In Gänsefüßchen

von Dirk Pilz

Berlin, 14. Dezember 2017. Das ist doch seltsam. Da nimmt sich dieser Abend das Sterben und den Tod, das Leid, die Schmerzen, den Ekel und die Scham, die Einsamkeit, die Angst und also lauter so geschichts- wie gedanken- und gefühlssatte Themen zum Material; da hat er zudem fünf wunderbare ältere Tänzer des Dance on Ensemble, die ihre Körperlichkeit weder aufdrängelnd ins Rampenlicht schieben noch verschämt verstecken noch auch irgend verbrämen und also die Zerbrechlichkeit der Leiber, die Endlichkeit des Daseins zu zeigen, zu bespielen vermögen, ohne dies ausstellen zu müssen; da hat er zudem Schauspielerinnen, vornehmlich Judith Engel, Constanze Becker und Laurence Rupp, die den Silben und Gesten Bedeutungen beizulegen geübt sind, die sich in schierer Wirklichkeitswiederholung nicht erschöpfen – und dann ist das eine derart wassersuppige, zähe, ja leerlaufende Veranstaltung. Wie kann das sein?

Krippenspielparodie

Es kann ja sein, dass das alles so sein soll in "Die letzte Station" am Berliner Ensemble: so zerdehnt, zerfasert. Die einzelnen Szenen huschen wie lose Blätter über die Bühne, verwirbelt und gezaust von einem unfasslichen Wind der Vergänglichkeit. Es geht ja um Sterben, um das Alter, um Demenz, um Pflegefalltäglichkeiten, um die letzten Tage, von denen es heißt, es zögen einem die unwahrscheinlichsten und unmöglichsten Erinnerungen durch die Seele. Aber wenn es so sein soll, fragt man sich doch, ob es eine gute Entscheidung der Regie in den Händen des jungen Theaterfacharbeiters Ersan Mondtag war, den Stoff derart reibungslos in eine Spielstruktur zu übersetzen, die nichts tut, als ständig zu zeigen, was sie meint. Ein Abschilderungstheater, das zum Abgeschilderten nichts hinzuzufügen weiß.

Die Letzte Station1 560 Armin Smailovic uDrei Generationen: Aurelia Landos, Constanze Becker, Judith Engel © Armin Smailovic

Auf der grün gefassten Bühne von Stefan Britze steht ein Holzhäuschen, das an eine Weihnachtskrippe erinnert. Und tatsächlich wird gleich zu Beginn ein Krippenspiel gezeigt, mit kniender Maria vorm Jesuspuppenkind im Korbe und blökendem Vieh. Laurence Rupp trägt den neutestamentlichen Text vor, und wenn er davon spricht, dass diesem Kinde hier der Name Jesus gegeben ward, gehen alle Arme in die Höh' und wird im Chor "Ah!" gerufen. Nun ja. Eine Parodie, man hat's schnell heraus.

Sie singen, tippeln, verschwinden wieder

Zugleich will dies Erinnerung sein, das Einbrechen des Vergangenen ins Gegenwärtige. Denn das Spiel beginnt nach schöner, langer Stille, in der Judith Engel unter rotdunklem Licht auf einer Holzbank sitzt, damit, dass Constanze Becker im Schlafgewand und mit Koffer auf den Fichtenwald linkerhand zuschreitet, sich aber nicht in den Wald traut. Der Koffer, das ist das Leben, der Wald, das ist der Tod, das Danach, das Jenseits: ein Gestrüpp. Aus ihm heraus treten die Tänzer, schwanken wie Halme im Wind, schreiten gespenstergleich, geraten in Toten-Tänze und Daseinsdreher, stehen mitunter nur, singen, tippeln, verschwinden wieder und sind immerfort Bewegung und Bild gewordenes Erinnern. Das ist schön, und mehr als diese Tanzszenen hätte es im Grunde nicht gebraucht.

