An der Grenze zur Farce

von Gerhard Preußer

Essen, 1. Dezember 2017. Eine Gruppe unter Entscheidungszwang, ein Eindringling kommt hinzu, schon entfalten sich alle latenten Konflikte. Ist die Gruppe heterogen genug, eignet sie sich zum Bild für die Gesellschaft: Deutschland ist eine Baugruppe, ein Elternabend oder eine Wohngemeinschaft – das Ganze im Kleinen, das hat sowohl eine individualpsychologische Dimension als auch eine politische. So legen Lutz Hübner und Sarah Nemitz viele ihrer Stücke an.

 "Willkommen" ist seit Frau Müller muss weg ihr erfolgreichster Text – in dieser Spielzeit an 13 Theatern –, weil es den Kernpunkt der politischen wie privaten Diskussion trifft: die sogenannte "Flüchtlingskrise". Es ist geschrieben in der publikumswirksamsten Form: als pointenstrotzendes Dialog-Stück mit heiter-unverbindlichem Ende.

Das Milieu ist dialogfreudig: sich selbst reflektierend wie die Dramenschreiber, immer ihr eigenes Kommunikationsverhalten kommentierend. Der Witz kommt oft über die Metaebene. Eine wortgewandte Wohngemeinschaft der wohlhabenden Singles. Die Figuren des Stückes sind flache Typen. Das kann man herunterspielen oder übertreiben. Entscheidend ist das Maß. Man kann aus dem Stück weder einen Tschechow noch einen Vitrac machen. In Essen entscheidet man sich für die Übertreibung. Was die Sorge minimiert, ob das Publikum auch wirklich lacht. Keine Lachkonserven nötig.

Willkommen 2 560 Birgit Hupfeld uDer WG-Rat tagt: Henriette Hölzel, Halil Yavuz, Stephanie Schönfeld, Jan Pröhl © Birgit Hupfeld

Im Zentrum steht Dozent Benny (Jan Pröhl), dessen Zimmer frei wird, weil er einen Lehrauftrag in New York bekommen hat. In das freie Zimmer will er Flüchtlinge einquartieren. Dieser Dampfplauderer und Schaumschläger nimmt sich viel Raum, und verfügt über ein begrenztes und jeweils eindeutiges Repertoire an Gestaltungen seiner Gesichtsoberfläche. Daneben kann Bankbetriebswirt Jonas (Stefan Figge) nur den tumben Jungen spielen, der die Augenbrauen hochreißt oder zusammenzieht.

Die Frauen sind weniger auffällig typisiert: Sophie, die Hauptmieterin der Wohnung und Ex-Geliebte Bennys (Silvia Weiskopf), ist eine schalbewehrte Empfindsame, Doro (Stephanie Schönfeld) die ehrliche Schlampe. Und Anna (Henriette Hözel), die verkündet, dass sie schwanger ist, eine übernervöse Studentin mit beschränktem Horizont. Der Konfliktkatalysator ist Annas Freund Achmed (Halil Yavuz), ein hemdsärmeliger Deutsch-Türke. Den will die autochtone WG nicht haben. Man will weder Kinder noch Neubürger, nur Gäste, die auch wieder gehen. Raum gibt es in dieser komfortablen Herberge nur für die Tischtennisplatte.

Keine Angst vor Deutlichkeit

Nach der Düsseldorfer Uraufführung ist diese Inszenierung nun die nächste in der Nachbarschaft. Statt Düsseldorf zeigt der Bühnenprospekt die Skyline Essens (Bühne: Ulrich Leitner). Die Regie Thomas Ladwigs im Grillo-Theater treibt die Boulevard-Theater-Effekte bis an die Grenze zur Farce. Aber eben nur bis an die Grenze. Was machen schwangere Frauen in der siebten Woche? Sich erbrechen. In einen Kochtopf, und der wird dann herumgereicht, fast löffelt Sophie ihn aus, dann stürzt Jonas mit dem Topf über das Geländer des Balkons. Slapstick mit sicherem Ekelgekicher des Publikums. Was machen junge Verliebte? Wälzen sich in Kopulationsstellung auf dem Küchentisch. Keine Angst vor Deutlichkeit.

