Beute Frauen Krieg - Am Schauspielhaus Zürich führt Karin Henkel das Leid der Frauen aus "Die Troerinnen" und "Iphigenie in Aulis" zusammen
Gebt mir meine Kinder wieder
von Valeria Heintges
Zürich, 2. Dezember 2017. Ein Raunen, ein Murmeln. "Alle niedergemetzelt", sagt eine, "einer nach dem anderen". "Gebt mir meine Kinder wieder", eine andere. Sie laufen im Kreis, gebeutelte Gestalten. Ein Kind geht den Steg entlang, der den Zürcher Schiffbau durchmisst, zieht ein Papier-Pferd hinter sich her. Die Leidenden sind die Frauen von Troja, nur sie haben die Nacht überlebt, in der die Griechen aus dem Pferd krochen und die schlafende Stadt eroberten.
Ihr Schicksal fächern Karin Henkel und ihr Inszenierungsteam in "Beute Frauen Krieg" auf, indem sie die Euripides-Texte "Die Troerinnen" und "Iphigenie in Aulis" kombinieren, den einen in der Fassung von John von Düffel, den anderen in der von Sören Voima.
Weibliche Plastikwesen
"Sie haben nicht gesiegt, sie haben gemordet", sagt Hekabe, die gefallene Königin. Lena Schwarz gibt diese verzweifelte Mutter, mehr tot als lebendig streicht sie wie ein Schatten umher. Der Ton ist sofort gesetzt: Trauer. Gewalt. Keine Hoffnung, nirgends. Nur immer mehr Details von immer mehr Horror. Dann senken sich zwei Wände hinab, dreiteilen den langen Raum. Jetzt werden drei Szenen synchron gezeigt, die sich das Publikum gruppenweise hintereinander anschaut: Das Machtzentrum in der Mitte mit Helenas Schicksal, der Fall von Hekabes Tochter Kassandras auf der einen, der ihrer Schwiegertochter Andromache auf der anderen Seite.
Eine, die sich nur für ein Sexsymbol hält: Hilke Altefrohne als Helena in "Beute Frauen Krieg"
© Toni Suter / TT Fotografie
Helena, in doppelter Ausführung: Hilke Altefrohne und Isabelle Menke in identisch rosa Lederröckchen, rosa Oberteil, rosa High Heels, blonder Mähne und mit identischem Plastik-Wesen. Sie sei nur ein Sexsymbol, erklären sie im Duett, mit ihr persönlich habe das nichts zu tun. Ihrem Gatten Menelaos, den Christian Baumbach leicht dümmlich und mit (Goebbels´?) Hinkebein spielt, erklärt sie, es sei alles nur Geschacher, sie nur Opfer. Sie werden alle einen anderen Schuldigen finden an diesem Abend. Recht häufig ist es die Hure Helena, mal Menelaos, mal Hekabe, mal Agamemnon, weil der sich in den Krieg treiben ließ und sogar seine Tochter Iphigenie für günstige Winde opferte.
Hohe letzte Worte
Hekabe schleicht wie ein Schatten durch die Helena-Szene, Andromache bringt von der anderen Seite ihr ermordetes Kind, Kate Strong platzt als dritte Helena herein. Dann wird gewechselt: "Gehen Sie jetzt bitte zu Kassandra!" Sie, die Priesterin, die Seherin, haben die Griechen auf den Stufen des Altars vergewaltigt. Von ihr ist nur noch eine Puppe übrig. Mechanisch bewegt Dagna Litzenberger Vinet ihre Gliedmassen, dreht sich auf dem Podest vor dem Glitzervorhang, spielt traumatisch, nahe am Wahnsinn und doch mit klarem Seherinnenblick.