Die Letzte Station2 560 Armin Smailovic uLauter Alm-Öhis: Brit Rodemund, Christopher Roman, Ty Boomershine, Laurence Rupp, Frédéric Tavernini, Judith Engel, Constanze Becker © Armin Smailovic

Es ist hier aber auch ein Text, eine Gemeinschaftsproduktion von Regie und Ensemble mit ausgesucht improvisatorischem Charakter. Manches scheint nur zu geschehen, weil es sich in der Situation anbietet, manches, weil man es eben gern zeigen wollte: Constanze Becker hackt Holz, Judith Engel schaut unter ihrer Silberdauerlockenfrisur gespenstisch ins Publikum. Einmal sitzen alle in einer Reihe und wackeln mit den Händen, Armen, Köpfen, einmal laufen sie im Kreis und singen "lalala". Es wirkt oft auch sonderbar ratlos: Man hat ein essentielles Thema, aber keinen Stoff, keine dramaturgische, gedankliche Substanz. Von Alter, Tod und Sterben will man erzählen, aber jeder Erzählung wird die seelische, historische, auch spielerische Tiefen- oder Höhendimension verweigert. Lauter verkapselte, auch seltsam verkrampfte Szenen, als fürchte sich dieser Abend vor seinen Themen selbst. Die Becker'sche Wutrede wider das Sterben und die Weihnachtsgeschichte, wider verlogenes Trauern und falsche Gebete zum Schluss: ein Reden austauschbaren Inhalts.

Wenn die Maskerade fällt

Im Text steht als Regieanweisung einmal "Altersheimrealität", mit Anführungszeichen. So wirkt die gesamte Inszenierung: gefangen im Modus einer Uneigentlichkeit, als flüchte sie vor eben jener Wirklichkeit, die sie zeigen will.

Wie seltsam unberührt einen dieses Gänsefüßchen-Theater lässt, wie gedankenarm, gefühlsmau es ist. Die Kenner mögen sich daran erfreuen, dass Ersan Mondtag verglichen mit vorherigen Arbeiten hier andere Wege versucht, weg vom gefahrlosen Symbol-Spiel, hin zu einem waghalsigen, offenen Schau-Spiel. Einmal findet es auch statt, als Constanze Becker ihre Figur den Verlust des Kindes erinnern lässt. Dann schreit sie kurz, derb, schroff. Dann ist es, als fielen alle regiehalber errichteten Schutzmauern, als stürzte die Maskerade. Sie wird danach fix wieder errichtet.

 

Die letzte Station
von Ersan Mondtag und Ensemble
Regie: Ersan Mondtag, Bühne: Stefan Britze, Kostüme: Raphael Rose, Musik: Diana Syrse, Licht: Ulrich Eh, künstlerische Beratung: Clara Topic-Matutin.
Mit: Constanze Becker, Judith Engel, Peter Luppa, Laurence Rupp, Aurelia Dias/Lotta HEgenscheidt/Emilia Nietiedt und dem Dance on Ensemble: Ty Boomershine, Brit Rodemund, Christopher Roman, Jone San Martin, Frérdéric Tavernini.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.berliner-ensemble.de

 

Kritikenrundschau

"Mondtag arbeitet mit den üblichen Verfremdungstechniken, die sein Theater so einzigartig machen: eine seltsames, unmöglich erscheinendes Gegeneinanderarbeiten der Körperglieder, ein Spiel mit Doppelgängern, religiösen und psychologischen Urszenen. Totentanz, Veitstanz, Mysterienspiele", ist Hannah Lühmann in der Welt (16.12.2017) fasziniert. Was allerdings "seltsamerweise" störe, sei der politische Furor; "er wirkt aufgesetzt", so Lühmann: "So ehrenwert das Anliegen ist, den gesellschaftlichen Umgang mit alten Menschen zu problematisieren, so merkwürdig pathetisch steht die politische Agenda in diesem Stück; das existenzielle Drama des Sterbens, das auf der Bühne in der Hüttensituation so genial zum Ausdruck kommt, verträgt seine eigene Politisierung nicht."