Willkommen 1 560 Birgit Hupfeld uDieses Stück passt auch vor die Essener Skyline: Silvia Weiskopf, Henriette Hölzel, Jan Pröhl,
Stefan Migge © Birgit Hupfeld

Jede Figur hat ihren Bekenntnismonolog. Bennys idealistische Rhetorik zu Beginn tut man schnell als opportunistisch ab. Annas überdrehte Hysterie hindert den Nachvollzug ihrer Gewissensprüfung. Doros verzweifeltes Gutmenschentum wird durch ihre Verhärmtheit der Lächerlichkeit preisgegeben. Nur Doros und Achmeds Monologe sind komplex genug, dass sie den Humorpanzer durchstoßen. Doro legt schonungslos den Widerspruch zwischen ihrer privaten, aggressiven Ablehnung von Flüchtlingen als Individuen und ihrer öffentlichen Toleranz gegenüber Flüchtlingen als politischem Phänomen offen. Achmet zeigt die vergrabene Verletzlichkeit des bestens integrierten Türken zweiter Generation. Da wird das Gelächter zur Erkenntnis. Etwas undeutlich Gefühltes wird zur Betrachtung ausgestellt. Das macht das Stück haltbar. Es wird die Strapazen des deutschen Stadttheaterbetriebs bewältigen. So stabil konstruiert, kann es alle Aufführungen überleben. Auch die im Schauspiel Essen.

 

Willkommen
Komödie von Lutz Hübner und Sarah Nemitz
Regie: Thomas Ladwig, Bühne und Kostüme: Ulrich Leitner, Dramaturgie: Vera Ring.
Mit: Silvia Weiskopf, Stephanie Schönfeld, Henriette Hölzel, Jan Pröhl, Stefan Migge, Halil Yavuz, Sven Seeburg.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.schauspiel-essen.de

 

Kritikenrundschau

"Das Stück arbeitet mit Vorbehalten und Erfahrungen, ohne sie auflösen zu wollen", schreibt Achim Lettmann im Westfälischen Anzeiger (5.12.2017). 'Willkommen' sei eine Komödie, die Unterhaltungsstrategien ins Feld führe und keine Anklage ins Publikum schieße. "Es gibt hitzige Höhepunkte. Redepausen. Streitkultur." Eine Male zeige Regisseur Ladwig, wie das Stück auch zur Farce werden könnte.

"Mit einem grandiosen Ensemble waschechter Komödianten, die sämtlich ihre Rollen ernst nehmen und – im Gegensatz zum Boulevard – keine Person und keinen Standpunkt der Lächerlichkeit preisgeben, inszeniert Ladwig auch da noch mit scheinbar leichter Hand, als rundum die Fetzen fliegen und wirklich jeder sein Fett abbekommt", schreibt Pitt Herrmann in den Sonntagsnachrichten Herne (2.12.2017). 'Willkommen' habe etwas von Aristotelischer Katharsis. Und wenn die noch so turbulent, so slapstickhaft herüberkomme wie jetzt am Schauspiel Essen, dann sei trotz der politisch-gesellschaftlichen Brisanz des Stoffes ein Publikumsrenner entstanden, der ausverkaufte Vorstellungen verspreche.

"Zugespitzte, hochkomische Dialoggefechte, die dank ihrer dichten Pointensalven beim Publikum bestens ankommen", lobt Martina Schürmann in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (4.12.2017). "Überdrehte Klischees, reflektierte Ressentiments und Diskussionen ohne Zeigefinger: Wenn Hübner und Nemitz dem Publikum dem Spiegel vorhalten, dann kann man darin die zwei Gesichter einer Gesellschaft zwischen moralischem Weltverbesserungs-Furor und Wohlstands-Egoismus erkennen." Ladwig inszeniere das Stück mit Timing, Tempo und klarem Bekenntnis zum Boulevard.

 

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