Kate Strong (als Hetäre), Dagna Litzenberger Vinet (als Kassandra) © Toni Suter / TT Fotografie
"Ihr habt den Göttern ins Gesicht gespuckt und euch die Hölle erschaffen", prophezeit sie Agamemnon. Zynisch lehrt sie Hetäre, erfrischend normal gespielt von Kate Strong, das Kleid von Agamemnons Tochter Iphigenie zu tragen und deren letzte Worte auf dem Opferaltar zu sprechen. Michael Neuenschwanders Agamemnon wackelt ständig mit dem Kopf und redet Kassandra mehr debil als wahnhaft mit Iphigenie an. Kaum zu glauben, dass diese Frauen mit diesen Männern so schweres Spiel haben sollen.
In Lügen verstrickt
Hekabes Schwiegertochter Andromache liegt hinter Pappkartons. Nur noch ein Stück Fleisch sei sie, nachdem man ihr den Gatten Hector tötete. Unbeweglich, ausgehöhlt, innerlich gestorben schaut Carolin Conrad zu, wie auch noch ihr Säugling brutal ermordet wird.
Zwei Kindsmorde rahmen diesen Krieg ein, der an Hekabes kleiner Tochter Polyxena am Ende des Krieges. Und die Opferung von Iphigenie, mit der alles begann. Die wird nach der Pause wieder fürs geeinte Publikum gespielt, lediglich durchbrochen mit – vorausschauenden – Berichten von der Angst der Griechen im trojanischen Pferd. Immer mehr wird geredet. "Ich habe sie mit Argumenten getötet in meinem Wahn", erkennt Agamemnon. Er verheddert sich in Lügen und kann auf die simplen Fragen, die Kate Strongs Hetäre ihm hinwirft, nicht antworten. "You are a fake, Agamemnon", sagt sie, "you are the war."
Mit immer neuen Varianten von Leid und Wahn und Schuld dreht sich dieser Abend im Kreis. Zeigt immer neu wie sehr die Frauen Beute und Opfer sind, wie sie leiden, als Mutter, als Ehefrau, als Tochter. Wie sich die Kriegstreiber in Lügen und sinnlosen Diskussionen verstricken, bis sie nicht mehr herauskommen und ins Verderben rennen. Und wie sie alle, ausnahmslos alle, nur im anderen den Schuldigen finden.
Ermüdend wiederholend
Die Gleichzeitigkeit der Spielszenen holt den Krieg ganz nah heran, zeigt die Gleichzeitigkeit aller Varianten des Krieges, auch jetzt, in diesem Moment, irgendwo auf der Welt. Der Anfang ist am Schluss, das Ende bricht in den Anfang – es ist egal, weil das Ende dem Anfang entspricht, weil am Anfang und am Ende ein Kind sinnlos geopfert wird.
Der technische und organisatorische Aufwand ist enorm. Die schauspielerische Leistung auch. Das beeindruckt. Das erschlägt. Das ermüdet auch in seiner Wiederholung. Und das ärgert zuweilen, weil es die Männer zu oft dümmlich und nicht als Kontrahenten, nicht als echte Gegner für die Frauen zeichnet: Als ob sich nicht der freundliche Nachbar im Handumdrehen in den gewalttägigen Fanatiker verwandeln könnte.
Beute Frauen Krieg
Ein Zyklus im Schiffbau
Fassung unter Verwendung von "Die Troerinnen" von John von Düffel nach Euripides (Interlinearübersetzung Gregor Schreiner) und "Iphigenie in Aulis" von Soeren Voima nach Euripides
Regie: Karin Henkel, Bühne: Muriel Gerstner, Kostüme: Teresa Vergho, Musik: Arvild J. Baud.
Mit: Lena Schwarz, Carolin Conrad, Dagna Litzenberger Vinet, Hilke Altefrohne, Kate Strong, Isabelle Menke, Michael Neuenschwander, Christian Baumbach, Milian Zerzawy, Fritz Fenne.