"Das Team hat für die Recherche Alten-Wohnprojekte und ein Hospiz besucht. Auf der Bühne gibt es davon nun einen kitschigen Verschnitt: Ein Wutchor von meckernden Greisen, eine Zitterchoreografie, ein minutenlanger Weinkrampf, Geschenk auspacken, Fotos bestaunen, Anfall vorführen, natürlich Weihnachten feiern − alles irgendwie vernebelt und in indifferente Bewusstseinsbereiche verlagert", schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (16.12.2017). Der "im ersten Wald-Koffer-Bild auserzählte Abend" werde mit allen Tricks künstlich am Leben gehalten. "Als quälende Geduldsprobe und mithin als Vorgriff auf Lebensabend-Finsternisse hat er erbarmungslos funktioniert", so Seidler: "Aber die kommen von allein und früh genug."

"Immerhin, der Text hat seine leuchtenden Momente", schreibt Patrick Wildermann im Berliner Tagesspiegel (17.12.2017). Doch was mit der Weihnachtsgeschichte beginne und endee, läuft dazwischen aus seiner Sicht allzu oft leer. "Auch wenn der Regisseur sich von der radikalen Künstlichkeit vorangegangener Abende löst, um zu einer anderen Direktheit der Erzählung zu finden, fehlt diesem Ensembleprojekt doch der Kern. Parodie und Ernst wechseln ziemlich wahllos. Nur Fragmente von Geschichten wehen aus dem Tannenwald."

"Der ge­spro­che­ne Text ist der Re­de nicht wert, und die Tanz­auf­trit­te des Dance-on En­sem­bles sind zu kurz, um zu wir­ken", so Simon Strauß in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (18.12.2017). "Auf­fäl­lig ist al­lein das gut aus­ge­leuch­te­te Am­bi­en­te mit Weih­nachts­tan­nen und of­fe­ner Holz­hüt­te. Die Tra­gik will hier vor al­lem gut aus­se­hen und sich da­bei selbst zu­schau­en. So wird aus Kri­se Kitsch und aus Pa­thos Par­odie."

Mondtags Textcollage bündele zahllose Erzählstränge, verdichte sie zu fesselnden, oft todtraurigen Episoden mit urkomischen Auswüchsen. Dorion Weickmann von der Süddeutschen Zeitung (20.12.2017) lobt "fulminante Schauspieler", vor allem Constanze Becker und Judith Engel, sowie die Tänzer, die trotz Gewichtsverstärker zierliche Walzerbögen, deftige Polkaschritte und chorisches Parkinson-Zittern auf die Bühne schmuggelten. "Erstaunlicherweise verzichtet Ersan Mondtag darauf, diesen Totentanz mit seinem Markenzeichen zu versehen. Statt die Figuren zu stilisieren, rückt er sie so nah heran, dass sich die Zuschauer in ihnen erkennen, Wanderer auf dem Weg zur letzten Station." Nichts daran sei neu. "Aber vieles neu gesehen."

 

 

Kommentare  
Die letzte Station, Berlin: verzettelt
Ich würde den Abend gerne verteidigen, muss Dirk Pilz aber zustimmen: ein matter, ratloser Abend, bei dem sich die Gleichgültigkeit breit machte. Unter den freundlich-reservierten Applaus mischten sich auch einige Buhs.

