Sieben - Zu Songs von Susanne Betancor und in der Regie von Antje Siebers klappert das inklusive Berliner Theater Thikwa den Sündenkanon ab
Die Hölle hat geschlossen
von Janis El-Bira
Berlin, 6. Dezember 2017. Nein, es wird kein abgetrennter Kopf im Pappkarton überreicht werden an diesem Abend. Es wird auch kein Vielfraß zu Tode gemästet und kein gieriger Staranwalt verendet an den Folgen einer Selbstverstümmelung. Nein, in diese Abgründe steigt "Sieben" am Berliner Theater Thikwa niemals hinab – Namensgleichheit und thematische Verwandtschaft mit dem berühmt-berüchtigten Kevin-Spacey-Schocker von 1995 hin oder her.
Denn die sieben Todsünden, denen sich die Performer hier, an einer der wohl bekanntesten Stätten für inklusives Theater in Deutschland, widmen, sind natürlich längst in den lässlichen Bereich herabgesunken. Wer erwartet heute schon, beim neidvollen Blick auf die Habseligkeiten anderer ewig in der Hölle zu rösten? Wer malt sich ernsthaft piesackende Teufelchen aus, wenn man sich morgens um vier wieder einmal volltrunken durch hundertfünfzig Gramm schwitziges Dönerfleisch gefuttert hat? Die Selbstzurichtungsmechanismen greifen da schon gut genug. Versündigung? Gibt es nur noch am eigenen Lebensentwurf.
Gedisste Pferde, gewürdigte Schaumbäder
Und so ist "Sieben" unter den Händen der Thikwas tatsächlich, was es im Untertitel verspricht: Ein "unmoralisches Songplay". Episodisch und sauber sortiert wird der Sündenkanon vor und auf einer Stahltribüne abgeklappert – als ausnehmend vergnügliche Angelegenheit mit milden neidgelben und wutroten Eintönungen. Susanne Betancor, die als "Popette" bekannt gewordene Dichterin hellsichtiger Songs à la Brecht / Weill, hat dazu Lieder geschrieben. Ein dadaistisch-zorniger Diss gegen Pferde ist ebenso darunter wie die längst überfällige Würdigung des trägen Aufschrumpelns in einem nach Rosen duftenden Schaumbad.
"Sieben" versteht sich auch als Verneigung vor dieser Komponistin großer kleiner Lieder, die von den Performerinnen immer wieder in kurzen Videobotschaften angerufen und um Rat bei der Umsetzung der Songs gebeten wird. Im Stück meldet sie sich nie zurück. Im Leben bestreitet Susanne Betancort zur Zeit ihre "erste Rückzugssaison". Strahlend, aber sehr zerbrechlich steht sie am Ende dieser Premiere auf der Bühne. Ensemble und Publikum feiern und herzen sie. Auch das war Thikwa mitsamt seinen Fans schon immer: Theaterfamilie.
Keine Glatteis-Gefahr
Das alles ist so charmant und ungetrübt, dass die moderne Dialektik der sieben Todsünden nur augenblicksweise aufflackert: Neid und Habgier sind längst als Triebfedern des Kapitalismus nobilitiert worden. Die Völlerei verkleidet sich als weltläufige Suche nach größtmöglichem Genuss. Wollust ist Sünde nur noch in ihrem Gegenteil, der Prüderie. Aber davon will "Sieben" zu wenig wissen. Am ehesten noch dort, wo ein Traum von den kulinarischen Lockungen eines Jahrmarkts in einen trommelgetriebenen Fresschor übergeht.
Doch es ist vor allem ein Abend, der gemocht werden und uns dieses Mögen leichtmachen will. Eine Perlenkette mit extrem dünner Schnur. Sich damit rundum glücklich zu geben hieße aber, die eigentlichen Kapazitäten des Thikwa-Theaters sträflich zu unterschätzen. Denn in seinen besten Momenten hat dieses Theater eigentlich immer etwas Glitschiges. Es führt aufs Glatteis unserer eigenen Vorurteile, gerade auch der positiven. Wenn wir loben, wie "selbstverständlich" hier Menschen mit und ohne Behinderung zusammen auf der Bühne stehen. Staunen, wie "professionell" gerade die behinderten Performer agieren. An den stärksten Thikwa-Abenden fliegt uns all das um die Ohren. "Sieben" dagegen gibt sich vor allem freundlich. Aber vielleicht bedeutet das auch nur, dass diesem Theater sein eigenes Wunder längst zur Selbstverständlichkeit geworden ist.
SIEBEN ... aber einmal auch der helle Schein. Ein unmoralisches Songplay
von Theater Thikwa
Komposition und Textverdichtung: Susanne Betancor, Bühnenmusik und musikalische Leitung: Bärbel Schwarz, Regie: Antje Siebers, Bühne: Isolde Wittke, Kostüme: Heike Braitmayer, Lichtdesign: Katri Kuusimäki, Video- und Tontechnik: Klaus Altenmüller, Sounddesign: Wolfgang Ullrich.
Mit: Heidi Bruck, Max Edgar Freitag, Rachel Rosen, Stephan Sauerbier, Mereika Schulz, Bärbel Schwarz, Mirjam Smejkal.
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause
www.thikwa.de
Mit erfrischender Ironie und selbstbewusstem Charme widme man sich der Zahl Sieben und ihren Mythen, so Friedhelm Teicke im Zitty (13.12.2017). Lustvoll stürzen sich die Spieler in ein subversives Zahlenspiel um ihre eigenen Leidenschaften und Laster. Fazit: "Der Abend will kein Buch mit sieben Siegeln sein, sondern glänzend unterhalten - aber dabei durchaus zur Besinnung anregen, was moralische Werte heute bedeuten können."
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und "hochpolitisch human korrekt", wenn man die abgedroschen girlanden-phrasen aus politisch-ideologischen lagern des zeit-un-geistes gar nicht rumflattern läßt ... sondern das wunder des staunens als selbstverständis präsentiert und die schnörkel von vorurteilen bei den wirklich "human-behinderten" beläßt.
wie schön ist DAS denn? es ist die EINZIG schönste antwort, die alle fragen beantwortet!!!