Dauer: 2 Stunden 40 Minuten, eine Pause
www.schauspielhaus.ch
"Es ist ein fast dreistündiger zornerfüllter Schmerzensschrei über 'die Gewalt, die war; und die ist'", schreibt Alexandra Kedves im Tagesanzeiger (4.12.2017). Seien die Frauen sonst dazu verdammt, ihre hingemetzelten Väter, Männer, Brüder, Söhne, geopferten Kinder zu beweinen, "dürfen sie hier hinterfragen und aufbegehren. Und mit ihnen begehrt die Regisseurin auf – bravourös." Henkel verwebe das Weh auf beiden Seiten der Frontlinie des Trojanischen Kriegs in eins und schlage in dieses Dickicht einen Passionsweg, "der keine Läuterung bringt". Fazit: "Zumindest bis zur Pause rast das Herz ungebremst mit. Erst gegen Ende beruhigt und verlangsamt sich der Puls. Das ist es auch egal, dass Karin Henkel ihre beste Zürcher Arbeit (bis zur neuen), 'Elektra' von 2013, recht ähnlich in den Schiffbau hineincollagierte. Bei 'Beute Frauen Krieg' heisst es: zugreifen!"
Dass die Schiffbauhalle auch Hörspielstudio oder Peepshow sein könne, sei nicht neu, "aber selten so einsichtig wie hier zu Gehör gebracht" worden, schreibt Daniele Muscionico in der Neuen Zürcher Zeitung (4.12.2017). Großes werde an diesem Abend verhandelt: "ein Kammerspiel über weibliche Opferung und Opferhaltung", ein "Antikriegsknaller frei nach Euripides", den die Kritikerin einen "Frühfeministen" nennt. "Was hätte aus diesem Abend alles werden können! Ein moralisches Lamento vor allem über richtige und falsche Deutungshoheit der Geschichte." Doch Henkel nehme Euripides "zu ernst, um es sich einfach zu machen. (…) Sie rahmt ihre Lesart ein in das Schicksal zweier unschuldiger Mädchen." Der "Schwachpunkt des Abens" sei die schwache Persönlichkeit der männlichen Helden. "Im Übrigen, zugegeben, sind weibliche Regie-Cleverness und Ensembleleistung so stark, dass ihr Fehlen ein Fehler ist, den man gerne übersieht."
Henkel arbeite, so beschreibt Martin Halter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (7.12.2017), "mit einer multiperspektivischen Bühnenarchitektur: Alles geschieht gleichzeitig, das Publikum muss wandern, die Mikroports erlauben auf der Bühne ein leises Schreien", was "den Trümmerfrauentragödien eine kammerspielartige Intimität und Intensität" gebe. "Aber die Verdreifachung des Grauens und die Wiederholungsloops führen auch zu einer gewissen Übersättigung und emotionalen Überforderung. (…) Irgendwann beginnt das Weh- und Klagegeschrei doch auch hier zu ermüden." Die Schauspielerinnen seien "durchweg stark", die Männer müssten sich hingegen "naturgemäß mit der undankbaren Rolle von Kriegshetzern und hirnlosen Kommissköpfen begnügen. (…) Die Heroisierung der weiblichen Opfer auf Kosten der männlichen Täter ist dann aber doch ein zu leicht errungener Sieg im trojanisch gegenderten Krieg."
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Damit beraubt man die ganze Erzählung ihrer Fallhöhe, alles wird eindimensional und auch die Frauenfiguren können kein Profiel mehr entwickeln, weil es kein ernstzunehmendes Gegenüber gibt. Wieso???
Wieso geschieht dies bei Regieseurinnen sooft??
Bei Barbara Frey's Arbeiten ist die Verwaschlappung der Männerfiguren genauso zu beobachten. Es mag ja sein, dass die Männer letztendlich 'Waschlappen und aufgeblasene Idioten' sind, aber wenn man mir das als Zuschauer von Beginn zentimeterdick aufs Brot schmiert: wie langweilig!!!
Dadurch bleibt der Abend vollkommen unterkomplex..... Ärgerlich.