Leider können die 90 Minuten die Erwartungen nicht einlösen. Die Tanz-Passagen verzetteln sich zu sehr in Slapstick und Verrenkungen. An keiner Stelle gelang es Ersan Mondtag, Sprech- und Tanztheater so gut zu verzahnen, wie das beispielsweise Falk Richter in seinen Schaubühnen-Kooperationen mit prominenten Choreographen immer wieder schaffte.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/12/14/die-letzte-station-ersan-mondtag-wagt-sich-am-berliner-ensemble-an-die-themen-sterben-und-demenz-kann-aber-nicht-ueberzeugen/
Die letzte Station, Berlin: Flucht in Analyse
Bewegungen sind reduziert und mechanisiert, die Mimik unter der zum Teil zentimeterdicken Altersschminke ohnehin. Man tippelt plakativ herum, geht mit einigem komödiantischem Willen durch das Repertoire der Klischees des Alterns: gebeugte Haltung, unsicherer Gang, gebrechliche Konstitution, unverständliches Brabbeln. Wenn Mephisto-Engel Faust-Becker vom Verfall erzählt, stammelt sie nur ein wiederholtes „Oh je“ hervor. Das durchaus auch den Abend trifft. Denn Ersan Mondtag will mehr als nur übers Altern und Sterben sprechen. So lange er dabei bleibt, hat der Abend starke Momente, was vor allem an Mondtags Sinn fürs Atmosphärische liegt. Das gedämpfte, meist fahle Licht, die sanft insistierenden Waldgeräusche, die Beckers Figur als Lärm und Engels‘ als Stille empfinden, und die beides sind, die langen Passagen wort- und bewegungslosen Wartens: Das stellt sich etwas von der Intensität der Auslöschung des Menschen, der Verlorenheit des nicht Gebrauchten und nicht Gewollten, des Vergessenen und Weggeworfenen ein, aber auch der existenziellen Wahrheit der eigenen Endlichkeit, die seine erste Theatertreffen-Einladung Tyrannis so unvergesslich machten und die Unerträglichkeit und Einsamkeit des Erkenntnisprozesses jedes und jeder Einzelnen auf dem Weg in die eigene Vernichtung andeuten.

Da ist der Abend roh, ehrlich und kaum zu ertragen. Doch sind solche Momente rar gesät, schafft es Mondtag diesmal nicht, sich einzulassen auf das, was sich nicht fassen lässt, auch nicht in Worte, was wir viel zu gern verdrängen, weil es ans Eingemachte geht, an die Frage, ob unsere Existenz nicht eigentlich sinnlos sei. Da flieht der Abend dann lieber in wortreiche gesellschaftliche Analyseversuche. Stichwort Weihnachten: Nicht nur erinnert die Bühne an eine Tannenbaumfarm, man spielt auch noch die Weihnachtsgeschichte nach und kommt immer wieder auf die Thematik zurück. Irgendwann sagt Becker: „Denn was ist die Weihnachtgeschichte anderes als eine Geschichte, die mit einem Stern begann und mit einem Untoten endet.“ Da ist denn gleich die ganze tonnenschwere europäische Kulturgeschichte mit ihrer Todesverklärung, die natürlich eine kollektive Verdrängung ist, präsent. Die dann dazu führt, die Sterbenden abzuschieben, etwa in Pflegeheime, ein Thema, das Mondtag in der ärgerlichsten Passage des Abends, einem albernen Slapstick zittriger Gestalten auf einer Holzbank, abhandelt, bevor Becker dann noch zu einer Wutrede ansetzen darf, die den Umgang mit dem Menschen geißelt, der als Lebender zu funktionieren habe und als sterbender abzuschieben sei.

