profile" der Schauspieler*innen. Doch das "mutig gemischte Ensemble" folge dem Regisseur und zeige "mögliche Wege durch dieses Labyrinth" – natürlich werde "wie wild chargiert", wie üblich, doch entstünden dabei eben "wahnsinnig kitschige und wahnsinnig schöne Szenen", wie etwa die zwischen Jürgen Holtz und Andreas Döhler.

Eberhard Spreng schreibt auf der Website von Deutschlandfunk (2.12.2017): Castorf überschreibe das romantische Epos Hugos mit dem Roman "Drei traurige Tiger", collagiere "die Figurenbezüge" und schiebe "literarisches Material ineinander. Live gedrehte Videobilder ließen auf der Bühne "gewaltige Bilder entstehen". Es gebe "einige große spielerische Momente im ersten Teil". Doch trotz der "teilweise bezaubernden Spielleistungen", der "meisterhaften Fügung von Licht, Ton, Bild" und "szenischer Energien", beginne sich die Collage in "unentwegter Überschreibung aufzulösen". Aus "Figurentheater" werde "Ideentheater", dessen Dramaturgie sei "sprunghaft, assoziativ und verliert sich in den Untiefen einer siebeneinhalb-stündigen Vorstellung". Wie immer "eine Überforderung". Erkennbar sei trotzdem eine "klare Gegenposition" zur am Abend vorher gezeigten Premiere von Susanne Kennedy in der Volksbühne. Während Kennedy den Menschen als "periphere Restgröße" in seiner "selbstgeschaffenen Kunstwelt" verschwinden lasse, behaupte Castorf "den Menschen, seine Schuld, sein Leiden, sein Wollen unverändert als einzig relevanten Gegenstand des Theaters". 

Ronald Pohl schreibt auf standard.at (3.12.2017): "Sollte Castorf (...) ein Schöpfungsgott sein, so herrscht in seiner Welt jedenfalls eine wundersame Vervielfachung der Population." Mit der Überlagerung der Schauplätze gerieten auch "die Gedanken in Kollision". Die Ereignisse überschlügen sich, die Umrisse der Figuren "verdicken, verdoppeln und verdreifachen sich". Wie immer bringe Castorf "seine Darstellungsanarchisten" dazu, sich gegen das "über sie (als Figuren) verhängte Schicksal wüst aufzulehnen". Sie sprächen dann in "dadaistischen Zungen", oder rezitierten aus Heiner Müllers "Der Auftrag". Jedenfalls aber zahlten "vornehmlich die Frauen", die "Zeche für die Schwäche der menschlichen Natur". Die "Tobsucht des Schauspielers" könne eine "Produktivkraft" sein. Stefanie Reinsperger, "Österreichs Geschenk an das Berliner Ensemble", walze als "ekstatische Wirtin jeden Einwand platt". Es "verrinnen die Stunden". Man habe, "überhaupt nach 24 Uhr, allen Grund, sich zu fragen: Wache ich, oder träume ich?" Die Kamera vergrößere die Gesichter, und "man meint, ein Heer von Wiederauferstandenen beim Possenreißen zuzusehen". Doch: "Castorfs Theater belebt tot geglaubtes Papier", indem die Schauspieler zeigen, dass sie nur spielen. "Aber eben so, als hätten sie das Theater in der Sekunde neu erfunden". Fazit: "Gott ist nicht verreist, aber er ist von der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz weitergezogen in das nahe BE."

Im Berliner Tagesspiegel (3.12.2017) nimmt Rüdiger Schaper endgültig Abschied vom Held seiner Kritikerjahre. Sein Text beginnt so: Erfahrung mache "schmerzresistent". Alte Liebe helfe dabei. Sonst würde man nicht siebeneinhalb Stunden Castorf-Theater aushalten, ohne "verrückt oder aggressiv oder willenlos" zu werden. Einerseits.
Andererseits: Sei es nicht "die totale Bankrotterklärung eines Künstlers", wenn es sich nur noch darum drehe, mit "der ewig gleichen Technik des Aus- und Niederwalzens radikale Positionen zu behaupten? Wenn es allein ums Durchhalten und Weitermachen geht?" Wenn "Themen, Stoffe, Figuren" bloß noch die Staffage bildeten für "präsenile Schlaflosigkeit", die sich bei "Frank Castorf mit einem unverbrüchlichen jugendlichen Zynismus" verbinde?
Insgesamt: "Kreischen, kriechen, zappeln, zerren. Eine Brüllerei, Stunde um Stunde." Zunehmend "unbeholfen, hölzern" sähen diese "Castorf’schen Kultveranstaltungen" aus. Und die Rollenklischees hätte lange ihre "Leichtigkeit" verloren: "die Frauen hysterisch und nuttig", die Männer "nervös und doch irgendwie obenauf. Peinlicher Altmännerstil!"
Erzählt werde nichts. "Das Chaos hat immer nur einen anderen Namen." Die "Welt ist scheiße, der Mensch nichts wert". Reichte da nicht eine lange Stunde aus, "da man ohnehin nichts versteht und auch nichts verstehen soll?"

