Das Ministerium der verlorenen Züge - Viktor Bodó inszeniert die Uraufführung des Stücks von Péter Kárpáti über eine Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn
Es fährt ein Zug nach Nirgendwo
von Shirin Sojitrawalla
Frankfurt, 1. Dezember 2017. Im Programmheft findet sich ein Fake-Fahrschein für die Transsibirische Eisenbahn. Darüber eine perforierte Linie und ein Scherensymbol plus der Hinweis: "Bitte abtrennen, gut verwahren und auf Verlangen vorzeigen!" Damit ist das Humor-Niveau des Abends grundlegend beschrieben. Man fasst es nicht.
Im Zentrum steht eine Reise in der Transsibirischen Eisenbahn. Zur Vorbereitung ist gleich ein ganzes Team rund um den Regisseur Viktor Bodó mit dieser legendären Bahn von Moskau nach Peking gefahren. Mitgebracht haben sie Geschichten, die sich um Zigaretten, Wodka und Gurken drehen. Der Autor Péter Kárpáti hat daraus eine Art Text gemacht und Viktor Bodó wiederum daraus einen leidlich lustigen Theaterabend.
Und das, obwohl man allen Reiseteilnehmern, also auch den Zuschauern in der Dritten Klasse (höhö), zu Beginn des Abends verspricht, es stehe eine aufregende, unterhaltsame und abenteuerliche Reise bevor. Pustekuchen. Zwei Stunden lang ruckelt der Abend vor sich hin und bemüht sich sehr um Bizarrheit. Das führt etwa dazu, dass zuweilen eine Charlie-Chaplin-Figur in Unterhose und Frack hineinschneit oder auch einmal zwei Eisbären.
Denn des poetischen Titels zum Trotz kommt die Inszenierung sehr vehement daher und erweist sich als ungefähr so nachhaltig wie ein Twix. Dass manch ein Einfall verzweifelt wirkt, ist nicht zu verhehlen. Nach dem Motto "Da muss doch noch was kommen!" biegt mal ein Gabelstapler um die Ecke und befördert zwei der Akteure in luftige Höhen, am Ende dann braust ein leibhaftiges Auto hinein. Schlimmer wiegt das Rattern pointenloser Pointen, die sich gern um Zigaretten, Wodka und Gurken drehen. Die Akteure stranden dabei schon mal in angestrengten Grimassen, wobei sich der Abend oft unelegant und altbacken ausnimmt.
Die ewige Birke
Dabei sieht alles immens gut aus: Juli Balàzs hat eine täuschend echt aussehende Eisenbahn auf die Bühne im Bockenheimer Depot, das passenderweise in einem früheren Leben mal ein Straßenbahndepot war, gestellt. Als es richtig losgeht, die Bahn also losfährt, öffnen sich die Außenwände zur Seite, verwandeln sich so in die Gänge im Inneren der Eisenbahn. An den Fensterfronten wie im Hintergrund und auch über der ganzen Szenerie ziehen auf Leinwänden die Landschaften vorbei, welche die Bahn passiert. Immer wieder sind das Birkenwälder (was sonst?), aber auch betörend schöne Ansichten des Baikalsees und graue Häuserfronten. Die wendige Kamerafrau Ágnesh Pàkozdi filmt zudem live auf der Bühne, zumeist groteske Nahaufnahmen der handelnden Figuren.
Im Mittelpunkt der dürftigen Geschichte steht Moritz aus Frankfurt (Sebastian Reiß), der ein Drama mit dem Titel "Das Ministerium der verlorenen Züge" schreibt. Darin nutzt er die Eisenbahnfahrt als Metapher für Übergänge und Grenzbereiche aller Art. Um diese Zwischenreiche eines Nicht-Hier und Nicht-Dort geht es wohl auch Bodó. Das Ziel bleibt immer der Weg. Das Eisenbahnabteil wird zum Unort, an dem alles möglich ist, weil nichts wirklich geschieht. Bodó verschneidet das mit amerikanischen Unterhaltungsmythen. Mal stimmt eine der Frauen einen Song aus dem Musical "Chicago" an, mal fliegt Superman vorbei. Dann wieder ertönt, weil es atmosphärisch so gut passt, russisches Liedgut.