Das ist dann Gesellschaftskritik auf Sandkastenniveau, der vor allem eines gelingt: das worum es hier eigentlich gehen sollte, an den Rand zu drängen, nicht zu nah heranzulassen. Wo andere Mondtag-Arbeiten konsequent ihr Thema umkreisen, in einer Spiralbewegung, die letztlich zum Kern führt, verliert sich Die letzte Station in einer Abfolge immer neuer Ablenkungen und Umwege. Scheint er der Mitte, der unerträglichen, nahezukommen, entfernt er sich schnell wieder. Und so wirkt er seltsam ausgefranst, lose, fehlt ihm die konsequente Dichte, die Mondtags Theater auszeichnet. das Gilt auch visuell: Die starken Bilder, die sich ins Gedächtnis fressen, fehlen, zu blass, zu beliebig wirkt der Mischmasch aus starren Tableaus, ausufernden Slapsticknummern und nicht immer motivierten Tanzeinlagen. Es ist, als hätte Ersan Mondtag angst vor dem, was er finden könnte, wenn er den eigenschlagenen Weg verfolgte, als wären er und der Abend nicht bereit für die dort lauernde Wahrheit, als wiederholten sie das Zurückschrecken und sich im Bekannten versteckenden Protagonistin. Und so hält er sich die letzten Dinge, mit denen sic zu befassen er behauptet, auf Distanz. Als wäre Ersan Mondtag noch nicht bereit für sie. Übel zu nehmen ist ihm das kaum. Den Wald betritt dieser Abend zumindest nicht.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/12/15/die-angst-vor-dem-wald/
Die letzte Station, Berlin: liebevoller Blick fehlt
das theater will sich ja immer den großen themen nähern und zeitbezug herstellen, universell, gegenwärtig...all das könnte man ja mit der letzten station machen. vor mehr als 10 jahren hat bereits rimini-protokoll einen sehr besonderen abend über das sterben (dead-line) gemacht, der zeigt, dass es geht, diesem schweren thema auf dem theater gerecht zu werden. aber hier, bei ersan mondtag hatte ich das gefühl, dass man dem thema vor lauter angst und ekel aus dem weg geht. im programmheft sehe ich fotos von alten menschen und mich schaudert. der liebevolle blick fehlt mir auf das, was uns alle betrifft: das sterben.der abend hat mich leider nur gelangweilt und das trifft auf das thema doch nicht zu? zumal wir als gesellschaft immer älter werden und das sterben mehr und mehr teil eines gesellschaftlichen umgangs verlangt?
Die letzte Station, Berlin: etwas fehlte
Mir geht es genauso, Herr Kögler. Ich möchte den Abend auch gerne verteidigen, da das Thema berührt und die Akteure auf der Bühne allesamt die Gelegenheit haben zu zeigen, was sie können.
Die erste und die letzte Viertelstunde haben mich auch wirklich gepackt. Zwischendurch gab es aber viele Episoden, die etwas aneinander gereiht wirkten und so dem ganzen ein bisschen die Luft nahmen. Ob eine linearere Geschichte der Sache besser getan hätte anstatt dieser Episodenreihe, die nur am Anfang und am Ende verknüpft werden, vermag ich nicht zu sagen, denn die Erlebniswelt von alten und vor allem dementen Menschen ist ja episodenhaft.
Der Abend hat viele Gedanken in mir freigesetzt, immerhin. Aber irgendwas fehlte.
Die letzte Station, Berlin: Erlebniswelt
#4: Ich wäre mir nicht so sicher, ob die Erlebniswelt von alten und dementen Menschen wirklich episodenhaft ist. Mehr oder weniger episodenhaft als etwa die von Jüngeren, "regelrecht" Kommunizierenden oder Kindern? Sie wird allerdings von jüngeren besonders oft so wahrgenommen.
Vielleicht liegt das daran, dass unser aller Wahnmehmung von anderen hauptsächlich eine episodenhafte ist?
Die letzte Station, Berlin: unverwundbar
Auf die Frage hin, was ein "Zwangskranker" ist, formuliert Lacan: "Ein Schauspieler, der seine Rolle spielt und einige Akte so mit Sicherungen unterlegt, als ob er tot wäre. Mit dem Spiel, dem er sich hingibt, schützt er sich in gewisser weise vor dem Tod. Es ist ein lebendiges Spiel, mit dem gezeigt werden soll, DASS ER UNVERWUNDBAR IST. Das Spiel läuft ab in Gegenwart eines anderen. Er selbst ist dabei nur Zuschauer. Er weiss nicht, welchen Platz er einnimmt. Was er tut, tut er zu Alibi Zwecken. Es kann sein, dass er das ahnt. Er kann sich durchaus klarmachen, dass das Spiel sich nicht dort abspielt, WO ER IST, und genau deshalb hat für ihn FAST NICHTS eine wirkliche Bedeutung, aber das heisst nicht, dass er weiss, von wo aus er all dies erkennt. Wer leitet letzten Endes dieses Spiel? Wir wissen, dass er es selbst ist, aber wir können tausende Irrtümer begehen, wenn wir nicht wissen, WO dieses Spiel geführt wird. (Lacan: Die Objektbeziehung)

Es ist sinnlos, der Regie hier auf den Leim zu gehen.

