Von Bechern und Fässern

von Melanie Huber

Rendsburg, 16. Dezember 2017. Fünfzehn mit Wasser gefüllte Plastikbecher stehen aufgereiht am Bühnenrand, am rechten äußeren Ende kniet Neele Frederike Maak, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Ihr blondes Haar steht wirr nach allen Seiten ab, ihr Blick ist starr, angstverzerrt. Sie ist Pip, der Schiffsjunge der "Pequod", von dem es in Herman Melvilles Roman "Moby Dick" heißt, er sei dem Wahnsinn verfallen – in jedem Fall ist dieser Pip hier stummer Leidtragender einer Geschichte, die auch von Machtmissbrauch und Ausbeutung erzählt.

Entschärfungen durch Heiterkeit

Als jüngstes Mitglied der Besatzung muss Pip das Walrat (Walöl) aus dem Kopf des erlegten Pottwals sichern. Dafür trinkt Pip, trinkt der Reihe nach einen Plastikbecher nach dem anderen aus. Noch bevor er anfängt, beim vierten Becher schwer zu schnaufen, geht die Unruhe um im Rendsburger Stadttheater. Das wird doch jetzt nicht etwa in Gänze durchgezogen? Ungläubiges Lachen; Pip schaut gequält ins Publikum, das Saallicht geht an und aus den Boxen ertönt "Help" von The Beatles. Der Erleichterung folgt Hilfe auf dem Fuß: Gäste springen auf, laufen zur Bühne, trinken mit der Schauspielerin die letzten Becher aus. Szenenapplaus – so heiter kann die klaustrophobischste Situation entschärft werden.

mobydick2 560 Henrik Matzen u© Henrik Matzen

Und doch enttäuscht das im ersten Augenblick ein wenig – warum wird Pips Leid im Spiel denn nicht gebührend Rechnung getragen? Der humorige Ton zieht sich durch die gesamte Aufführung und das Publikum begleitet ihn mit Freuden. Regisseur André Rößler, zuletzt Oberspielleiter am Schauspiel des Theater Vorpommern, weiß das und setzt darauf. Zwischen viel Ernst und mehr Klamauk changiert die so gerne als Allegorie auf unterschiedliche gesellschaftliche Verhältnisse verwendete Geschichte um Käptn Ahab, den Ersten Steuermann Starbuck und die Jagd auf den weißen Wal. In Rößlers erster Arbeit für das Schleswig-Holsteinische Landestheater geht es, grob gesagt, um Fässer und Becher.

Menschenfresser mit Facebookprofil

Das wird bereits in der Videoinstallation von Elmar Szücs zu Beginn des Stücks deutlich. Assoziativ hangelt sich der Hamburger Videodesigner an bekannten Bildern der Menschheitsgeschichte entlang, bis er zum vermeintlich eigentlichen Thema des Abends kommt: Ölfässer als Metapher für Umweltverschmutzung, für die Ausbeutung der Natur durch den Menschen. Das Bühnenbild von Simone Steinhorst greift das Thema auf: Neben dem aus zwei hölzernen Skateboard-Rampen und einem Fahnenmast – sein Segeltuch dient auch als Projektionsfläche – bestehenden Schiff dümpeln rostzerfressene Fässer. Auch die Kostüme der "Pequod"-Besatzung passen sich ein: schwarze Overalls, der Kleidung von Bohrinsel-Arbeitern nachempfunden. Stimmig und gleichzeitig redundant-albern wirkt auch der Coffee-to-go-Becher in der Hand von Thomas Schleheck, der den Ersten Steuermann Starbuck spielt.

Subtil ist hier selten etwas, und wenn, wird es ironisch gebrochen – auch gerne mit teils überraschender Publikumseinbindung. Was gut funktioniert, zumindest in der ersten Hälfte der Inszenierung. So tritt etwa der in der 1851 erstmals veröffentlichten Romanvorlage beschriebene "Wilde" und Menschenfresser Queequeg (Nenad Subat) als cooler Hacker auf, der, mit Laptop bepackt, neben dem Verkauf von Steuerdaten ("Köpfe") auch Facebookprofile von Theatergästen in Böhmermannscher Manier ausspäht.

Nach der Pause: Ende Spaß

Was hier als Parodie aufgezogen wird, geht nach der Pause allerdings sehr ins Traditionelle über. Plötzlich fehlen die Insignien der digitalen Boheme – Tablet, Laptop – gänzlich und bald geht es nur noch um Ahab, der, getrieben von Rache und Wahn, auf der Jagd nach Moby Dick seine Mannschaft in den Tod treibt. Den Dämon selbst spielen mehrere weiße Gestalten, auf ihn lässt sich sinnbildlich und auf der Bühne per Szücs’ Videoarbeit alles Mögliche projizieren. Ahabs Despotentum und Allmacht erhält dann auch den allzu nahe liegenden Trump-Touch ("Das ist Wa(h)lbetrug" – "Moby Dick first!").