Seltener Zauber
Immer wieder verlässt das Stück zudem die Bühnenrealität und schaltet in den Arbeitsmodus. Da erheben dann die Souffleuse oder auch der Inspizient ihre Stimmen. Das klingt interessanter, als der Abend sich ansieht. In Wahrheit erahnt man nur in seltenen Momenten den Zauber der ganzen Unternehmung.
Das geschieht etwa, wenn die umwerfende Schauspielerin Melanie Straub die Szenerie betritt und gespenstergleich eine fein poetische Liebesgeschichte mit Moritz spinnt, zart und windschief. Oder wenn Peter Schröder mit verrückter Verspieltheit die unterschiedlichen Geräuschebenen beim Zugfahren auseinander dividiert. Ach, von solchen Momenten hätte dieser ruppig flache Abend wirklich mehr vertragen.
"Nein, nein, ich weine nicht, ich bin nur müde." So spricht an einer Stelle die von Katharina Linder schön stramm gespielte Schaffnerin. Ihrem Bekenntnis ist an dieser Stelle nichts hinzuzufügen.
Das Ministerium der verlorenen Züge
von Péter Kárpáti, Deutsch von Sandra Rétháti
Uraufführung
Regie: Viktor Bodó, Bühne: Juli Balázs, Kostüme: Ildi Tihanyi, Musik: Klaus von Heydenaber, Sounddesign: Gábor Keresztes, Video: Ágnesh Pàkozdi, Chorleitung: Yuriy Shunevych, Dramaturgie: Anna Veress, Alexander Leiffheidt, Licht: Tamás Bányai.
Mit: Sebastian Reiß, Katharina Linder, Nicoles Matthews, André Meyer, Torsten Flassig, Peter Schröder, Melanie Straub, Luana Velis, Nelly Politt.
Statisterie und Chor: Philipp Beljaev, Michael Broschat, Anel Hunnius, Joel-Conrad Hieronymus, Natalja Melnik, Mykolas Nechajus, Jannika Nordhauß, Anastasiya Rudyk,Yauhen Sarmont, Swen Schneider-Wentrup, Angelina Selvivanova, Elena Shunevych.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.schauspielfrankfurt.de
"Die Dinge entwickeln sich hier nicht subtil, eher als Klamotte, als hyperoberflächliche, also schon reflektierte, aber absichtlich unreflektiert wirkende Klamotte", beschreibt in der Frankfurter Rundschau (4.12.2017) Judith von Sternburg ihren Eindruck von diesem Theaterabend. "Eine Klamotte, in der Tat. Bodó lässt nicht nur Filme mitlaufen und mitfilmen, er schickt auch die Spieler in Zeitlupen und kann die Rücklauftaste drücken". Ein Coup der Aufführung ist aus Sicht der Kritikerin Katharina Linder als Schaffnerin Olga Fjodorowna, "die melancholische und erbarmungslose, technokratische und mythische (ewige), unterkühlte und leidenschaftliche Herrin über Schokoriegel und Rauchmöglichkeiten. Sie bietet mehr Doppeldeutigkeit als das ganze Unterfangen zusammen. Auf seine Weise ein riskantes Theater der ausgefeilten Harmlosigkeit, aber auch ein Antiwichtigtuereitheater, aber nun ist es auch genug damit."
Aus Sicht von Stefan Benz von der Rhein-Main-Presse (4.12.2017) hat "Bodós Team viele Stereotypen als Souvernirs von der Recherche mitgebracht. Gäbe es da nicht ständig Wodka, Gurken und einen heißen Samowar, eine unergründlich strenge Schaffnerin (Katharina Linder) sowie Passagiere, die gemütvoll singen und Balalaika spielen, müsste man denken, dass dieser Zug fahrplanmäßig unterwegs ist in die Stadt Einerlei im Lande Egalien."
"Eine Fülle von Einfällen erfreut das Publikum", schreibt Michael Hierholzer im Lokalteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (4.12.2017) über den Abend, der aus seiner Sicht "eher einer surrealen Revue mit vielen komischen Momenten gleicht als einem herkömmlichen Theaterstück" gleicht. "Transit, Übergang, Reise, Ziellosigkeit, das ist das Leben. Und selten einmal wurde das so amüsant verhandelt."
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