Darauf spielt auch die erste deutsche Produktion eines Streamingdienstes an: die Frage (beim Hütchen-Spiel-Trick) ist nicht "warum" (ist der Spielstein nicht unter dem Hütchen), sondern WANN (ist der Spielstein bewegt worden) oder WO (hat die Bewegung stattgefunden). Das Pay TV weist den Weg aus der Sackgasse in die uns diese Theateravantgarde führt!!?
Die letzte Station, Berlin: Lacans Irrtum
Lacan irrt m.E. darin, dass ein Zwangserkrankter ein Schauspieler sei, der das alles tut undsoweiter. Das genau ist er nämlich nur dann, wenn es sich bei dem Erkrankten mit der VD Zwangsstörung in der Tat um einen Schauspieler handelt.
Sonst handelt es sich um einen mehr oder weniger psychisch Gestörten mit einer Spiel-Zwangserkrankung.
Die kann Gründe in der Kindheit haben, in der er z.B. stets zu viel oder zu wenig spielte (oder spielen durfte).
Oder die Störung kann ausgelöst worden sein durch ein Trauma, was ihn in den Spiel-Zwang gebracht hat. Etwa durch eine in Zeitpunkt oder Dauer traumatisierende Verantwortungsüberlastung. Oder eine Überlastung durch traumatische Häufung undoder Dauer deprimierender Gefühlslagen, denen er durch Witzel- oder Spiel-Sucht zu begegnen suchte. Hat er dies erfolgreich getan, kann sich das zur Gewohnheit als Selbst-Strategie gegen Depression herausbilden, die nicht für ihn selbst, jedoch für seine Umwelt eine Belastung werden kann.
Zum Spiel als Tätigkeit gehört die Zuschauer-Spieler Verabredung über Beginn, Ende, Ort und mitunter auch Dauer und Perspektivwechsel/Rollentausch.
Der Zwangserkrankte, der k e i n Schauspieler ist, SPIELT also für sich vor Zuschauern den Schauspieler. Und zwar OHNE, dass die Zuschauer das wissen. Er übt damit Macht aus, die – wie Lacan beschreibt – der Sicherung seiner Selbst-Sicherheit dient. Seine Machtausübung ist die über das Un-Wissen der anderen über die Spielregeln.
Ist der Zwangserkrankte in der Tat Schauspieler, hat er diese Energie der zwanghaften Selbst-Sicherung jedoch sublimiert und setzt sie zum beruflichen Spiel ein. Seine treibende Grundangst besteht dann nicht mehr als eine vor dem Tod als vielmehr eine davor, nicht mehr beruflich s p i e l e n zu können und dadurch in eine echte Zwangserkrankung (rück) zu fallen.
Es ist also, solange er n i c h t selbst darum weiß, eine Angst vor psychischer Störung, die ihn im Beruf hält.
Er hat dann als Mensch, der Schauspieler ist, eventuell eine Angst-Störung und keine Zwangs-Störung. Wenn er jedoch darum weiß, hat er mit hoher Wahrscheinlichkeit gar nichts – außer vllt Langeweile durch anhaltende geistige Unterforderung.