Die eingangs so ausgewogen wirkende Thesenerarbeitung in Sachen Umweltverschmutzung geht im zweiten Teil nahezu total verloren. Der scheinbare Respekt vor dem Roman und seiner zeitlosen Themenvielfalt geriert eine viel zu brave Haltung gegenüber dem Stoff. Zwar versucht Rößler am Ende noch mal den Bogen zu spannen – etwa durch die Einspielung des Songs "Rettet die Wale" der Künstlerin Gustav ("Rettet die Wale / Und stürzt das System / Und trennt euren Müll / Denn viel Mist ist nicht schön") – aber so richtig gelingt es nicht mehr, sich zurück zur Botschaft zu hangeln.

mobydick1 560 Henrik Matzen uDer weiße Wals sind in Rendsburg viele  © Henrik Matzen

Ein schöner Kniff jedoch ist die Erzählweise, die auch ein Kommentar auf das aktuelle Bedürfnis nach Faktizität in sich birgt: Gleich zu Beginn trifft der sich wie ein investigativer Journalist gebärdende Schriftsteller Herman Melville (Lorenz Baumgarten) auf den gealterten und alkoholabhängigen Ishmael Nickerson (René Rollin), der in Folge als allwissender Erzähler fungiert, während Melville in die Geschichte als Ishmaels Alter Ego eintaucht.

Applaus und Euphorie

Das macht nicht nur dem vor Spielfreude sprühenden Ensemble Spaß. Ob Ahab (Reiner Schleberger), Stubb (Simon Keel) oder Flask (Christian Simon): Die Schauspieler gehen in der Erzählweise auf, legen sich ins Zeug, stellen mit Verve und Bravour eigene Typen dar. Auch das Rendsburger Publikum feiert die Aufführung euphorisch. Der Applaus will nicht verebben, und das mag auch an der Erleichterung  liegen.

Denn dem Schleswig-Holsteinischen Landestheater drohte seit Jahren die Insolvenz. 2011 kam noch der plötzliche Wegfall der ehemaligen Hauptspielstätte in Schleswig hinzu und die jahrelange Diskussion über Ort und Finanzierung eines Neubaus. Mit dem Auslaufen der vergangenen Legislaturperiode wurde noch im Februar von der rot-grünen Koalition der Beschluss gefasst, den Neubau mit 2,5 Millionen Euro zu unterstützen – unter der Bedingung, dass alle Gesellschafter, 15 Kommunen, sich weiterhin für die Unterhaltung des Landestheaters einsetzten. Zudem wurden Verwaltung und Intendanz von Schleswig nach Rendsburg verlagert. Auch schreibt das Theater seit zwei Jahren wieder schwarze Zahlen. Mit einem neuen Team kann sich Generalintendant Peter Grisebach nun wohl wieder in sicheren Gewässern wähnen. Dem Landestheater, das mit seinen mittlerweile sechs Sparten das Flächenland Schleswig-Holstein bespielt, ist es zu wünschen.

 

Moby Dick
nach dem Roman von Herman Melville. Aus dem Englischen von Matthias Jendis
Regie: André Rößler, Ausstattung: Simone Steinhorst, Licht: Michael Krüger, Ton: René Reinhardt, Video: Elmar Szücs, Dramaturgie: Sophie Friedrichs.
Mit: Reiner Schleberger, Lorenz Baumgarten, Nenad Subat, Timon Schleheck, René Rollin, Katrin Schlomm, Christian Simon, Simon Keel, Manja Haueis, Lisa Karlström, Neele Frederike Maak, Lisa Karlström.
Dauer: 2 Stunden, 30 Minuten, eine Pause.

www.landestheater-sh.de

 

Mehr zur kulturpolitischen Entwicklung in Schleswig-Holstein hier und zum Schleswig-Holsteinischen Landestheater hier.

Kritikenrundschau

Ruth Bender schreibt in den Kieler Nachrichten (17.12.2017, online 19:15 Uhr):
Regisseur Andre Rößler habe ein "kunterbuntes Spiel mit den Assoziationen angezettelt, dass sich gern mal in Kalauer und Komödie" verlaufe. Nur in einigen Szenen komme der Abend auf den Punkt, werde "der Rhythmus auf See spürbar - und die Wucht von Melvilles Roman". Rößler entwerfe "schlaglichtartige Bilder" vom "Leben und Streiten an Bord, mit aufdringlichen Geisterwesen, die sich um die Männer winden wie der omnipräsente weiße Wal". Irgendwie bewege "Melvilles große Frage: Das Unbegreifliche begreiflich machen" auch die Rendsburger Inszenierung. Aber die Bilder blieben "Solitäre, die Figuren oft Schablone". Dazwischen vergrübele sich Reiner Schlebergers Ahab als "Nihilist, Manipulator und düsterer Dämon".

Das Ensemble müsse gegen einen riesigen Fundus von "potentiellen Bildern" in den Köpfen des Publikums antreten, schreibt Bea Opitz im Flensburger Tageblatt (18.12.2017). Das gelinge mit einer "energetischen", nicht mit "naturalistischer Seefahrerromantik befrachteten" Inszenierung. Die Inszenierung zeige ein "Sammelsurium" von "verschachtelten Einschüben und Bezügen" und ähnele damit dem Roman. Die "Zitate aus der Tagespolitik" überfrachteten allerdings dieses Konzept. Das Ensemble trete "immer wieder in einem sehr körperlichen und kraftvollen Spiel an. Während die eingebauten Komik-Elemente "zu bemüht" wirkten, gelängen dafür die düster poetischen Momente. Die Darsteller leisteten Enormes, am Ende habe die Inszenierung gepackt, unterhaöten und den Wunsch geweckt, den Roman wieder zu lesen.

Auf NDR 1 sagte Kerstin Düring: Es handele sich um eine Inszenierung "ganz nah am Roman", die sich aber "ganz anders anfühle". Die "modernen Einlagen" seien gewöhnungsbedürftig. Spaß mache die Interaktion mit den Zuschauern. Die Inszenierung sprühe "vor ungewöhnlichen Ideen", riskiere dabei aber manchmal, "das Publikum zu überfordern".

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