Ulrich Seidler resümiert auf dem Online Portal der Berliner Zeitung (2.12.2017): Der "zunehmend fahrig" gewordene Abend breche am Ende willkürlich ab. Man hätte zwei oder drei Stunden "eher Schluss machen" sollen. Das "Quantum an verkraftbarem Theaterglück" sei da längst erreicht gewesen.
Das erste Glück des Abends sei Jürgen Holtz' mit Grandezza vorgetragener Monolog über die Pariser Abwässer. Aber natürlich bleibe es nicht bei dieser Konzentration. Castorf springe durch den Stoff, haue andere Textflächen dazwischen, "Der Auftrag" bilde den Grundakkord. An der verratenen Revolution beiße Castorf sich fest, "an den letzten Worten vor der gehassten indifferenten hiesigen Gegenwart". Die Kostüme von Adriana Braga Peretzki bedienten "mit sicherem Schwung jedes sexistische Klischee" und machten die Spieler "schön, groß, besonders". Die schauspielerischen (Wieder-)Begegnungen der neuen und alten Castorf-Spielern seien "größtenteils beglückend". Die "Wucht von Stefanie Reinsperger, die Dreckfressigkeit von Aljoscha Stadelmann und der Spielzorn von Andreas Döhler springen in die Castorf-Welt, als hätte sie nur auf sie gewartet".

Anke Dürr schreibt auf Spiegel Online (2.12.2017): Es gehöre zu Castorfs Methode, die "auf Europa konzentrierten Romane und Stücke" des 18. und 19. Jahrhunderts, mit einer "außereuropäischen Perspektive zu kreuzen", um darin die "sozialen und politischen Fragen" zu spiegeln, so auch dieses Mal. Der Wachturm eines Gefängnisses auf der Aleksandar-Denic-Bühne ließe sich etwa mit Guantanamo in Verbindung bringen. Viel habe sich im Castorf-Kosmos ohnehin nicht verändert. Die Bühne im BE sei kleiner als die der Volksbühne, zu mehr Konzentration führe das nicht. Der Ensemblegeist der Volksbühne scheine indes auch an der neuen Wirkungsstätte zwischen alten und neuen Spielern des Regisseurs zu funktionieren. In seiner zweiten Hälfte zerfasere der Abend zusehends. Sei die Tatsache, dass "man der Handlung bald immer weniger folgen kann und mag, der nachlassenden Energie der Inszenierung geschuldet, oder ist es nur die eigene Müdigkeit?" Immer wieder blitzten einzelne schauspielerische Glanz-Momente heraus, der Roman allerdings gerate zunehmend aus dem Blickfeld - und scheinbar auch "das Wissen darum, was man mit ihm erzählen wollte". Beim überraschenden Blackout am Schluss fragte man sich, weshalb Castorf nicht schon Stunden früher das Licht ausgeschaltet habe.

"Frank Castorf ist schon lange kein Regisseur im alten Sinn mehr, sondern eher ein Romanleser, welcher die inneren Bilder, die ihm seine Lektüre verschafft, mit Schauspielern nachstellt", bemerkt Peter Kümmel in der Zeit (7.12.2017). Außerdem sei er er ein Kindskopf geblieben, "er hat unbändige Freude an dem Spielzeug, das ihm vor ewigen Zeiten in die Hände gefallen ist: dem Theater". In Castorfs Elenden würden viele Wortspiele gemacht. Kümmel könne sich an kein einziges erinnern, aber es sei ihm am Ende des Abends ein Satz von Elias Canetti eingefallen, den er nun endlich begriffen habe. "Der Satz lautet: 'In Sprachspielen verschwindet der Tod.' Im Grunde ist, was Castorf tut, ein einziges Sprachspiel, mit dem er den Tod zum Verschwinden bringt – wenigstens für ein paar Stunden."

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