Ich halte es im Übrigen, sehr geehrte/r "Randal", für unser Theater und die ästhetische Diskussion um unser zeitgenössisches Theater für abträglich, dauerhaft Lacan inhaltlich wie formal nahezu anzubeten (auch das Spielen mit ihm gehört dazu) wie einen Messias. (und dies ist nur EIN Beispiel für unseren - mit Verlaub: idiotisch anmutenden, Umgang mit Philosophie und Soziologie). Aber ich denke, es geht Ihnen vllt ebenso?...
Die letzte Station, Berlin: öde
Noch schlimmer als der Nicht-Ödipus ohne Antigone am Gorki. Und das heißt was. Öde.
Dieser Regisseur scheint nichts zu sagen zu haben, und noch nicht mal zu merken, dass das ein Problem ist. Keine gute Prognose für die Zukunft. Sehr bedauerlich.
Die letzte Station, Berlin: flache Avantgarde
@D.Rust Danke für den fachlichen Exkurs und die Kritik. Je weiter wir vom Weg abkommen mit unserer eigenen Agenda, desto besser.
Mir geht es weniger um Lacan und seine (produktiven) Irrtümer in meinen flapsigen Kommentar. Ja, ich kann mit dem geistigen Vakuum in diesen Stücken nicht umgehen. Und ja, ich habe nichts gegen die idiotische Verwendung von Soziologie und Philosophie, denn darüber kann man streiten, so wie sie es tun. Wenn es nichts mehr zu sagen gibt, weil es an Haltung oder Thesen fehlt, dann fangen die Probleme an. Natürlich haben die Inszenierungen von Mondtag oder Kennedy auch eine Haltung, die sie jedoch selber vertuschen (ästhetische Experimente, keine Vorgaben, avantgardistisches Vortasten, kein Koordinatensystem, etc.) und über die sich schwerlich diskutieren lässt. Eher Symptome der Gegenwart, als Botschaften aus der Zukunft. Die Gänsefüsschen des Theaters nochmals in Gänsefüsschen gesetzt, um eigentlich was im gegebenen Fall damit zu machen? So verstehe ich auch die Überschrift der Kritik von Dirk Pilz. Ich frage mich als Zuschauer deshalb ernsthaft, welches Spiel da gespielt wird. In die von den Stücken bereitgestellte Leere zieht der Mythos ein, ja, auch von meiner Seite des Zuschauers aus. Ich empfinde diese Inszenierungen von Mondtag und Kennedy als einen Rückschritt. Es ist diese Art, wie man nicht über diese Stücke sprechen kann. Weil sie das Koordinatensystem abgelegt haben, kennen sie ihre Sprecherposition nicht und wollen sie ja auch nicht kennen, denn das wäre ja wieder ideologisch und schadet der freien Kunst. Ich weiss nicht ob wir mit einer Lacan-Anbetung weiter kommen (nein!), aber die Avantgarde ist so trübselig flach.
Letzte Station, Berlin: präzise, aber absehbar
Vor etwa etwa vier Jahren sah ich an der Hochschule der Künste in Bern das Projekt Alter Ego von C.Dannenberg, der zu diesem Thema des Alterns mit seinen Mitstreitern einen begehbaren Raum erschaffen hatte, in dem Erinnerung, Demenz, Auflösung, Randständigkeit oder Abgeschiedenheit erfahrbar wurde. Die Schauspieler*innen waren weder damit beschäftigt im Trippelschritt das hohe Alter auszustellen, noch wurden sie von der Maske zum Greisen gemacht. Es wurde nicht verhandelt, ob jemand Tänzer*in, Schauspieler*in, Performer*in oder Schauspielstundend*in ist, sondern es erschienen unterschiedlichste Essenzen des Alterns in unterschiedlichsten Persönlichkeiten. Ich fand die erschaffenen Bilder von Ersan Mondtag und seinem Ensemble stark, Raum einnehmend, lebendig. Die Langsamkeit dieses Abends würde ich nicht als langweilig bezeichnen, sondern als präzise und direkt. Hingegen finde ich, dass sich zu viel auf die politische Relevanz und die Theaterarbeit an sich und dessen Rahmenbedingungen bezogen wird. Die vorhandenen Mittel wurden zu wenig aufgebrochen. Dadurch wurden viele Momente absehbar.
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