Die Perspektivenverschiebung hin zum Leiden der Opfer ist keine neue Idee: Meisterhaft hat Christa Wolf in ihrer „Kassandra“ das mythische Heldenbild des Achill dekonstruiert, der konsequent nur „Achill, das Vieh“ genannt wurde. Die Frauen als Opfer von Vergewaltigungen und als Trophäen rückte auch Tina Lanik ins Zentrum ihrer „Troerinnen“-Inszenierung am Münchner Residenztheater (nach der Euripides-Bearbeitung von Sartre).
Das Bemerkenswerte ist die Intensität, mit der die nicht sonderlich komplexe Grundthese des Abends in eindrucksvollen Szenen entfaltet wird.
Nach der Pause wird die gesamte Arena bespielt: Kate Strong wuselt zwischen den Feldherrn hin und her und stellt in ihrem markanten Denglisch kritische Fragen. Sie ist die Stimme der Vernunft, fragt nach dem Warum, regt sich über Agamemnons Entscheidung auf, Iphigenie in den Opfertod zu schicken, bekommt aber keine Antwort. Der Kreislauf der Gewalt geht weiter. Opfer sind beide Geschlechter: die fünf Iphigenien, die sich auf einer Drehbühne im chorischen Loop in den Tod fügen. Aber auch die männlichen Krieger, die loopartig ihre Angst vor Dunkelheit und Enge im Trojanischen Pferd wiederholen.
Komplette Kritik: daskulturblog.com/2018/05/08/beute-frauen-krieg-duesterer-abend-von-karin-henkel-ueber-den-trojanischen-krieg/
Da hilft es, dass wenigsten die Männer noch holzschnittartiger daherkommen. Von Baumbackhs komplexbeladenem Sandkastencholeriker Menelaos war schon die Rede, Michael Neunenschwanders Agamemnon, ein weißes Politiker-Blatt, das sich nach dem Wind dreht und keinerlei Charkterkern aufweist, geht es da nicht besser. Und Odysseus ist in Fritz Fennes schwarzpuloveriger Darstellung eine Mischung aus Handlanger für die Schmutzarbeit und kühl berechnender Propagandist, der die erfundenen Wahrheiten so lange wiederholt, bis es keine anderen mehr zu geben scheint. Ihnen gehört der zweite, sehr viel kürzere, nun auf der Weltbühne spielende Teil. Dass Kate Strong als wandelndes Störfeuer um sie herumwuselt und die Fragwürdigkeit ihres Redens und Handelns, ihren Zynismus, ihre Heuchelei, ihre Rücksichtslosigkeit ironisch anprangert, ist leider keine willkommene Gegenstimme, sondern in ihrer Zurschaustellung dessen, was sich aus der puren Beobachtung der Alfamannparade ablesen ließe, eher kontraproduktiv, als traue Karin Henkel es dem Punlikum nicht zu, selbst zu interpretieren und zu konkludieren.
Diese letzte Klischee-Halbestunde von der Gewalt und Vergeblichkeit männlicher Machtsucht – Odysseus‘ Berichte von der Angst des Mannes im Pferdebauch werden wirksam in die Iphigenie-Intrige geschnitten – ist überflüssig, unterstreicht nur noch einmal, wo der Abend dies ohnehin schon tut. BEUTE FRAUEN KRIEG ist eine über weite Strecken durchaus intensive Blickumkehrung, eine atmosphärisch starke Sezierung der Mechanismen, die hinter den Geschichten stehen, die wir nur allzu oft als Geschichte missverstehen. Er hätte jedoch der Kraft dieses Blickes, der Macht dieser Nahsicht stärker vertrauen, sich weniger in Eindeutigkeiten ergehen und ein wenig weiter um die Kernthese herumtänzeln können. So leidet er etwas an der Dominanz seiner Konstruktion und traut sich nicht recht zu spielen. „Nicht auf die Helenas treten!“ warnt eine Stimme beim Zuschauerwechsel zur nächsten Station. Es könnte auch als Motto über diesem Abend stehen.
Komplette Rezension: stagescreen.wordpress.com/2018/05/10/nicht-auf-die-helenas-treten/